Die «Tessinerpalme» – ein beliebter Eindringling
Ursprünglich stammt sie aus Asien. Heute ist die Chinesische Hanfpalme in Tessiner Gärten omnipräsent. In der schweizerischen Wahrnehmung wurde sie zu einem der Symbole des Südschweizer Kantons, der "Sonnenstube der Schweiz". Auch in dessen Wäldern breitet sie sich zunehmend aus. Mit welchen Konsequenzen?
«Gehen wir in den Dschungel», ruft Boris Pezzatti und erklimmt einen steilen Abhang. Um sich seinen Weg durch die dichte Vegetation zu bahnen, muss der Forscher der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und LandschaftExterner Link (WSL) die Hände benutzen, sich oft ducken und die Richtung ändern. Selbst eine Machete würde nicht ausreichen, um hier auf gerader Linie vorwärts zu kommen.
«Solange man sie nicht sieht, würde man es gar nicht glauben», sagt er, holt Luft und deutet mit dem Finger darauf. Die einzigen Pflanzen rund um uns herum sind Palmen. «Sie würden doch nicht sagen, dass wir in einem Tessiner Wald sind, nicht?», fragt Pezzatti rhetorisch.
Und doch ist es so. Genauer gesagt, befinden wir uns in der Gemeinde CaslanoExterner Link, die am Luganersee liegt. In diesem Gebiet mit steilen Wäldern, eingezwängt zwischen Häusern und einer Felswand, scheinen die Palmen den Buchen, Eichen oder anderen Bäumen, die man in einem Wald des Kantons erwarten würde, keinen Platz mehr gelassen zu haben.
Dabei handelt es sich im ganzen Wald nur um eine einzige Art von Palmen: Trachycarpus fortunei, auch bekannt als Fortune-Palme, Chinesische Hanfpalme, Glückspalme oder… Tessinerpalme.
Diese aus Asien stammende Pflanze mit ihren grossen fächerförmigen Blättern und dem faserigen Stamm ist auch in Italien weit verbreitet. Aber für die Schweizerinnen und Schweizer, vor allem für jene, die nördlich der Alpen leben, ist sie untrennbar mit dem Tessin, der Ferienidylle, verbunden.
Ein Hauch Exotik
Es wird gemeinhin angenommen, dass diese Palmenart in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Weg ins Tessin fand. «Manche sagen, dass die Schöpferin des botanischen Gartens auf den Brissago-Inseln, die russische Baronin Antoinette de Saint Leger, sie als erste in den Kanton gebracht habe. Aber man weiss es nicht genau», sagt Guido Maspoli, wissenschaftlicher Mitarbeiter des kantonalen Tessiner Amts für Natur und LandschaftExterner Link.
Was man sicher weiss: Der exotische Touch, den die Pflanze einem Anwesen verleiht, wurde vor allem während des Bau- und Tourismusbooms der 1960er- und 1970er-Jahre sehr geschätzt.
Die Palme ist eine unvermeidliche Zutat auf den Postkarten, die man in den Tessiner Kiosken kaufen kann. Und ein kurzer Spaziergang durch die Strassen des Kantons genügt, um Hunderte von ihnen in den Gärten zu sehen und solche, die vor Villen, Restaurants und Hotels angepflanzt wurden.
Nicht nur Erderwärmung
Die Trachycarpus fortunei wollte sich aber nicht auf die Gärten ihrer Bewunderer beschränken lassen. Mit Hilfe der Vögel, die sich von ihren Früchten ernähren, begann sie auch vor den Häusern jener aufzutauchen, die sie gar nicht anpflanzen wollten. Und, was noch wichtiger ist: Sie besiedelte ganze Waldgebiete. Wie jenes in Caslano, wo uns Boris Pezzatti heute begleitet.
«Ihre Ausdehnung ist im Kontext der immergrünen Expansion während der letzten Jahrzehnte zu sehen», sagt er. Ein Phänomen, das auch indigene immergrüne Pflanzen wie das Efeu betrifft.
