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Ein künstliches Hirn, um die Natur zu verstehen

Henry Markram: "Im Interesse der Menschheit." EPFL/Alain Herzog

Mit der künstlichen Kopie eines menschlichen Gehirns wollen Forscher herausfinden, wie dieses funktioniert. Das Human Brain Project ist eines von drei Schweizer Projekten, die auf einen milliardenschweren EU-Förderbeitrag hoffen. Ein Besuch in Lausanne.

«Es ist eine einmalige Chance für Europa, in der Hirnforschung die Führung zu übernehmen», sagt Henry Markram.

Der Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) muss derzeit tönen wie ein Politiker, denn sein Human Brain Project (HBP) könnte nächstes Jahr zu einem der europäischen «Flagship»-Projekte auserkoren werden.

Das Geld, bis zu eine Milliarde Euro, wird dabei nicht allein von Brüssel beigesteuert werden, sondern auch von dem jeweiligen Gastland des ausgewählten Projekts.

Je breiter abgestützt das Projekt demnach ist, desto zahlreicher werden auch die Finanzierungsmöglichkeiten. In dieser Frage hat das HBP mit 13 beteiligten Universitäten in 9 Ländern gute Karten.

«Jedes Jahr werden 60’000 Artikel über das Gehirn publiziert», sagt Henry Markram. Doch statt dass diese Artikel in Bibliotheken verschwinden, will das HBP diese integrieren, um eine weltweit einzigartige Maschine zu konstruieren.

Wie es funktioniert

In ihrem Projekt «Blue Brain» haben Markram und seine Mitarbeitenden bereits seit 2005 an einem künstlichen Gehirn gearbeitet, das so nah wie technisch machbar an ein biologisches herankommt. Sie wandten dabei die Technik des «Reverse Engineering» an: Statt ein Objekt zu zeichnen, bevor man es konstruiert, geht man von einem existierenden Objekt aus und versucht, davon einen Plan zu entwerfen.

Man beginnt bei den fundamentalsten Bestandteilen: den Proteinen, den grossen Molekülen, welche die Zellen bilden. Dann kommen die Neuronen, durch welche die Informationen fliessen, die Glia-Zellen, die sie ernähren und die Übertragungen anpassen. Die Informationen selber sind gebündelte Ionen, die über lange Fasern von einer Zelle zur nächsten wandern.

All dies wird virtuell konstruiert, auf Basis von Daten, die am lebenden Gewebe gesammelt wurden.

Sternförmig um ein Infrarot-Mikroskop herum angeordnet, scheinen sich ein Dutzend kleine Kästchen, jedes verlängert durch eine Plastikpipette, von der gleichen grünen Lichtquelle zu ernähren. In jeder Einheit befinden sich zwölf Ratten-Neuronen, von denen die Maschine jede Aktivität aufzeichnet und in einen Computer überträgt.

Das ist die Basis des Projekts. Seit 2005 haben diese Experimente eine Welle von Informationen über die Grundfunktionen von Hirnzellen freigelegt. Dank diesen Erkenntnissen konnte das Projekt «Blue Brain» bereits die Basis eines Rattenhirns aus 10’000 Neuronen nachbauen, die unter sich bis zu 30 Millionen Verbindungen herstellen konnten.

Computer chancenlos

Ein menschliches Gehirn aber, das eigentliche Ziel des HBP, besteht aus mindestens 100 Millionen Neuronen. Um das Verhalten eines einzigen Neurons zu simulieren, ist heute die gesamte Rechenleistung eines Laptops nötig.

Das heisst, die Computer müssen noch viel leistungsfähiger werden: Schätzungen gehen davon aus, dass ein virtuelles menschliches Hirn über die tausendfache Leistung des grössten heute existierenden Supercomputers verfügen müsste. Das HBP will daher Hand in Hand mit den Computerherstellern arbeiten, um Rechenleistung, Energieverbrauch und Lüftung zu verbessern.

Bleibt man beim Vergleich mit einem Computer, ist zudem bemerkenswert, dass unser Gehirn fast ohne Heizung und mit dem Energieverbrauch einer kleinen Glühbirne immer noch um Welten besser ist als jede Maschine.

