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Die sehr grossen Ambitionen der Hirnforscher

Im Genfer Sécheron-Quartier wird das Logo des Human Brain Projects bald jenes des bisherigen Mieters Merck Serono ersetzen. Keystone

Lancierung, erste Tranche der EU-Finanzierung, Ankündigung des Umzugs von Lausanne nach Genf: Ein Jahr nach seiner Promotion zu einem "Flaggschiff" der europäischen Forschung steht das Human Brain Project (HBP) erneut im Rampenlicht. Ein Überblick: Hoffnungen und Versprechen, Zweifel und Kritik.

Vom Silicon Valley, von Moskau oder Schanghai her betrachtet, erscheinen Lausanne und Genf wie zwei Quartiere ein und derselben Stadt. Auch dass sie sich in zwei Kantonen befinden, bedeutet nicht viel.

Auch die Schweiz ist dabei, sich an diese Realität zu gewöhnen. Wenn man die Chance hat, Sitz eines wissenschaftlichen Projekts zu sein, das mindestens kontinentale Reichweite hat, hat Lokalpatriotismus keinen Platz. Als sie am 29. Oktober den Umzug des HBP nach Genf bekannt gaben, lösten die Leiter der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) keinen Sturm der Empörung aus.

Es war ein pragmatischer Entscheid: Die ehemaligen Lokalitäten von Merck Serono in Genf können direkt genutzt werden, in Lausanne hätte man Neuropolis bauen müssen, ein Gebäude mit geschätzten Kosten von 100 Mio. Euro, finanziert von einer öffentlich-privaten Partnerschaft. Und weil es rasch gehen muss, wenn man bis 2023 ein erstes Computermodell des Gehirns vorstellen will, ziehen 120 Wissenschafter und Mitarbeiter des HBP im nächsten Jahr rund 50 Kilometer um.

Januar 2013: Die EU-Kommission gibt die Resultate ihres «Flaggschiff»-Wettbewerbs bekannt. Es geht um wissenschaftliche Projekte, die mit je einer Milliarde Euro unterstützt werden sollen.

In die Endauswahl hatten es auch drei Projekte aus der Schweiz geschafft. Eines wurde erkoren, die andern zwei fielen durch.

Ein Jahr später zieht swissinfo.ch eine Bilanz.

Eine spannende, aber auch beschwerliche Reise

Die offizielle Lancierung des HBP Anfang Oktober hatte aber noch in Lausanne stattgefunden. Mit mehr als 130 Forschungsinstitutionen aus Europa und dem Rest der Welt, mit Hunderten von Wissenschaftern aus verschiedenen Bereichen und mit einem Budget von 1,2 Mrd. Franken, haben das HBP und seine Forschungsteams grosse Ambitionen.

Henry Markram, Leiter des Projekts, sagt, er sei zuversichtlich, dass die einleitende Phase von 30 Monaten genügen werde, um die wichtigsten ersten Umsetzungen zu erzielen. Es wird darum gehen, die technische Basis für eine Computersimulation des Gehirns zu entwickeln sowie eine einheitliche Datenbank, in der die Zehntausenden von Publikation zusammengeführt werden, die jedes Jahr im Bereich Neurowissenschaften veröffentlicht werden.

Dank der finanziellen Unterstützung, die das HBP geniesst,  sollte es sich gegenüber einer weiteren Mega-Initiative an die Spitze setzen können: Dabei geht es um das amerikanische Projekt BRAIN (Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies), das US-Präsident Barack Obama im April angekündigt hatte, und das mit 100 Mio. Dollar finanziert wird.

Keystone

100’000 Milliarden Verbindungen

Das Projekt HBP wird manchmal mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts, dem Human-Genom-Projekt verglichen, das die komplette DNA-Sequenzierung der Gene des Menschen verfolgte und 2003 abgeschlossen wurde. Doch die Ziele der beiden Projekte sind unterschiedlich. Das HBP sieht nicht vor, das gesamte menschliche Gehirn zu kartographieren, was viel zu komplex wäre.

