Die grosse Verschwendung von Impfstoffen
Die Schweizer Lager sind voll mit ungenutzten Covid-19-Impfdosen. Während die Nachfrage stagniert, scheitern Spenden an Entwicklungsländer an der Verhandlungsmacht der Pharmakonzerne. Millionen abgelaufene Dosen landen im Müll.
«Die Schweizer haben von Anfang an viel zu viel bestellt – zeitweise etwa viermal so viel wie die Bevölkerung brauchte. Und sie haben einfach weiter bestellt», sagt Patrick Durisch, Gesundheitsexperte bei der Schweizer NGO Public Eye, gegenüber SWI swissinfo.ch.
Weltweit wurden 13,3 Milliarden Dosen der Covid-19-Impfstoffe verabreicht. In der Schweiz haben rund 70% der Bevölkerung mindestens eine Covid-Dosis erhalten, eine Zahl, die sich im letzten Jahr kaum verändert hat. Nur 11,5% haben in den letzten sechs Monaten eine Auffrischungsimpfung erhalten.
Die Gründe für die Impfmüdigkeit und die Pandemiemüdigkeit im Allgemeinen sind vielfältig. Sicherlich spielen eine höhere Immunität in der Gesellschaft, die Ermüdung gegenüber den behördlichen Schutzmassnahmen und ein besseres Bewusstsein über die Gefahren von Covid eine Rolle.»Das Coronavirus hat auch in der öffentlichen Wahrnehmung etwas von seinem Schockwert verloren», so das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gegenüber dem Schweizer Radio SRF.
Auch wenn viele Schweizer:innen die Pandemie bereits abgehakt haben, bleibt Covid-19 ein internationaler Gesundheitsnotfall, was der höchsten Alarmstufe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entspricht. Impfstoffe und Behandlungsmethoden sowie Massnahmen zur Eindämmung des Virus haben dazu beigetragen, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Die Covid-Krise befinde sich jedoch in einer Übergangsphase, die weiterhin ein «sorgfältiges Management» erfordere, so die WHOExterner Link am 30. Januar.
Da die Nachfrage nach Covid-Impfstoffen eingebrochen ist, sieht sich die Schweiz – wie viele andere reiche Länder, die zu viel bestellt haben – mit riesigen Lagerbeständen konfrontiert. Millionen unbenutzter Ampullen mit abgelaufenem Verfallsdatum wurden bereits vernichtet. Wahrscheinlich werden dieses Jahr weitere Millionen auf dem Müll landen, da sie weder ohne weiteres verkauft noch an ärmere Länder gespendet werden können, denen sie versprochen wurden.
Wachsender Vorrat
Für die 8,7 Millionen Schweizer:innen besteht jedenfalls kein Mangel an Covid-Impfstoffen. Das BAG gibt an, über einen «einsatzbereiten» Vorrat von 12,5 Millionen Dosen zu verfügen, und die Regierung hat sich verpflichtet, dieses Jahr weitere 11,6 Millionen Impfungen zu kaufen.
Doch seit Anfang 2023 sind die Impfkampagnen praktisch zum Erliegen gekommen: Im Februar wurden durchschnittlich 460 Impfungen pro Tag durchgeführt, im Vorjahr waren es noch 3300 pro Tag gewesen.
Laut BAG-Sprecher Simon Ming ist die Beschaffungsstrategie so ausgelegt, dass sie «alle denkbaren Szenarien berücksichtigt, um sicherzustellen, dass in der Schweiz jederzeit ausreichende Mengen der besten und neuesten Impfstoffe zur Verfügung stehen».
Einige Schweizer Parlamentarier:innen haben die umfangreichen Impfstoffbestellungen kritisiert. Im Juni 2022 forderte das Parlament die Regierung auf, die Bestellung von 14 Millionen Dosen zu stornieren und die Verträge für die Hälfte dieser Lieferung neu auszuhandeln.
Peter Hegglin, Ständerat der Partei Die Mitte, war einer derjenigen, die auf eine Kürzung des Budgets für die Beschaffung von Covid-Impfstoffen drängten. «Es zeichnete sich relativ bald ab, dass die Schweiz ein Vielfaches der benötigten Impfdosen beschaffte», sagte er gegenüber der Aargauer ZeitungExterner Link. «Man hätte also schon viel früher den Einkauf stoppen oder zumindest reduzieren sollen.»
Ming vom BAG widerspricht. «Als die Verträge abgeschlossen wurden, war die Entwicklung der Pandemie noch nicht absehbar», sagt er und betont, dass das BAG keine weiteren vertraglichen Verpflichtungen für Covid-19-Impfstoffe über das Jahr 2023 hinaus habe.
Im Abfall gelandet
Jede Dosis des Covid-Impfstoffs hat ein Verfallsdatum und muss laut BAG «mindestens sechs Monate» nach der Auslieferung entsorgt werden. Die Behörden sehen sich zunehmend gezwungen, die einst so wertvollen Impfstoffe zu vernichten.
Bis heute haben Bund und Kantone 3,4 Millionen Impfdosen vernichtet. Weitere 5,9 Millionen Dosen wurden als Eigentum der Schweizer Regierung in einem Lager in Belgien aufbewahrt, um sie in Drittländer zu exportieren. Nachdem der Plan scheiterte, die Impfstoffe im Rahmen des Covax-Impfprogramms an Entwicklungsländer weiterzugeben, mussten auch diese Impfstoffe nach Erreichen des Verfallsdatums im Herbst 2022 vor Ort vernichtet werden. Das Lager wurde daraufhin geschlossen.
