Die elektronischen Schutzengel der Zukunft
Neuartige Chips sollen Gesundheit von Mensch und Umwelt überwachen. Das Wenige an Energie, das sie brauchen, erzeugen sie selber. Die ETH Lausanne und Zürich bewerben sich bei der EU um das 1-Milliarden-Projekt "Guardian Angels". Augenschein im Labor.
Die Demonstration im Labor von Michael Grätzel an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) ist für die Besucher immer wieder spannend.
Man zerquetscht ein, zwei Himbeeren auf einer kleinen Glasplatte, legt ein weiteres Plättchen darüber, das mit weisser Farbe bedeckt und Bleistift schraffiert ist, befestigt daran zwei Elektroden, die man Licht aussetzt, und diese merkwürdige Zusammensetzung erzeugt Strom, der einen kleinen elektrischen Motor antreiben kann.
Das Team von Professor Grätzel ist seit 20 Jahren von der Natur inspiriert und auf Solarzellen spezialisiert. Daher ist es nichts als logisch, dass seine Forschergruppe beim zweiten Schweizer EU-Flaggschiff-Projekt mit an Bord ist. Eine Woche nach dem Projekt «Human Brain» öffneten die «elektronischen Schutzengel» ihre Labors.
Zero-Power-Systeme
Im Idealfall funktionieren die Guardian Angels (GA) ohne Energieverbrauch. Oder besser gesagt: ohne Strom vom Netz. Jedes Teilchen produziert selber so viel Elektrizität, wie es benötigt.
Es ist also eine doppelte Herausforderung: Es müssen Mikrochips hergestellt werden, die so wenig Strom wie möglich verbrauchen und die Energie überall entnehmen können, wo dies möglich ist.
Ziel ist es, Chips zu entwickeln, die 100 Mal weniger Strom verbrauchen als die heutigen Teilchen aus Silizium. Die Rechnung ist einfach: je kleiner das System, desto weniger Energie braucht es.
In den Labors an der EPFL wollen die Wissenschafter Nanoröhren aus Karbon entwickeln, die solider sein sollen als Diamanten und Elektrizität besser leiten können als Kupfer. Sie sollen als Grundmaterial für die Chips von morgen dienen, ultraschnell sein und sich kaum erwärmen.
Um die Chips zu alimentieren, stehen viele Wege offen: Sonnenenergie oder auch thermische Energie wie Körperwärme, aber auch Bewegung kann in Energie umgewandelt werden.
Das Forschungszentrum für Mikrotechnik in Neuenburg, das dem EPFL angeschlossen ist, könnte seine kleinen piezoelektrischen Konverter zur Verfügung stellen. Mit diesen kann Strom erzeugt werden, indem beim Gehen ein Fuss vor den anderen gesetzt wird. Und wer weiss:
Vielleicht kann eines Tages die Energie von Regentropfen, die auf den Boden fallen, in Strom umgewandelt werden.
Gesundheit, Umwelt, Emotionen
Wozu aber sollen diese Chips gut sein? Es geht nicht etwa um «l’art pour l’art», sondern darum, «die Wissenschaft und Technologie in etwas umzuwandeln, das für die Menschheit von Nutzen ist, etwas, das sich auf unseren Alltag auswirkt», sagt Adrian Ionescu, Leiter des Nanolabors an der EPFL und zusammen mit seinem Zürcher Kollegen Christofer Hierold Co-Leiter des Projekts «Guardian Angels for a Smarter Life».
Einst sollen die elektronischen Schutzengel in die Fasern unserer Kleider integriert werden und wie biomedizinische Sensoren funktionieren. Sie könnten rund um die Uhr die lebenswichtigen Parameter messen wie etwa Herzrhythmus, Blutdruck oder Blutzucker und so die Risiken vermindern und im Bedarfsfall Alarm auslösen.
Eine Applikation also, die in unserer immer älter werdenden Gesellschaft von Nutzen sein könnte, indem ältere Menschen länger zu Hause bleiben können.
Die Sensoren könnten aber auch in der Umwelt eingesetzt werden und Staubpartikel in der Atmosphäre, Pollen, Ozon-Konzentration oder drohende Unwetter wie auch Tsunamis frühzeitig erfassen.
In letzter Konsequenz sollen die Mikrochips aber auch menschliche Emotionen erfassen können: Der Lehrer würde dann wissen, ob seine Schülerinnen und Schüler zuhören, das Auto würde die Weiterfahrt verweigern, wenn der Fahrer beschwipst oder übermüdet ist, oder ein gestresster Fluglotse könnte rechtzeitig von einem Kollegen abgelöst werden.
Auch behinderte Menschen könnten vom elektronischen Begleiter profitieren. Im EPFL-Zentrum für Neuroprothesen wurde demonstriert, wie ein Student mit einer mit Elektroden bespickten Haube auf dem Kopf seinen Rollstuhl zum Wenden brachte, indem er nur daran dachte, den linken oder rechten Arm zu heben.
Fraglich ist, ob die Leute Lust haben, sich ständig analysieren und überwachen zu lassen, auch wenn es zu ihrem Wohl sein soll. Auf diese Frage reagiert Adrian Ionescu entschieden: Die GA seien keine Spitzel, die Technologie werde nicht invasiv sein, und jeder werde den Sensor abstellen können, wenn er wolle.
Das grösste je von der Europäischen Union (EU) lancierte Forschungs-Programm hat Anfang Mai in Budapest 6 Finalprojekte bekanntgegeben, aus denen nächstes Jahr 2-3 «Flagships» ausgewählt werden.
Jedes dieser Projekte wird 1 Mrd. Euro über 6 Jahre erhalten.
Zweieinhalb der 6 Finalprojekte stammen aus der Schweiz. Zwei aus den Eidgenössischen Technischen Hochschulen Zürich und Lausanne (ETH/EPFL): «Human Brain Project» und «Guardian Angels», ein weiteres ist eine Zusammenarbeit zwischen ETH Zürich und University College of London: «FuturICT».
Der deutsche Chemiker Michael Grätzel erfindet seine Solarzelle 1991 an der EPFL Lausanne und patentiert sie 1992. Ihr Vorteil liegt in niedrigen Herstellungskosten und geringer Umweltbelastung bei der Herstellung.
Die Zellen brauchen im Vergleich mit herkömmlichen Zellen auch viel weniger oder nur diffuses Licht.
2009 erhält Grätzel den prestigeträchtigen, mit 1 Mio. Fr. dotierten Balzan-Preis.
Trotzdem dauerte es 20 Jahre, bis die Technik erwachsen wurde: Heute werden die Zellen in England in Serie gefertigt und beispielsweise zum Antrieb von MP3-Playern eingesetzt. Sony und Toyota arbeiten bereits mit Prototypen.
Das Prinzip der Grätzel-Zelle gleicht einer Himbeere: Die Frucht enthält ein Molekül, das dem Blattgrün der Pflanzen ähnelt und Elektronen freigibt, wenn es dem Licht ausgesetzt wird.
Das Graphit eines Bleistifts wird benutzt, um diese Elektronen auf den elektrischen Draht zu transportieren.
In der Praxis werden die Grätzel-Zellen aber mit einem synthetischen Farbstoff hergestellt, der viel effizienter als der natürliche Himbeersaft ist.
Durch die Vervielfachung von Erkenntnissen dieser Art wollen die 17 Universitäten und Forschungsinstitute sowie 11 industrielle Partner (darunter IBM, Siemens und Sanofi Aventis) des Konsortiums GA (12 Länder) eines Tages ihre elektronischen Schutzengel konkretisieren.
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
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