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Ein Schweizer mit eisernen Prinzipien entwickelte hochpräzise Messgeräte

Bertold Suhner
Bertold Suhner gründete die Metrohm AG, mit der er Erfolge und schwierige Zeiten durchlebte. Archiv Herbert Maeder, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

Mitten im Zweiten Weltkrieg gründet der Appenzeller Bertold Suhner die Metrohm AG in Herisau. Heute finden sich die Geräte der Firma in Labors auf der ganzen Welt – und sogar im All.

Fährt man mit der Appenzeller Bahn über das Glatttal-Viadukt von Wattwil nach Herisau, sticht ein gläsernes Prunkgebäude von imposanter Dimension ins Auge. Darin untergebracht: die Metrohm AG. Ein Unternehmen, das mit der Herstellung von chemischen Präzisions-Messgeräten jährlich über 400 Millionen Franken Umsatz macht – und dies, obwohl für den Gründer Bertold Suhner das profitgetriebene Streben nach Wachstum ein Tabu war.

So erzählt es Adrian Déteindre. Er war der Gefährte Suhners, dessen Zögling und Nachfolger. Mittlerweile ist der über Siebzigjährige im Ruhestand. Er ist es, der unser heutiges Bild auf Suhner prägt, denn Kinder hatte dieser keine, und Suhners Nachlass ist unauffindbar.

Wir treffen Déteindre im Sitzungszimmer im Hauptsitz der Firma. An der Wand hinter Déteindre prangt eine grosse Fotografie des Firmengründers Bertold Suhner. Sie zeigt ihn in seinem Garten sitzend, auf den Knien abgestützt – «seine typische Körperhaltung», sagt Déteindre. Die Geschichte des Gründers liegt der Firma auch heute noch am Herzen, ein Herr der Marketing-Abteilung ist anwesend, als wir in die Geschichte Suhners eintauchen.

Bertold Suhner
Dieses Bild von Bertold Suhner hängt im Sitzungszimmer im Hauptsitz der Firma. Metrohm AG

Das Haus Suhner

Die Familie Suhner, in welche Bertold Suhner am 5. August 1910 hineingeboren wurde, war von Unternehmern und innovativen Köpfen geprägt. Denn schon sein Grossvater Gottlieb Suhner baute erfolgreich sein eigenes Geschäft auf: die Firma Suhner & Co., welche besonders mit der Produktion von KabelnExterner Link erfolgreich wurde. Im Jahre 1906 übernahm der Sohn das Familiengeschäft: Bertold Suhner senior – der Vater des späteren Metrohm-Suhners.

Bertold Suhner junior wurde die Zukunft also in die Wiege gelegt. Um die unternehmerische Tradition der Familie weiterzuführen, besuchte der junge Bertold nach der Kantonsschule in Trogen die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich, wo er Maschinenbau studierte. Nach dem Studium zog es ihn für eine Weiterbildung nach England.

Im Schatten des älteren Bruders

In England bildete sich Bertold Suhner in der Hochfrequenztechnik aus und verliebte sich Hals über Kopf in die Engländerin Mabel Rose Watts. Daheim im Appenzell war Bertolds Familie jedoch grundsätzlich gegen eine Liaison mit einer Engländerin.

Trotzdem heiratete Bertold Suhner seine Mabel rasch. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, kehrte der damals 29-Jährige mit seiner Frau zurück in die Heimat. Dort leistete er Aktivdienst im Militär. Daneben arbeitete er in der Firma seines Vaters.

Im Familienunternehmen konnte er sein Wissen anwenden und baute eine Abteilung der Hochfrequenztechnik auf, welche heute noch besteht. Zur selben Zeit war ihm aber bereits klar, dass er vergebens hoffte, in die Fussstapfen seines Vaters zu treten. Denn in den Firmenstatuten war schon lange festgelegt, dass es nur einen Nachfolger geben werde: Gottlieb Suhner junior, der erstgeborene Sohn und ältere Bruder von Bertold.

Ansonsten befürchtete der Vater eine Splittung der Firmenaktien. Darum, und wegen einem anhaltenden Zwist mit seinem Bruder, trat Bertold Suhner Anfang der 1940er-Jahre aus dem familiären Geschäft aus. «Er wollte nicht der Knecht des eigenen Bruders sein», sagt Adrian Déteindre.

Die Geburtsstunde der Metrohm

Dann kam: Unabhängigkeit. Im Jahre 1943 gründete Bertold Suhner mit seinem Freund Willi Studer eine eigene Firma – die Metrohm. Was während dieser Gründungszeit geschah, erzählte Suhner zum 25-jährigen Firmenjubiläum. Das schriftliche Referat «Der Werdegang eines kleinen Unternehmens», legt Adrian Déteindre vor uns auf den Tisch.