Weitere 1,8 Millionen Dosen aus dem aktuellen Lagerbestand werden bis Ende Mai verfallen, sofern die Verfallsdaten nicht verlängert werden, so das BAG. Die Gesamtkosten der bisherigen Verschwendung werden auf mindestens 270 Millionen Franken geschätzt.
Doch die Schweiz steht nicht alleine da. Das Problem ist in reichen Ländern weit verbreitet. Das Life-Science-Analyseunternehmen AirfinityExterner Link stuft die Schweiz in Bezug auf die vertraglich vereinbarten Covid-Impfstoffdosen pro Kopf auf dem dritten Platz ein, hinter Kanada und Australien und knapp vor dem Vereinigten Königreich und der EU. Zwar liegen keine länderspezifischen Daten über die Verschwendung von Impfstoffen vor, doch schätzt Airfinity, dass seit der Einführung der Impfstoffe Ende 2020 weltweit insgesamt 1,4 Milliarden Dosen verschwendet wurden.
Impfdosen spenden
Die Schweizer Regierung verfolgt eine Strategie zur Weitergabe nicht verwendeter Impfdosen. Vor einem Jahr kündigte sie anExterner Link, dass 34 Millionen Dosen für Schweizer Bürger:innen zur Verfügung stehen und dass bis zu 15 Millionen Impfungen, die nicht verwendet werden können, an die Covax-Initiative gespendet werden. Diese Strategie ist nach wie vor aktuell. Noch im Dezember 2022 gab die Regierung bekanntExterner Link, dass bis zu 13 Millionen Dosen weiterverkauft oder übertragen werden können, wenn sie 2023 in der Schweiz nicht verwendet werden.
Doch trotz dieser Versprechungen zeigen die jüngsten Daten, dass die Schweiz bisher nur 4,8 Millionen Dosen an andere Länder abgegeben hat, während 3,3 Millionen weitere auf dem Weg sind. Insgesamt wurden über Covax, eine Initiative der WHO und der Globalen Allianz für Impfstoffe und Immunisierung (GAVI), bisher 1,9 Milliarden Covid-Dosen an 146 Länder gespendet.
Warum hat ein reiches Land wie die Schweiz nicht mehr über Covax oder bilateral weitergegeben? Bisher gab es keine Möglichkeit, Covid-19-Impfdosen weiterzuverkaufen, sagt Ming. «Viele einkommensstarke Länder haben bei der Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen eine ähnliche Strategie wie die Schweiz gewählt und damit im Interesse der Versorgungssicherheit Überschüsse in Kauf genommen. Dies hat dazu geführt, dass seit Anfang 2022 weltweit ein Überangebot an Covid-19-Impfdosen besteht.»
Die Schweiz bevorzuge Spenden über Covax, sagt er. Doch die Nachfrage aus ärmeren Ländern stagniere auf tiefem Niveau. Impfstofftransfers erfordern komplexe trilaterale Vereinbarungen zwischen dem Impfstoffhersteller, Covax und dem Bund. Oft verfallen die Dosen, bevor die Verhandlungen abgeschlossen sind.
«Sie haben Millionen von Dosen vernichtet und versucht, andere an Covax abzugeben, aber das ist ein schwieriger Prozess, weil die Pharmaindustrie ein Vetorecht hat. Und selbst wenn sie es an andere Länder verkaufen wollten, können sie nicht tun, was sie wollen. Sie müssen immer um Erlaubnis bitten», sagt Durisch von Public Eye.
Er kritisiert frühere «mangelhafte» Impfstoffverhandlungen zwischen Regierung und den Herstellern, die zu Verträgen voller Geheimhaltungsklauseln geführt hätten, bei denen die Pharmaunternehmen «das letzte Wort» hatten.
«Die Regierungen wurden mit ihrem Einverständnis als Geiseln genommen. Und das ist für mich die wichtigste Lektion, die wir lernen müssen», sagt Durisch.
Planung für zukünftige Pandemien
Die WHO hat Gespräche über ein künftiges Pandemieabkommen aufgenommen, um sicherzustellen, dass die Reaktion der Welt auf die nächste grosse Gesundheitskrise nicht nur robuster, sondern auch gerechter ist.
Im Februar hat die Organisation den Mitgliedsstaaten und Nichtregierungsorganisationen einen sogenannten «Zero DraftExterner Link» vorgelegt, der mehrere Artikel zu den Impfstoffen enthält. Eine vorgeschlagene Massnahme sieht vor, dass die Regierungen 20% aller Tests, Impfstoffe oder Behandlungen, die für den Einsatz in ärmeren Ländern entwickelt werden, zurückhalten sollen, um eine Wiederholung des «katastrophalen Versagens» während der Covid-19-Pandemie zu vermeiden.
Der Text wird nun einen langwierigen Verhandlungsprozess durchlaufen, der sich voraussichtlich bis ins nächste Jahr hinziehen wird. Einer der Hauptstreitpunkte ist die Frage der geistigen Eigentumsrechte, bei der mit Widerstand aus den reichen westlichen Ländern zu rechnen ist, in denen die Pharmakonzerne ansässig sind.
Editiert von Sabrina Weiss. Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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