Cern: «Higgs-Teilchen wahrscheinlich gefunden»
Wissenschafter am europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf haben ein neues Elementarteilchen entdeckt, bei dem es sich um das seit langem fieberhaft gesuchte Higgs-Boson handeln könnte. "Wir benötigen jedoch mehr Daten", hiess es.
«Es ist ein vorläufiges, aber ein sehr überzeugendes Ergebnis», sagte der führende Cern-Wissenschaftler Joe Incandela am Mittwoch in der Forschungseinrichtung.
Die Fehlerwahrscheinlichkeit betrage nur eins zu einer Million, betonten die Forscher.
«Wir haben eine Entdeckung – wir haben ein Teilchen gefunden, das konsistent mit dem Higgs-Boson ist», sagte Cern-Generaldirektor Rolf Heuer am Mittwoch im Cern-Auditorium in Genf.
Damit bestätigte er unter donnerndem Applaus und Jubelrufen offiziell, dass die Teilchenphysiker nach mehreren Jahrzehnten der Suche das letzte bislang nicht nachgewiesene Teilchen im Standardmodell der Physik gefunden haben. Übersetzt in die Laiensprache würde er sagen: «Wir haben es», betonte Heuer.
Seit 40 Jahren fahnden Physiker nach dem Higgs-Boson, das auch «Gottesteilchen» genannt wird. Es spielte nach herrschender Teilchentheorie eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Universums nach dem Urknall.
Das nach dem britischen Physiker Peter Higgs benannte Teilchen sorgt demnach dafür, dass alle Objekte eine Masse haben. Der heute 83-jährige Higgs hatte die Existenz des Teilchens bereits 1964 vorhergesagt.
Für die Wissenschafter ist es das letzte noch fehlende – aber absolut zentrale – Elementarteilchen, um das Standardmodell der Materie zu begründen. Würde es nicht existieren, stünde das gesamte seit Jahren die Physik beherrschende Theoriemodell in Frage.
Auf der Suche nach dem Higgs-Teilchen werden am Cern seit Monaten im 27 Kilometer langen Ringtunnel des Teilchenbeschleunigers LHC Protonen aufeinander geschleudert.
Vorläufiges Resultat
Die Cern-Forscher bezeichnen ihr Ergebnis noch als vorläufig, da die Auswertungen nicht abgeschlossen seien. Man müsse noch prüfen, ob sich das neu entdeckte Teilchen tatsächlich mit Fermionen, den Teilchen der normalen Materie, verbinde. Denn erst dieser Prozess sei es, welcher der Materie die Masse verleihe – und der das Standardmodell Higgs-Boson charakterisiere.
«Dazu brauchen wir vermutlich noch dieses Jahr», prognostiziert der Leiter des Instituts für Experimentelle Kernphysik am Karlsruher Institut für Technologie und langjährige Mitarbeiter am Cern, Professor Thomas Müller.
«Wir wissen nicht sicher, ob wirklich alle Higgs-Eigenschaften erfüllt sind», sagte Cern-Physiker Hans Peter Beck, Physikdozent an der Universität Bern. Falls ja, sei es tatsächlich das erwartete Higgs-Teilchen.
«Noch viel spannender aber wäre es, wenn das neue Teilchen nicht alle für ein normales Higgs-Teilchen erwarteten Eigenschaften besitzt. Dann würde uns das Teilchen aus der bekannten Physik des Standardmodells hinausführen. Das weckt die Hoffnung, dass weitere Teilchen entdeckt werden können und zu neuen Durchbrüchen in unserem Verständnis führt, wie das Universum funktioniert», so der Forscher.
Verblüffter Higgs
«Ich bin verblüfft über die unglaubliche Geschwindigkeit, in der die Resultate gefunden wurden», soll Peter Higgs gemäss einer Mitteilung der schottischen Universität Edinburgh gesagt haben.
«Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erleben darf, ich werde meine Familie beauftragen, Champagner kaltzustellen», sagte er am Mittwoch in Genf am Seminar, wo die Resultate bekanntgegeben wurden. Das sei ein «gewaltiger Erfolg» und «wirklich grossartig».
Jubelnde Physiker
«Was sich hier anbahnt, ist für mich bisher die Entdeckung des Jahrhunderts», schwärmte Professor Joachim Mnich, Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons Desy.
«Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus dem letzten und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen, und das konsistent in beiden Experimenten, Atlas und CMS.»
«Mit dieser bedeutenden Beobachtung wird vielleicht die Tür in eine neue Welt der Teilchenphysik aufgestossen», sagte Professor Bernhard Spaan von der Technischen Universität Dortmund. Er ist Vorsitzender des deutschen Komitees für Elementarteilchenphysik.
Anwärter auf den Nobelpreis
Hellauf begeistert waren auch die Wissenschafter-Kollegen, die zu hunderten ans Cern gereist waren. Der 83-jährige Peter Higgs und sein Kollege François Englert werden nun erst recht als Anwärter auf den Nobelpreis gehandelt.
Letztlich sei die Entdeckung aber jenen Tausenden von Forschern zu verdanken, vom Techniker im Beschleuniger bis zum Datenanalysten, die reibungslos zusammengearbeitet hätten, wie Atlas-Sprecherin Fabiola Gianotti hervorhob.
Bis vor zwei Wochen seien noch Daten gesammelt worden, die heute präsentiert werden konnten. «Ich bin begeistert vom Einsatz und dem Talent dieser jungen Leute», sagte sie.
Alles, was im Universum existiert, besteht aus 24 Elementarpartikeln. Diese stehen zueinander in Wechselwirkung und formen so die Bausteine der Atome.
Diese Partikel werden von vier Elementarkräften bestimmt. Das behauptet das Standardmodell der Teilchenphysik, das auf mehr als einem halben Jahrhundert von Experimenten aufbaut.
Um aber zu erklären, warum die Teilchen eine Masse haben, ist ein 25. Partikel nötig.
Stark vereinfacht erklärt, befand sich das frühe Universum in einem Kraftfeld, das die Bewegungen der Partikel abbremste. Jene Partikel, die am meisten mit diesem Kraftfeld interagierten, wurden die schwersten, und umgekehrt.
Entdeckt von drei Physikern, hat dieses Kraftfeld (Higgs-Feld genannt) nur noch den Namen des ersten behalten, Peter Higgs. Und jener Partikel, der die Kraft transportieren soll, wurde zum Higgs-Boson oder Higgs-Teilchen.
Das Problem ist, dass dieses seit seiner theoretischen Entdeckung 1964 nie in einem Experiment nachgewiesen werden konnte.
Der oft auch verwendete Begriff «Gottespartikel» stammt aus dem 1993 vom Physik-Nobelpreisträger Leon Lederman veröffentlichten Buch «The God Particule: If the Universe is the Answer, what is the Question?».
Doch auch wenn das Higgs-Teilchen das fehlende Glied im Standardmodell der Teilchenphysik sein sollte, meiden Physiker den Ausdruck «Gottespartikel».
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