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Coronavirus: Wendepunkt für die Telemedizin in der Schweiz

Téléconsultation sur écran
An den Genfer Universitätskliniken setzte die Ärztin Sanae Mazouri (links) schon vor der Coronakrise auf die Telemedizin. HUG

Die Covid-19-Pandemie hat der Telemedizin Auftrieb verliehen. In der Schweiz wie auch anderswo führte der Lockdown zu einer weiten Verbreitung von Telekonsultationen. Heute werden Patienten und Patientinnen wieder in den Praxen behandelt, aber die Digitalisierung der Medizin ist alltäglich geworden – auch wenn sie nicht alle überzeugt.

Einen Arzttermin digital zu buchen oder Testergebnisse online zu erhalten, ist seit mehreren Jahren gängige Praxis. Telekonsultationen aber waren immer noch ein Randphänomen. Patienten und Patientinnen sowie Ärztinnen und Ärzte waren skeptisch: Wie stellt man den Kontakt her? Wie garantiert man die Vertraulichkeit der Daten? Wie kann die richtige Diagnose gestellt werden? So viele Fragen, die lange Zeit unbeantwortet blieben…

Innovationsschub dank Corona

Im März änderte die Coronavirus-Krise all das. Angesichts der Gesundheitsrisiken sei die Telekonsultation zur De-facto-Norm für die Ärzteschaft geworden, sagt Arthur Germain, Geschäftsführer und Mitbegründer der Website «OneDoc», die sich auf die Online-Terminvereinbarung von Arztterminen spezialisiert hat.

«Wir wollten schon lange ein Video-Beratungstool entwickeln, aber wir hatten das Gefühl, dass die Ärzte noch nicht so weit waren, also haben wir dieses Projekt auf Eis gelegt», so Germain. «Covid-19 war ein gewaltiger Auftrieb: Unsere Entwickler haben eine Woche lang hart gearbeitet, um eine verschlüsselte Videoplattform einzurichten.»

Denn die Nachfrage ist mit dem Virus explodiert: «Innerhalb von zwei Monaten hat sie sich verzehnfacht», bemerkt Germain, der fast 2000 Fachleute auf seiner Website registriert hat, darunter 500 Nutzerinnen und Nutzer dieses neuen Dienstes.

Le bureau de OneDoc,
Das Büro von «OneDoc», dem Genfer Startup unter der Leitung von Arthur Germain (im Vordergrund, von hinten). Laure Wagner

Bis zum Ende der Pandemie ist dieser Dienst kostenlos für alle bereits bei «OneDoc» registrierten Angehörigen der Gesundheitsberufe. Damit will das Genfer Startup Ärztinnen und Ärzte von seiner Lösung überzeugen. Sie soll effizienter als das Telefon und sicherer als andere Videokommunikationsmittel wie Facetime, Skype oder Zoom sein.

Einige sind überzeugt: «Wenn die Qualität stimmt, ist Video ein echtes Plus», sagt Eric Bec, Allgemeinmediziner und Leiter des Gesundheitszentrums Teomera. «Zu Beginn der Krise hatte ich meine Patienten am Telefon, aber es war kompliziert, eine Diagnose zu stellen, ohne sie zu sehen. Also nutzte ich zuerst Whatsapp und dann ‹OneDoc›, um zu entscheiden, wer zu Hause bleiben konnte und wer zu einer ärztlichen Beratung ins Zentrum kommen musste.»

Andere Ärzte äussern sich negativer über ihre Erfahrungen mit Telekonsultationen. «Wir mussten notgedrungen darauf zurückgreifen», sagt Mouncef Berrada, Leiter des medizinisch-chirurgischen Zentrums von Cornavin. «Aber wir werden das nicht einführen. Man kann sich nicht nur auf das verlassen, was ein Patient sagt, ohne ihn physisch zu untersuchen. Und dafür reicht ein Video nicht», sagt er.

Externer Inhalt

Medizin 2.0

An den Genfer Universitätskliniken wartete die Ärztin Sanae Mazouri nicht darauf, dass das Coronavirus den Weg für Telemedizin ebnet. Bereits im Mai 2019 lancierte sie das Projekt «HUG@home»: eine Plattform, die ein Chat-, Audio- oder Videoanrufsystem zwischen den Ärzten und Ärztinnen des Spitals und dem Pflegepersonal der Spitex einrichtet.

«Unser Ziel war es, Patienten zum Daheimbleiben zu ermutigen, um den Fluss der Notfälle zu regulieren, um Zeit zu sparen und die Kosten für die Rückführung ins Krankenhaus zu senken», sagt Mazouri. «Sechs Monate lang haben wir unsere Anwendung mit Patienten getestet, die aus dem Universitätsspital entlassen und von der Spitex betreut wurden. Das Experiment war schlüssig: In neun von zehn Fällen konnten wir eine Rückverlegung ins Krankenhaus vermeiden», sagt sie.