«Um alle Verbindungen im Gehirn zu messen – es gibt bis zu 100’000 Milliarden – können wir nicht jede davon experimentell kartographieren», erklärt Henry Markram. «Aber indem wir nutzen, was wir über die Verbindungen und Schaltkreise zwischen den Neuronen wissen, können wir Algorithmen konstruieren, die uns ein Voraussage-Modell geben werden, und danach werden wir die Verbindungen verifizieren können.»

Bei der Bekanntgabe ihres «Flaggschiff»-Wettbewerbs hat die EU-Kommission von je 1 Milliarde Euro Forschungsgeldern pro Projekt über einen Zeitraum von 6 Jahren gesprochen. Das Budget des HBP beläuft sich auf 1,2 Mrd. Doch in der Tat werden nur 500 Mio. Euro von Brüssel kommen. Daniel Pasini von der Kommunikationsdirektion der EU erklärt, die Idee sei, ein effizienteres Forschungs-Europa aufzubauen, bei dem die einzelnen Staaten sich an grossen Projekten beteiligen könnten.

Am 1.10.2013 wurde eine erste Tranche von 54 Mio. Euro zwischen der EPFL und mehr als 100 Partnern des HBP-Netzwerks aufgeteilt. Diese Gelder sind für die so genannte Vorbereitungsphase bestimmt, die 30 Monate dauern wird. Am Ende dieser Periode wird ein Expertengremium abklären, ob das Projekt wie erwartet vorankommt. Falls nicht, werden die Experten Empfehlungen erlassen, wie jene Aspekte, die nicht gut funktionieren, korrigiert oder neu ausgerichtet werden können.

Die EU-Gelder wurden im Rahmen des Budgets des 7. Forschungs-Rahmenprogramms gesprochen, das von den EU-Staaten alle 30 Monate neu diskutiert wird. Die Schweiz ist als assoziierter Partnerstaat nicht an den Entscheiden beteiligt, trägt aber zur Finanzierung der Rahmenprogramme bei. Der Betrag richtet sich am BIP aus; das Gleiche gilt auch für die Türkei, Island oder Norwegen.

Der Rest der Finanzierung muss bei einzelnen Staaten und privaten Geldgebern aufgetrieben werden. Zurzeit erklärt das HBP, es habe Verpflichtungen für 415 der notwendigen 700 Mio. erhalten. «Die Schweiz und Deutschland sind schon über ihre Pflicht hinausgegangen, und wir haben auch grosse Beiträge von Spanien erhalten, was nicht heissen will, dass diese Staaten keine weiteren Gelder mehr sprechen werden», freut sich Richard Walker, Sprecher des Projekts.

Dazu kommen noch die anderen potenziellen Geldgeber. Auch wenn Budget-Einschränkungen zurzeit an der Tagesordnung sind, wird das Risiko, dass das Geld allen 22 betroffenen Ländern gleichzeitig ausgehen sollte, als minim betrachtet.

Unglaublich komplex

Seit acht Jahren haben der Professor und sein Team im Rahmen des Vorgängerprojekts Blue Brain diese Methoden des «Reverse Engineering» bereits getestet. Das Prinzip ist einfach: Statt ein Objekt zu zeichnen, bevor man es konstruiert, geht man von einem existierenden Objekt aus und versucht, davon einen Plan zu entwerfen.

Nur ist das betroffene Objekt in diesem Fall unglaublich komplex. Das menschliche Hirn zählt bis zu 100 Milliarden Neuronen (Nervenzellen), und jedes einzelne kann im Durchschnitt bis zu 10’000 Verbindungen (Synapsen) mit seinen benachbarten Neuronen etablieren.

Bisher ist es den Forschern mit Gehirntranchen von Ratten als Modellen und einem Supercomputer IBM Blue Gene gelungen, die Funktion einer neokortikalen Säule – zentraler Baustein des Gehirns von Säugetieren – zu simulieren. Doch eine solche Säule beinhaltet erst etwa 30’000 Neuronen.