Es handelt sich dabei um Pflanzen, die zur Ausbreitung die Lücken nutzen, die im Frühjahr und Herbst entstehen, wenn die Temperaturen mild sind und die höheren Bäume keine Blätter haben. So erreicht das Licht auch die Palmen, die sich in der Strauchschicht befinden und mit ihrem aktiven Blattapparat die Photosynthese durchführen können.
Pezzatti weist jedoch darauf hin, dass es nicht sicher sei, dass die massive Ausbreitung der Palme im Tessin in direktem Zusammenhang mit der Erderwärmung stehe. Oder zumindest nicht nur damit.
Eine wichtige Rolle, so die Hypothese des Forschers, spiele auch die Veränderung der Landnutzung. Zum Beispiel, dass die landwirtschaftliche Nutzung an vielen Orten aufgegeben worden sei. «Selbst bei niedrigeren Temperaturen hätte sich die Palme wahrscheinlich auf natürliche Weise im Tessin ausgebreitet. Ausserdem widersteht sie der Kälte sehr gut, selbst bei 15 Grad unter Null», sagt Pezzatti.
Mehr Objektivität, weniger Emotionen
Ist die Chinesische Hanfpalme auch schädlich? Eine Frage, die den Experten nicht gefällt. «Schädlich zu sagen, ist eine etwas anthropozentrische Vision», sagt Maspoli.
«Wenn es um invasive Neophyten geht, sind die Menschen sehr emotional», gibt Pezzatti zu bedenken. «Es ist leicht, auf den Gedanken zu kommen, dass es sich um eine ausländische Pflanze handelt, die nicht hierhergehört und die man ausrotten sollte.»
Dies sei aber nicht der Fall. Die globalen Veränderungen müssten dabei berücksichtigt werden. «Es braucht mehr Objektivität und weniger Emotionen. Wir müssen das Phänomen untersuchen und verstehen, welche Auswirkungen die Ausbreitung dieser Pflanzen auf natürliche Systeme hat. Und auf der Grundlage objektiver Daten müssen wir schliesslich Entscheidungen darüber treffen, wie – und ob – wir eingreifen sollen», sagt er.
Aus diesem Grund sind in Caslano Studien im Gang. Hier behalten die WLS-Forschenden die Kontrolle über die von der Palme befallenen Gebiete und vergleichen sie mit anderen Waldstücken, in denen diese Pflanze nicht vorkommt.
Welche Auswirkungen hat sie auf die biologische Vielfalt von Pflanzen und Tieren? Reduziert die Palme die Schutzkapazität des Walds gegen Erdrutsche und Felsstürze? Was geschieht im Falle eines Brands? Dies sind einige der Fragen, die sich die Forschenden in Zusammenarbeit mit dem Kanton stellen und zum Teil bereits beantworten können.
Mehr
Wo die Palme regiert
Auf jeden Fall bleiben die Behörden angesichts der Ausbreitung der Palme nicht untätig. So werden etwa in Locarno jedes Jahr die Blütenstände geschnitten. So kann die Fruchtbildung vermieden werden. Diese Praxis empfiehlt der Kanton auch allen Besitzern einer Palme. Und in geschützten Biotopen, wie zum Beispiel dem Sementina-Auenwald, werden punktuelle Ausrottungsmassnahmen durchgeführt.
Der Gedanke, die Palme aus dem gesamten Territorium verschwinden zu lassen, wird nicht einmal im Entferntesten in Betracht gezogen. Die von vielen geliebte, inzwischen allgegenwärtige und im Klima des Kantons gut gedeihende Glückspalme ist ins Tessin gekommen, um zu bleiben. Heute gehört sie zur DNA des Tessins, wie die sehr geschätzte Edelkastanie, die übrigens auch eine «Ausländerin» ist. Diese hatten damals die Römer in die Schweiz gebracht.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch