Der Stand der Dinge beim Rahmenabkommen
Nach Monaten des Wartens bewegt sich etwas zwischen Bern und Brüssel. Die Schweizer Regierung fordert weitere Abklärungen. Die EU gibt bekannt, dass sie zwar bereit für Diskussionen ist, nicht aber für Nachverhandlungen. Hier der Stand der Dinge im Moment.
Die Schweiz ist eines der wenigen europäischen Länder, die nicht der EU beitreten wollten. 1992 lehnte das Schweizer Volk auch einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab. Dieser hätte es der Schweiz ermöglicht, am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen und gleichzeitig ausserhalb der EU zu bleiben. Dieser große Markt von über 500 Millionen Menschen garantiert allen Mitgliedstaaten den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Um nicht von diesem Markt ausgeschlossen und damit benachteiligt zu werden – etwa durch Zölle –, hat die Schweiz in den letzten 20 Jahren bilaterale Abkommen mit der EU abgeschlossen. Dies in einer Reihe wichtiger Bereiche, darunter Handel, öffentliches Auftragswesen, Verkehr, Forschung und Ausbildung.
Da sich der EU-Binnenmarkt ständig weiterentwickelt, drängt Brüssel Bern seit vielen Jahren, eine Rahmenvereinbarung – oder institutionelle Vereinbarung – zu erreichen, die eine «dynamische» Aktualisierung einiger bilateraler Verträge beinhaltet. In der Praxis würde die Anpassung der Schweizer Gesetzgebung an die Entwicklungen des EU-Rechts – in den unter das Rahmenabkommen fallenden Bereichen – keine neuen Verhandlungen erfordern und sollte schneller erfolgen. Die Schweiz übernimmt zwar bereits regelmässig viele Entwicklungen im Europarecht, aber in den Augen Brüssels oft zu langsam.
Die institutionelle Vereinbarung umfasst fünf bestehende bilaterale Verträge über den Zugang zum EU-Markt
- freier Personenverkehr
- Landverkehr
- Luftverkehr
- technische Handelshemmnisse
- Landwirtschaft
Es sollte auch alle neuen bilateralen Abkommen über die gegenseitige Marktöffnung (z.B. das geplante Abkommen im Elektrizitätssektor) umfassen. Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU werden durch rund insgesamt 120 Abkommen geregelt.
Nach Ansicht der Schweizer Regierung zwingt dieses Abkommen nicht zur automatischen Übernahme des europäischen Rechts. Zunächst wird die Schweiz bei der Entwicklung des Europarechts in den unter das Rahmenabkommen fallenden Bereichen konsultiert. So kann sie frühzeitig ihre Vorbehalte geltend machen. Darüber hinaus kann der Bund sich weigern, die europäische Gesetzgebung zu übernehmen. Er kann auch weiterhin Änderungen an seiner Gesetzgebung den Bürgern vorlegen. Das durch die Bundesverfassung garantierte Referendumsrecht wird damit respektiert.
Der Handlungsspielraum der Schweiz wird jedoch in einigen Bereichen eingeschränkt. Wird eine Anpassung abgelehnt, könnte die EU «verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen» ergreifen, über die jedoch Schiedsgericht würde.
Es ist geplant, einen «horizontalen gemeinsamen Ausschuss» einzusetzen, der das Funktionierens des Abkommens soll sowie einen «parlamentarischen gemeinsamen Ausschuss», der durch Berichte und Resolutionen zu einem kontroversen Thema Stellung nehmen kann. Ersterer besteht aus Vertretern beider Parteien, letzterer aus Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der Eidgenössischen Räte.
Ist dann noch keine Lösung gefunden, können sowohl die Schweiz als auch die EU die Einrichtung eines «gemeinsamen Schiedsgerichts» beantragen. Dieses setzt sich sich aus einem von der Schweiz, einem von der EU und einem dritten gemeinsam gewählten Vertreter zusammen. Als letztes Mittel werden alle Streitigkeiten dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Ein Urteil ist für die Vertragsparteien bindend.
Die EU ist der grösste Wirtschaftspartner der Schweiz: Sie trug 2018 52% zu den Schweizer Exporten bei, während 70% der in die Schweiz importierten Waren aus 28 Ländern stammten. Ohne Rahmenabkommen beabsichtigt die EU nicht, weitere Verträge über wichtige Dossiers wie Strom, Gesundheit, Lebensmittelsicherheit oder den Zugang der Schweizer Banken zum europäischen Markt abzuschliessen.
Zudem könnten die EU-Mitglieder diskriminierende Massnahmen gegen die Schweiz ergreifen. Um Druck auf Bern auszuüben, hat Brüssel bereits damit gedroht, die Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung nicht mehr anzuerkennen. EU-Unternehmen wäre es daher untersagt, an der Schweizer Börse zu handeln. Ende letzten Jahres hat die EU diese Anerkennung nur vorübergehend bis zum 30. Juni verlängert. Es wird auch eine Rechtsunsicherheit befürchtet, die zum Nachteil für die Schweizer Wirtschaft werden könnte.