Angesichts dieser ermutigenden Ergebnisse hatte sie die Idee, diesen Dienst ab 2021 auf Patienten auszudehnen, die wegen chronischer Erkrankungen behandelt werden. Und schliesslich einen Telekonsultationsdienst, der nach einer Pflege-Triage allen Patienten und Patientinnen direkt zugänglich ist.

Die Pandemie hat die Sache beschleunigt… «Um auf den gesundheitlichen Notfall zu reagieren und eine Überlastung des Spitals zu vermeiden, haben wir zwei Tage lang daran gearbeitet, allen Ärzten der Stadt eine neue Version unserer Anwendung anzubieten, die in ‹Docteur@home› umbenannt wurde», erklärt Mazouri. Seither hat dieser Dienst bereits mehr als 900 professionelle Nutzende am Universitätsspital und fast 400 Ärzte und Ärztinnen im ganzen Kanton Genf.

Auch das Freiburger Spital legt einen Schwerpunkt auf die Telemedizin. Im April stellte ihr medizinischer Direktor, Ronald Vonlanthen, der Presse ein vom Kanton unterstütztes Projekt vor: Koffer mit angeschlossenen medizinischen Geräten, die eine Fernbehandlung von Patienten ermöglichen.

«Das Coronavirus hat zwei grosse Risiken für unser Gesundheitssystem aufgezeigt: die Überlastung der Spitäler und die Isolierung von Patienten, die als gefährdet gelten. Mit unserem Koffer bringen wir ihnen die medizinische Behandlung, die sie benötigen, nach Hause», sagt Vonlanthen. «Wir behandeln die Patienten vorab, um die Zahl der Verlegungen ins Krankenhaus wegen Komplikationen zu begrenzen.»

Während der Krise wurde Pflegepersonal in Ausbildung als Vermittelnde angefordert, um Patienten während der Telekonsultation zu unterstützen. Dieses ehrgeizige Projekt kostet jedoch 50’000 Franken, und Vonlanthen sucht noch Investoren, um es langfristig zu entwickeln.

La valise du docteur connecté
Der mit dem Arzt verbundene Koffer, entwickelt vom Freiburger Spital. HFR

Uberisierung

Die Digitalisierung der Medizin sorgt beim medizinischen Personal nicht nur für Begeisterung. Heute hat die Mehrheit der praktizierenden Ärzte und Ärztinnen die physischen Konsultationen in der Praxis wieder aufgenommen.

«Die Telemedizin gibt uns zwar eine Vorstellung von den Symptomen des Patienten», sagt Gilbert Geinoz, Hausarzt in Genf. «Aber die ‹face-to-face-Medizin› erlaubt es uns meiner Meinung nach besser, zu einer Diagnose und vor allem zu einer angemessenen Behandlung zu gelangen.»

Viele Ärzte und Ärztinnen, Pflegefachleute und Therapeuten sind sogar sehr besorgt um ihre berufliche Zukunft und prangern eine «Uberisierung» der Gesundheit an: «Das ist nicht meine Auffassung von Medizin», sagt Berrada. Alle betonen die Bedeutung des menschlichen Kontakts zwischen Ärztin und Patientin.

Dies ist umso wichtiger im Bereich der psychischen Gesundheit, wo sich die Telemedizin seit einigen Jahren etabliert, insbesondere in den Vereinigten Staaten. «Die Analyse der ’nonverbalen› Körpersprache ist in unserem Beruf von grundlegender Bedeutung», sagt Pierre-André Mayor, Psychiater und Psychotherapeut in Genf.

«Die Telekonsultation hat es mir ermöglicht, während der Krise eine therapeutische Verbindung zu meinen Patienten aufrechtzuerhalten, aber sie hat meiner Meinung nach vor allem deshalb funktioniert, weil ich bereits zuvor eine Beziehung zu ihnen aufgebaut hatte.»

Es ist daher noch etwas früh zu sagen, dass das Coronavirus das Todesurteil der traditionellen Medizin unterzeichnet hätte. Laut Arthur Germain werden sich die Gesundheitsberufe mit der Digitalisierung unweigerlich weiterentwickeln. «Die Fachkräfte werden sich anpassen müssen, um den neuen Erwartungen der Patienten gerecht zu werden», sagt er.

Ronald Vonlanthen seinerseits bleibt optimistisch: «Neue Technologien und künstliche Intelligenz werden die Art und Weise verändern, wie Medizin praktiziert wird, und neue medizinische Berufe werden entstehen. Aber um eine Diagnose zu stellen, wird man immer ein menschliches Gehirn hinter den Maschinen benötigen», sagt er.

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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