Warum das Ganze?

Das virtuelle Hirn soll daher nicht ein Monstrum werden, das Schach spielen oder ein Raumschiff steuern kann, wie das in Science-Fiction-Klassikern beschrieben worden ist.

«Es wird eher aussehen wie eine grosse Ansammlung von Magnetresonanz-Tomografie-Apparaten in einem Krankenhaus. Das Ziel ist nicht, ein Spielzeug zu entwickeln, mit dem man Spass haben kann», so Markram.

Sein Credo ist einfach: Die Medizin werde unsere Körper immer gesunder erhalten, doch niemand habe Lösungen für Hirnkrankheiten wie Parkinson, Alzheimer usw. anzubieten, die zwei Milliarden Menschen auf der ganzen Welt zu schaffen machten.

Indem man reale Situationen simuliere, dem virtuellen Hirn Medikamente oder neue virtuelle Moleküle verabreiche, aber auch, indem man es mit allem bisherigen und zukünftigen Wissen über seine biologische Zusammensetzung füttere, erhoffen sich die Leute vom HBP, aus ihrer Maschine das ultimative Werkzeug zum Verständnis des Hirns zu machen. Für Markram, nie um eine markige Antwort verlegen, steht das Projekt ganz einfach «im Interesse der Menschheit».

Eine weitere Koryphäe der Neurowissenschaften, Professor Pierre Magistretti, der ebenfalls an der EPFL den nationalen Forschungsschwerpunkt über die biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen leitet, spricht für seine Disziplinen von einer «Win-Win-Situation».

Und die Medizin soll nicht die einzige Disziplin sein, die vom Projekt profitieren könnte: Auch die Robotik (Roboter sollen das künstliche Hirn mit Empfindungen «füttern»), die Steuerung von Prothesen durch das Nervensystem und natürlich die Informatik sollen von den unglaublichen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns viel lernen können.

Gewissheit

Im Mai dieses Jahres haben US-Forscher ein umfangreiches Hirnforschungs-Projekt vorgestellt, das sie als «Destination Mond» zum Anfang des dritten Jahrtausends bezeichnet haben.

Hat Henry Markram Angst vor der Konkurrenz? «Überhaupt nicht», antwortet er trocken. «Ihr Zugang ist anders als unserer, und die Daten, die sie veröffentlichen werden, stehen der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung. Unsere Strategie ist global: nicht jeder in seiner Ecke. Wir werden Mittel finden, um zusammen zu arbeiten und ihren Resultaten zusätzlichen Wert hinzufügen zu können», sagt der Professor mit der ruhigen Gewissheit, dass er im Recht ist.

Die Schweiz nimmt seit 1999 als vollwertige Partnerin an den Forschungsrahmen-Programmen der EU teil.
 
Zurzeit läuft das 7. Europäische Forschungsrahmen-Programm, das für die Jahre 2007-2013 mit einem Gesamtbudget von 50,5 Milliarden Euro dotiert ist.
 
Es hat zum Ziel, die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der europäischen Industrie sowie deren internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
 
Gegen Ende 2011 wird die Europäische Kommission ihre offiziellen Vorschläge zu den Projekten vorlegen.
 
Diese werden anschliessend im Rat der Europäischen Union und im Europäischen Parlament beraten und verabschiedet.
 
Danach wird die Gesetzgebungsphase rund anderthalb Jahre in Anspruch nehmen. Die ersten offiziellen Ausschreibungen für die Projekte werden im Jahr 2013 erfolgen.

Geboren 1962 in Südafrika, Vater Engländer, Mutter Deutsch-Französin.

Bereits während seines Medizin- und Biologie-Studiums interessiert er sich für das Gehirn, dessen Krankheiten und die Informationsvermittlung im Hirn.

Die wissenschaftliche Karriere führt über Israel, die USA und Deutschland 2002 in die Schweiz.

Patrick Aebischer, Präsident der EPFL und auch er ein Neurowissenschafter, konnte Markram in jenem Moment für die EPFL überzeugen, als er kurz davor war, einen Vertrag mit dem prestigeträchtigen Massachusetts Institute of Technology zu unterzeichnen.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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