Trotz verschiedener Vorbehalte wird der Abschluss eines Rahmenabkommens grundsätzlich von den grossen zentralen und linken Parteien sowie von den wichtigsten Wirtschaftsorganisationen unterstützt. Berücksichtige man die Position der EU, gibt es aus ihrer Sicht keine Alternative, um den Weg der bilateralen Verträge fortzusetzen, von denen die Schweiz profitiert hat.
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Die linken Parteien und Gewerkschaften sträuben sich jedoch gegen eine Schwächung der Lohnschutzmassnahmen, welche gegen drohende Dumpinglöhne errichtet wurden. Ohne Garantien in diesem Bereich wollen sie kein Rahmenabkommen. Die rechten Parteien wiederum, die gegen jede Annäherung an die EU kämpfen, lehnen den Entwurf entschieden ab. Nach Angaben der grössten Schweizer Partei, der Schweizerischen Volkspartei (SVP), entspricht das Rahmenabkommen «einem Todesurteil für direkte Demokratie und die Schweizer Unabhängigkeit».
Nach dem Konsultationsverfahren mit Parteien, Wirtschaftsorganisationen, Gewerkschaften und Kantonsregierungen traten drei besonders problematische Fragen auf.
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«Es braucht zusätzliche Bereitschaft zu Gesprächen und Kompromissen»
Lohnschutz. Im Bereich des freien Personenverkehrs teilen die Schweiz und die EU den Grundsatz «gleiche Arbeit, gleiches Entgelt». Das Abkommen würde jedoch einige der vom Schweizer Parlament eingeführten begleitenden Massnahmen zur Verhinderung von Lohndumping beeinträchtigen. Für die verschiedenen konsultierten Parteien, allen voran die Gewerkschaften, ist es wichtig, die derzeitige Möglichkeit für die Schweiz beizubehalten, eigene Massnahmen im Bereich des Lohnschutzes zu ergreifen und die gefährdeten Sektoren zu definieren.
Staatliche Beihilfen. Die Schweiz und die EU sind sich einig, dass für alle Marktteilnehmer die gleichen Bedingungen gelten müssen und staatliche Beihilfen daher den Wettbewerb nicht verzerren dürfen. Insbesondere für die Kantonsregierungen ist es aber nicht akzeptabel, dass sich die Regeln für staatliche Beihilfen in Bereichen auswirken, in denen die Schweiz keinen Zugang zum EU-Binnenmarkt hat. Betroffen wären hier insbesondere die Kantonalbanken oder kantonale Energieversorgungs-Unternehmen.
Unionsbürger-Richtlinie. Mit der Unterzeichnung des Rahmenabkommens sollte die Schweiz auch zukünftige Änderungen der EU-Richtlinie zum EU-Bürgerrecht verabschieden. In diesem Zusammenhang plant Brüssel, das Recht auf Sozialhilfe auf Personen auszudehnen, die nicht erwerbstätig sind. Ebenso will Brüssel die Bedingungen für die Ausweisung von Straftätern oder für den Entzug des Aufenthaltsrechts von Gefährdern harmonisieren. Mehrere Schweizer Parteien und Organisationen fordern, dass diese Richtlinie ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Rahmenabkommens ausgenommen wird.
Der Bundesrat befindet sich zwischen Amboss und Hammer: Einerseits besteht der Druck der EU, andererseits die Gefahr einer Ablehnung durch Parlament oder Volk, wenn der endgültige Text dort keine Mehrheit der Unterstützung findet. Die Regierung schleppt das Geschäft daher seit einigen Jahren herum und versucht, die Bedeutung des Abkommens zu erklären und den Widerstand zu schwächen.
Am 7. Juni schickte der Bundesrat schliesslich ein Schreiben an den Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, in dem er klar und deutlich anerkannte, dass es nicht möglich sein würde, in der Schweiz eine «Mehrheit» für das Abkommen zu gewinnen, ohne dass die drei oben genannten Punkte geklärt oder überarbeitet würden.
Am Dienstag unterstützte der Ständerat die Position der Regierung: Er nahm mit grosser Mehrheit einen Antrag an, in dem gefordert wurde, das derzeitige Niveau des Lohnschutzes und der staatlichen Beihilfen beizubehalten und die Richtlinie über die Unionsbürgerschaft aus dem Abkommen auszuschliessen. Der Antrag fordert zudem, dass die Schweizer Bürger auch bei einer dynamischen Übernahme von europäischem Recht weiterhin das letzte Wort haben sollen.
Am 11. Juni teilte Jean-Claude Juncker mit, dass er bereit sei, mit der Schweiz die im Rahmenabkommen geforderten «Klarstellungen» zu diskutieren. Der Präsident der EU-Kommission hat jedoch erklärt, dass der im November letzten Jahres geschlossene Abkommensentwurf nicht neu verhandelt wird und dass diese Klarstellungen in den nächsten Tagen erfolgen müssen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Balz Rigendinger)
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