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Drittel der Bevölkerung psychisch angeschlagen

Depressionen, Stress, Angstzustände, Burn-Out, Borderline, sind häufige Krankheiten im Psychiatriebereich. Keystone

Psychische Leiden werden im kommenden Jahrzehnt im Alpenland die grösste Herausforderung für das Gesundheitswesen sein. Keine oder eine unangemessene Therapie verschlimmern laut dem Psychiater Alain Malafosse die Situation.

Der Spezialist folgt klaren Fährten, um in einem Spezialbereich der Medizin mit einem der grössten Forschungsrückstände besser auf den Patienten abgestimmte Behandlungen zu ermöglichen.

Jean-Nicolas Despland, Direktor am Institut für Psychotherapie des Universitäts-Spitals des Kantons Waadt (CHUV), weist darauf hin, dass ohne die Berücksichtigung von Suchtverhalten einer von drei Schweizern einmal in seinem Leben unter psychischen Störungen gelitten hat.

Laut dem diese Woche veröffentlichten Monitoring 2012 des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums in Neuchâtel (OBSAN) «ist es möglich, dass 17% der Bevölkerung klinisch an psychischen Störungen leiden».

Die Schätzungen über Erkrankungen gehen jedoch auseinander: Daniela Schuler vom OBSAN, das die Gesundheitsbehörden von Bund und Kantonen koordiniert, bestätigt: «Verschiedene Studien stimmen überein, dass jährlich zwischen 20 – 30% der Bevölkerung aus klinischer Sicht psychische Störungen aufweisen.»

Im vergangenen September veröffentlichte das European College of Neuropsychopharmacology in Oxford (ECNP) eine Studie, die 30 Länder und auch die Schweiz berücksichtigte: Der Jahresdurchschnitt psychisch Erkrankter in Europa beläuft sich auf 38,2%.

Laut dem Psychiater Alain Malafosse sind diese Angaben nicht übertrieben, wenn man sie mit verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen in der Schweiz vergleicht.

swissinfo.ch: Ist es nicht besorgniserregend, dass 38% der Bevölkerung betroffen sind?

Alain Malafosse: Sicher. Ich kann die Schätzungen der europäischen Studie nur bestätigen. Es gibt sehr tiefgreifende Untersuchungen, wie diejenige von Professor Martin Preisig von der Universität Lausanne. Sie belegen, dass zwischen 30 -35% der Bevölkerung an psychischen Erkrankungen leiden.

Im Falle schwerer Pathologien wie der manischen Depression, die eine wichtige Behinderung bedeuten, sind zwischen 5 – 6% der Bevölkerung betroffen. Hier geht es um ein gravierendes Problem der öffentlichen Gesundheit.

swissinfo.ch: Verfügt die Schweiz über genügend Mittel, um dieses Problem anzugehen?

A.M.: Wenn sie sich auf die finanziellen Mittel beziehen, so ist die Schweiz sogar im Präventivbereich eines der Länder mit den höchsten Investitionen.

Eine bessere Ausbildung der Hausärzte wird ausschlaggebend sein, denn gegenwärtig sind 90% der Personen, die an Depressionen und Angstzuständen leiden, noch nie bei einem Spezialisten gewesen oder haben sich überhaupt nie behandeln lassen.

Eine der grössten Schwierigkeiten besteht darin, dass Ärzte, die in ihrer Praxis zu arbeiten beginnen, nachher keine Weiterbildung verfolgen, um sich auf dem neusten Stand der Medizin zu halten.

swissinfo.ch: Trotz neuer Forschungsergebnisse sind die gegenwärtigen Therapien noch immer sehr allgemein.

A.M.: Im medizinischen Bereich hat die Psychiatrie einen der grössten Rückstände bezüglich besser auf den Patienten abgestimmter Behandlungen und Strategien. Solche sind unumgänglich.

Es mangelt uns an besseren Kenntnissen der häufigsten Krankheiten, um bessere Therapien zu entwickeln. Wenn wir als Beispiel die Erforschung von Krebs sowie Herz- und Kreislaufkrankheiten nehmen, so ist die Forschung in unserem Bereich weltweit und nicht nur in der Schweiz, wo Anstrengungen unternommen werden, noch immer ungenügend.

swissinfo.ch: Worauf ist dieser Rückstand zurückzuführen?

A.M.: Auf verschiedene und auch soziologische Gründe: Geisteskrankheiten rufen Furcht hervor, und der Betroffene zögert, sich beim Arzt anzumelden. Es ist zu hoffen, dass sich die Gesellschaft gegenüber solchen Krankheiten öffnet, wie es mit Krebskrankheiten und der Epilepsie geschehen ist, um eine Ablehnung zu vermeiden. Dies würde dem Erfolg der Therapie sicher förderlich sein.

