Schweizer Premiere im Weltraum: Der «Müllwagen» für Satellitenschrott
Der Vertrag ist unter Dach und Fach: Erstmals stellt die Europäische Weltraum-Organisation (ESA) 93 Millionen Franken für ein Startup-Unternehmen bereit. Und dieses kommt aus der Schweiz. Sein Auftrag: Weltraummüll einsammeln, denn die Trümmerteile können zur echten Gefahr für Weltraum-Missionen werden.
10. Februar 2009: Der kommerzielle amerikanische Satellit Iridium 33 trifft mit einer Geschwindigkeit von fast 42’000 Kilometern pro Stunde auf den russischen Militärsatelliten Kosmos 2251. Beide Satelliten zerschellen in mehr als 600 Teile – Schrott, der nun mit der 20-fachen Geschwindigkeit einer Gewehrkugel durchs All düst.
Dies war der erste registrierte Weltraum-Crash dieser Art. Seither gab es sogar welche, die vorsätzlich herbeigeführt wurden: Um Weltraumraketen zu testen, haben Russen, Amerikaner, Chinesen und Inder alle einen oder mehrere ihrer eigenen Satelliten zerstört.
All diese Explosionen liessen ein paar tausend weitere Abfallprodukte im Orbit zurück, die jedes Raumschiff bedrohen können – bis hin zur Internationalen Raumstation (ISS). Genau dieses Szenario hatte Regisseur Alfonso Cuarón am Anfang seines Films «Gravity» entworfen. Nun ist es Realität geworden.
In selben Jahr 2009 feiern Muriel Richard-Noca und ihre Studierenden an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) die erfolgreiche Mission von «SwissCube». Es ist dies der erste zu 100 Prozent in der Schweiz hergestellte Mini-Satellit von der Grösse eines Tetrapacks Milch.
Doch schon denkt die Raumfahrtingenieurin bereits über den Moment nach, in dem ihr Baby hoch oben im Orbit zu Trümmern werden wird. Dies umso mehr, als der «SwissCube» just in jener Region im Orbit kreuzt, wo noch viele Trümmer des Satelliten-Crashs umherschiessen, der kurz vorher stattgefunden hatte.
Seit Sputnik 1 im Jahr 1957 hat der Mensch nach Angaben der ESAExterner Link fast 9600 Objekte ins All geschossen, von denen 5500 noch immer über unseren Köpfen kreisen. Aber heute haben wir nur noch weniger als die Hälfte von ihnen unter Kontrolle. Das bedeutet: Es gibt 3200 «Geisterschiffe» im Orbit.
Hinzu kommen Raketentrümmer und Rückstände von Kollisionen, Explosionen und anderen Ereignissen – nach Schätzungen bis heute mehr als 500.
Insgesamt lagern mehr als 8800 Tonnen Metallschrott im nahen Weltraum, der ausser Kontrolle ist. Das entspricht fast 130 Millionen Trümmerteilen in der Grösse von einem Reiskorn bis zu einem Bus.
Die meisten Teile sind winzig, aber bei der Geschwindigkeit im All setzt der Aufprall einer einfachen Schraube die Energie einer Handgranaten-Explosion frei.
Die grössten dieser Trümmerstücke (etwa 22’300) sind bekannt und werden von Raumfahrt-Behörden beobachtet. Im Fall von Kollisionsgefahr mit einem Raumschiff wird eine Warnung ausgegeben und dessen Umlaufbahn leicht geändert.
Solche Kursänderungen sind ein gängiges Szenario: Anfang Oktober musste das Schweizer Weltraumteleskop CHEOPS ein solches Manöver durchführen. Die Internationale Raumstation zum Beispiel, die sich in einem stärker belasteten Gebiet aufhält, musste allein in diesem Jahr dreimal ihre Umlaufbahn anpassen.