Computer der Zukunft

Das bedeutet, dass es für die Simulation eines menschlichen Gehirns sehr viel leistungsfähigere Computer braucht, als alle, die es bisher gibt. Derzeit ist Blue Gene in der Lage, Millionen von Milliarden Operationen pro Sekunde zu vollziehen. Doch es würde gut Tausend solche Maschinen brauchen, um der Kapazität des menschlichen Gehirns, verschiedene komplexe Aufgaben gleichzeitig durchführen zu können, nahe zu kommen.

Auch die Energie ist ein grosses Problem. Unser Gehirn kommt mit dem Energieverbrauch einer Glühbirne (etwa 20 Watt) aus, während Computer, die das menschliche Gehirn imitieren könnten, beim aktuellen Stand der Dinge praktisch auf ihr eigenes Elektrizitätswerk angewiesen wären.

Doch davon lässt sich das HBP-Team nicht entmutigen. Mit der rasanten Entwicklung der neuromorphen Technologie und Informatik – Maschinen, die wie ein Gehirn lernen können – wetten Henry Markram und sein Team auf erste Simulationen in weniger als einem Jahrzehnt. An den Universitäten von Heidelberg und Manchester arbeiten zwei Gruppen, die mit dem HBP-Projekt verbunden sind, bereits an fortgeschrittenen neuromorphen Programmen.

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Falsche Neuronen aus Silikon (Präsentation des Unterprojekts 9 des HBP, Engl.)

Human Brain Project

Ein anderes Ziel des Projekts ist die Schaffung einer computergestützten Plattform, auf der medizinische Informationen über Hirnkrankheiten von öffentlichen Spitälern und von Pharmaunternehmen zusammengestellt werden. Die Analyse der Daten soll ermöglichen, Gruppen neurologischer Probleme zu identifizieren. Diese neue Klassifizierung mittels «biologischer Grundlagen» sollte die Entwicklung neuer Instrumente und Strategien für die Pharma-Forschung und die Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer fördern helfen.

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Nicht alle sind überzeugt

Das äusserst ehrgeizige Projekt stösst jedoch bei gewissen Wissenschaftern auch auf Vorbehalte. Im Januar 2012, als Henry Markram seine Vision in Bern vor den Schweizer Akademien der Wissenschaften präsentierte, sah er sich mit einer Welle von Skepsis konfrontiert. Zu den Elementen der Kritik gehörten: schlechte Konzeption des Projekts, eine zu grosse Komplexität und ein Mangel an klar definierten Zielen.

Das Magazin Nature, das einen Monat später auf die Veranstaltung in Bern zurückkam, zitierte vor allem Rodney Douglas, Co-Direktor des Instituts für Neuroinformatik der Universität und der ETH Zürich, und ehemaliger Mentor Markrams, der «mehr Diversität in den Neurowissenschaften» forderte. Für ihn braucht die Hirnforschung «so viele Leute wie möglich, die so viele unterschiedliche Ideen wie möglich zum Ausdruck bringen».

Auch fast zwei Jahre später wird noch immer Kritik dieser Art laut. «Ich glaube, dass ein grosser Teil der wissenschaftlichen Gemeinde, der nicht eng an diesem Projekt beteiligt ist, schätzt, dass es am Ziel vorbeischiesst. Das HBP fusst nicht auf einer Theorie, sondern wird empirisch durchgeführt. Die Wahrheit ist, dass wir nicht genug wissen über die Strukturen und Prozesse, die im Gehirn im Gange sind, um Modelle dieser Art zu schaffen. Die Europäische Union hat sich etwas reinlegen lassen, indem sie der Finanzierung dieses Projekts zustimmte», sagt Stephen Rose, Professor für Neurobiologie an der Open University und der Universität London.

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«Ich würde es vorziehen, wenn man dem Europäischen Forschungsrat oder dem Schweizerischen Nationalfonds, die völlig unparteiisch sind und nur gute, relevante Ideen und intelligente Forscher suchen, Mittel zukommen lassen würde», erklärt seinerseits Martin Schwab, Professor an dem von der Universität Zürich und der ETH Zürich betriebenen Zentrum für Neurowissenschaften.

Kein Grund für Henry Markram, sich entmutigen zu lassen. «Viele Leute fragen: ‹Ist denn das wirklich möglich?› und kritisieren das Projekt», sagt der HBP-Leiter. «Aber wir sind uns alle darin einig, dass wir das Gehirn nicht auf einmal verstehen werden. Deshalb werden wir auch alle Informationsbruchstücke zusammentragen, die seit Jahrzehnten produziert wurden.»

Fünf landläufig verbreitete Ansichten zum menschlichen Gehirn und dessen Kapazitäten.

Wir nutzen nur 10% unseres Gehirns – FALSCH. Dieser Mythos geht auf verschiedene Quellen zurück, unter anderem darauf, dass die Neuronen nur ungefähr 10% der Zellen des menschlichen Gehirns ausmachen (der Rest sind Gliazellen). Auch wenn es stimmt, dass wir unser Gehirn zu einem gegebenen Zeitpunkt nie zu 100% nutzen, sind im Verlauf des Tages alle Regionen im einen oder anderen Moment aktiv, auch dann, wenn wir nichts tun.

Die rechte Gehirnhälfte ist intuitiv, die linke rational – WAHR UND FALSCH. Die rechte Hemisphäre lässt uns vor allem Kunst, Musik oder die Schönheit der Natur verstehen, die rechte Funktionen wie Sprache, Schreiben, Rechnen kontrollieren. Tatsächlich sind aber jene Funktionen, die eine dominante Hemisphäre haben, auch von Regionen abhängig, die in der anderen Hälfte des Gehirns lokalisiert sind. Die beiden Gehirnhälften tauschen zudem ständig Informationen untereinander aus.

Bei der Geburt hat man eine bestimmte Anzahl Neuronen, deren Zahl im Verlauf des Lebens sinkt – FALSCH. Ein Baby wird mit etwa 100 Milliarden Neuronen geboren. Dies wird in etwa der Grundstock während des ganzen Lebens sein. Doch im Erwachsenenalter entstehen neue Neuronen. Diese helfen, Interferenzen zwischen Erinnerungen zu reduzieren, indem diese datiert werden, so dass sie sortiert werden können. Diese neuronale Erneuerung sinkt mit zunehmendem Alter, aber auch Stress, Depression oder Schlafmangel bremsen sie beträchtlich.

Je grösser das Gehirn, umso intelligenter ist man – FALSCH. Albert Einsteins Gehirn wog 1,25 Kilo, ein durchschnittlicher Wert. Mehr als die Grösse sind es die Organisation des Gehirns (mehr oder weniger entwickelte Regionen), die Schaltkreise und Verbindungen zwischen den Nervenzellen, welche die intellektuellen Fähigkeiten eines Einzelnen beeinflussen. Diese Parameter werden durch die Gene und das soziale Umfeld bestimmt.

Nachdenken ist anstrengend – RICHTIG. Das Gehirn macht zwar nur 2% des Gewichts eines Erwachsenen aus, doch es erhält 15% der Blutzufuhr, nutzt 20% des Sauerstoffs und 25% der Glukose, die der Körper insgesamt verbraucht. Und wenn wir geistig aktiv sind, verbrauchen wir mehr Glukose und Sauerstoff. Was den Energieverbrauch angeht: Das menschliche Gehirn verbraucht je nach Aktivität und Konzentration zwischen 10 und 25 Watt, praktisch nichts im Vergleich mit dem Energiebedarf, den ein Computer-«Gehirn» hätte.

(Quelle: echosciences-grenoble.fr)

(Übersetzung aus dem Englischen: Rita Emch)

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