Genau dieselben Schwierigkeiten gibt es auch bei den Gesundheitsbehörden. Und innerhalb der Psychiatrie bestehen ebenfalls grosse Meinungsverschiedenheiten zwischen unterschiedlichen psychologischen, physiologischen und biologischen Ansätzen. All dies trägt zum grossen Forschungsrückstand bei.

swissinfo.ch: Sie haben eine epigenetische Entdeckung angekündigt, welche einen Zusammenhang zwischen Misshandlung im Kindes- und Stress im Erwachsenenalter herstellt. Dies könnte bestens zur Entwicklung von Therapien beitragen, die genauer auf den Patienten eingehen.

A.M.: Auf jeden Fall. Viele psychiatrische Pathologien sind Krankheiten, die gleichzeitig durch biologische und genetische Faktoren und das Leben selbst ausgelöst werden, wie z.B. sehr frühe Traumata, sogar im Mutterleib.

Dieser Ansatz versucht zu verstehen, wie diese Faktoren die Funktionsweise der Gene verändern und wird für sämtliche psychiatrischen Krankheiten Folgen haben.

swissinfo.ch: Das heisst, dass epigenetische Forschungen unser Verständnis geistiger Gesundheit verändern wird, wenn wir das Zusammenspiel der Gene, die unser Verhalten bestimmen und verändern, besser verstehen?

A.M.: Dies hoffe ich. Die Epigenetik ermöglicht den Forschern und Spezialisten, Geisteskrankheit anders zu verstehen. Es fällt leichter zu akzeptieren, dass sowohl biologische als auch soziale Faktoren psychische Krankheiten auslösen.

Das Verständnis epigenetischer Faktoren kann dazu beitragen, das Zusammenwirken all dieser Faktoren zu begreifen und so die Art und Weise, wie Spezialisten den Patienten betrachten und behandeln, verändern. 

swissinfo.ch: Welches ist aufgrund ihrer Erfahrung zwischen Klinik und Labor die wichtigste Sorge der Spezialisten?

A.M.: In einem Land wie der Schweiz beschäftigen uns immer mehr Pathologien, die sich in Triebhaftigkeit und Gewalt ausdrücken. Aus klinischer und sozialer Sicht ist dieser Aspekt in Verbindung mit Geisteskrankheiten sehr wichtig geworden.

Hinzu kommt ein noch grösseres Problem: Drogen. Suchtverhalten verschlimmert psychische Krankheiten wie Wahnvorstellungen, Angstzustände, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen.

Es sind Krankheiten, die dem Drogenkonsum förderlich sind, was wiederum die Krankheit verschlimmert. Das sind die wichtigsten Probleme, auf welche wir immer häufiger treffen.

Europäische Gesundheitsbehörden bestätigen, dass psychische Krankheiten auf dem Kontinent bereits die wichtigste Herausforderung für das Gesundheitswesen sind.

Man schätzt, dass psychische Störungen ab 2020 oder 2025 in den Industriestaaten die wichtigste Ursache für Krankheit und Invalidität sein werden.

Bis zu 90% der in psychiatrischen Kliniken behandelten Patienten konsumieren irgendein legales oder illegales Suchtmittel.

Psychische Ursachen machten 2010 in der Schweiz 40% der Bezüger einer Invalidenrente aus.

Dieselben Leiden sind im selben Jahr die Ursache für 43 % der neuen Rentner.

Eine Untersuchung der Universität Zürich beziffert die durch psychische Leiden verursachten Kosten auf über 12 Milliarden Franken.

Die OKP-Kosten (Spital und ambulante Behandlung) im Psychiatriebereich beliefen sich 2010 auf 1,516 Milliarden Franken. Dies entspricht ca. 9% der Gesamtkosten, die im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) abgerechnet und bei den Krankenkassen eingereicht wurden. Quelle: Daniela Schuler, Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (OBSAN)

Die medizinischen Fakultäten schliessen in ihrer Grundausbildung von 6 Jahren für Allgemeinpraktiker das Fach Psychiatrie mit ein.

In zusätzlichen 6 Jahren kann man sich auf Psychiatrie und Psychotherapie spezialisieren.

Wissenschaftler der Universität Genf, unter ihnen Alain Malafosse, haben herausgefunden, dass Kindsmisshandlung die Ordnung der Gene verändert, die im Erwachsenenalter an der Verursachung von Stress beteiligt sind.

 Dies kann zur Auslösung verschiedener Krankheiten führen.

Das Endziel der Forschung soll eine Verbesserung der Diagnose und Therapie psychischer Leiden ermöglichen.

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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