2012 riefen Muriel Richard-Noca und das Space Center der ETH Lausanne das Projekt «ClearSpace» ins Leben. Zur gleichen Zeit und ohne dass sich die beiden Frauen absprachen, überzeugte die Physikerin Luisa Innocenti die ESA, ein Programm mit just demselben Ziel zu starten. Das war der Anfang der Geschichte.
Drei Weltpremieren
Acht Jahre später ist aus Nocas Lausanner Projekt das Startup «ClearSpace» geworden. Im Herbst 2019 gab die ESA unter 13 Kandidaten – darunter mehrere europäische Industriegiganten – dem Schweizer Unternehmen den Zuschlag. Dieses stockte die Belegschaft von fünf auf 20 Personen auf.
Noca und ihr Team betraten völliges Neuland. Mittlerweile ist kein Projekt der Welt auf dem Gebiet der Weltraumreinigung so weit fortgeschritten. Dies dürfte der Hauptgrund sein, dass die ESA erstmals auf einen externen Anbieter statt auf eine Mission setzt.
Noch bemerkenswerter aber ist die investierte Summe: Noch nie hat eine Raumfahrtagentur ein Startup-Unternehmen mit so viel Geld unterstützt. Die Agentur stellt insgesamt 93 Mio. Schweizer Franken bereit. «ClearSpace» selbst muss 26 Mio. Franken beschaffen, um das benötigte Budget zu erreichen.
Die Lausanner Forschenden haben diese Woche eine Online-Pressekonferenz veranstaltet. Dabei wurde klar, dass aus dem Startup mittlerweile ein eigentliches Konsortium geworden ist. Denn «ClearSpace» hat das vergangene Jahr genutzt, um Institute und Industrieunternehmen aus acht europäischen Ländern zusammenzubringen.
Darunter sind Giganten wie Airbus und die Schweizer Ruag – die unter anderem die Nutzlast-Verkleidungen der Ariane-Raketen herstellt. Zwar existiert der Satellit «ClearSpace-1» erst auf dem Papier. Doch die Herstellung ist auf besten Wegen. Dabei wird die ESA vor Auszahlung jeder einzelnen Finanzierungs-Tranche strikte Kontrollen durchführen.
Hochriskante Mission
Laut Plan wird «ClearSpace-1» 2025 an der Spitze einer europäischen Vega-Rakete abheben. Seine Mission: Weltraumschrott einzufangen und diesen in Richtung Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zu bringen, wo er dann zu einem Sternschnuppen-Schauer verglüht.
Das erste Ziel ist eine Vespa. Es ist aber nicht ein italienischer Roller, obwohl es nicht viel grösser oder schwerer ist – 112 Kilo. Bei dem Teil handelt es sich um einen kleinen Metallkegel, der 800 Kilometer über der Erde kreist. Er wird verwendet, um die Satelliten voneinander zu trennen, die in einer Trägerrakete ins All geschossen werden.
Bisher wurde im Weltraum noch nie ein so genanntes «unkooperatives» Objekt eingefangen. Die Vespa, die sich frei und um sich selbst drehend bewegt, hat weder Steuerung noch Antrieb.
«Wir alle haben in Filmen gesehen, wie ein Astronaut versucht, ein Werkzeug einzufangen, dabei eine falsche Bewegung macht und das Werkzeug wie ein Golfball ins All fliegt. Mit der Vespa wird es genauso sein», sagt Luisa Innocenti von der ESA. «ClearSpace-1» wird seine vier Greifarme weit öffnen müssen, um das Stück Schrott ergreifen zu können.
Eine weitere Herausforderung ist die Sonne: Sie könnte die Kameras blenden und so das Ziel unsichtbar machen. Der «Jäger» wird jede seiner Bewegungen mit Hilfe künstlicher Intelligenz ständig neu berechnen müssen.
Sobald «ClearSpace-1» Vespa eingefangen hat, werden es Innocenti, Noca & Co mit einem völlig neuen Objekt zu tun haben, dessen Dynamik sie erst verstehen müssen. Erst dann werden sie entscheiden können, wo und wie sie es verglühen lassen können.
Wofür dieser Aufwand?
«ClearSpace-1» wird also ebenfalls in der oberen Atmosphäre verglühen. Ist das nicht eine Menge Geld, um nur ein einziges Stück Weltraumschrott loszuwerden?
«Nein», antworten die ESA und «ClearSpace» unisono. Diese Mission sollte nur die erste sein in einer langen Reihe, mit der Aussicht auf einen «Jäger», der in der Lage sein soll, mehrere Wracks hintereinander ins Feuer des Wiedereintritts in die Atmosphäre abzuwerfen. Es ist bereits die Rede davon, dass in einer einzigen Mission fünf oder sogar zehn Trümmerstücke nacheinander entsorgt werden sollen.
Und das ist noch nicht alles: Die Technologien von «ClearSpace» könnten auch zum Betanken oder für Reparaturen eingesetzt werden, um die Lebensdauer bestimmter Satelliten zu verlängern. Längerfristig ist auch geplant, Raumfahrzeuge für Langstreckenflüge im Orbit zu montieren, die viel zu schwer wären, um sie in einem Stück aus der Anziehungskraft der Erde herauszuschiessen.
«Unser Ziel ist es, kostengünstige und nachhaltige Dienste im Orbit anzubieten», sagt Luc Piguet, Direktor von «ClearSpace». Ohne das kommerzielle Ziel seines Unternehmens zu verbergen: Der potenzielle Markt könnte eines Tages «zwischen einigen hundert Millionen und mehreren Milliarden Dollar pro Jahr» wert sein.
Unklare Zuständigkeiten
Wer aber bezahlt die Müllentsorgung im Weltall? Bezüglich der Verantwortlichkeiten herrscht Unklarheit. Die Weltraum-VerträgeExterner Link, die 2002 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden, sprechen nur von der Verantwortung der Staaten im Fall eines Unfalls. Die Präsenz privater Akteure dagegen ist darin nicht geregelt.
Gehen die Trümmer also niemanden etwas an?
Nein. Es muss zwischen alten und neuen (oder zukünftigen) Trümmern unterschieden werden. Es bestehen sehr genaue Regeln, an die sich Raumfahrtbehörden und Privatunternehmen halten müssen. So muss eine Satelliten-Trägerrakete nach 25 Jahren wieder in die Erdatmosphäre eintreten. Das heisst, dass sie auch dann noch genügend Treibstoff für das Manöver haben muss.
«Mit dem Weltraumschrott ist es wie bei der globalen Klimaerwärmung: Wir haben das Gefühl, dass wir alle Zeit der Welt haben, also kommen wir nur sehr langsam voran.»
Luisa Innocenti – ESA
«Wir starten immer mehr Satelliten. Seit 2010 hat sich die Zahl der Objekte in der Umlaufbahn um das 16-fache erhöht,» sagt Piguet.
Die Zunahme ist hauptsächlich auf private Internet-Satelliten zurückzuführen, etwa die «Satelliten-Kette» Starlink von «SpaceX» oder «OneWeb». Aber die neuen Akteure seien sich «des Problems sehr bewusst und handeln sehr proaktiv», sagt er.
Das grosse Problem sind also die alten Trümmer. Und ist der Spezialist sagt kategorisch: «Man muss jetzt oder nie handeln!»
«Bei den Vereinten Nationen gibt es Diskussionen über die Einführung einer Steuer auf Starts von Satelliten. Diese würde dann zur Finanzierung eines Fonds für die Säuberung des Weltraums verwendet, der von der UNO verwaltet wird», ärgert sich Luisa Innocenti.
«Aber das sind Diskussionen zwischen Diplomaten. Es ist ein bisschen wie bei der globalen Klimaerwärmung: Wir haben das Gefühl, dass wir alle Zeit der Welt haben, also kommen wir nur sehr langsam voran.»
>> «Es ist Zeit zu handeln!» Die 8. Europäische Konferenz über Weltraummüll findet im April 2021 statt.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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