Fabrikationsgebäude
Hier produzierten Suhner und Studer Radios und Oszillographen. Metrohm AG

«Mein Vater verhalf mir und Willi Studer mit einem Startkapital von 100’000 Franken», begann Suhner das Referat. Für eine Firmengründung sei dies eine bescheidene Menge Geld gewesen, dies zudem in einer Zeit, in der die Materialbeschaffung äusserst schwierig war.

«Es brauchte also ferner eine gute Portion Mut und Unternehmungslust, dazu der Glaube an die Absatzmöglichkeiten und vor allem einen uneingeschränkten Glaube an der Zukunft der Elektronik», erinnert er sich. «Doch wir stürzten uns ins Abenteuer und errichteten eine Werkstatt in einem leerstehenden Geschäft in Herisau.»

Dort produzierten Suhner und sein Partner Radios und Oszillographen, also Messgeräte für die Hochfrequenz- und Fernmeldetechnik. Schon während der Kriegszeit verkaufte die Metrohm bereits Produkte, denn die Geräte waren auf dem Schweizer Markt damals nicht erhältlich, da die Grenzen geschlossen waren.

«Doch es zeigte sich bald, dass wir uns mit den Radiohändlern eine damals wenig kaufkräftige Kundschaft ausgewählt hatten. Immer weitere Kreditaufnahmen bei der Bank trieben uns in immer mehr Verschuldungen.»

Werkstatt
Die Werkstatt, in der alles begann. Metrohm AG

Nach dem Krieg steht die Metrohm vor dem Ruin

Im Jahre 1945 waren alle froh um das Kriegsende. Doch der Metrohm bescherte dies zusätzlich zu den Schulden auch noch hohe Verluste, denn Radios und andere Geräte konnten nun billiger aus Amerika importiert werden.

Darum entschied sich Bertold Suhner, inspiriert von einer Bekanntschaft mit einem Chemiker, auf neue Produkte zu setzen, und zwar auf chemische Messgeräte für die Basler Industrie. Schon 1947 produzierte die Metrohm einen elektronischen pH-Meter und 1949 den ersten sogenannten Titrator mit dem Namen «Titriskop», ein Gerät, dass Substanz-Konzentrationen in einer Lösung misst.

Titriskop
Das «Titriskop» der Metrohm AG. Metrohm AG

Willi Studer war mit dieser Kursänderung jedoch nicht einverstanden. Seine Leidenschaft galt einzig und allein dem Radiogeschäft. Er stieg deshalb schon 1947 bei der Metrohm aus. Nur wenige Jahre vor dem Tod Suhners versuchte Adrian Déteindre ein Wiedersehen der beiden einstigen Freunde zu organisieren. Doch es klappte nicht. Studer und Suhner trafen sich nie wieder. Beide warteten darauf, dass der jeweils Andere den ersten Schritt mache.

Nach ihrem Zwist beschritten aber beide erfolgreiche Wege: Willi Studer gründete Studer Revox in ZürichExterner Link. Auch Bertold Suhner landete mit den Messgeräten für die chemische Analytik nach ein paar Jahren einen Erfolgstreffer.

Der Mensch Suhner und sein Patron-Dasein

Einem Firmenwachstum gegenüber hegte Bertold Suhner jedoch eine grundsätzliche Abneigung, denn er wollte eine familiäre und übersichtliche Firma beibehalten. Grosse Gesellschaften entsprachen nicht seiner Komfortzone, sagt Adrian Déteindre. Darum achtete Suhner bei der Wahl seiner Angestellten stets auf das Charakterkostüm eines Menschen, anstatt nur auf deren Fachkenntnisse.

«Es ist mir wichtiger, was ein Mitarbeiter in der Freizeit als Hobby betreibt, als was er für eine Schulbildung genossen hat oder was in seinen Zeugnissen steht», sagte Suhner in seinem Jubiläumsreferat. Denn Fachkenntnisse seien nutzlos in seinem Betrieb, wenn diese nicht mit menschlichen Qualitäten verbunden seien.

Prestigekämpfe sah er als gefährlich an. Ausserdem wolle er Befehle nicht erteilen, Hierarchien vermeiden, wie im Referat zu lesen ist. Durch die gründliche Auswahl seines Teams hatten viele Mitarbeitende ein vertrauensvolles Verhältnis – auch zu Bertold Suhner. Man nannte ihn liebevoll «den Bertel».

Obwohl ihm das Menschliche aber so am Herzen lag, blieb er gegenüber seinen Mitmenschen stets misstrauisch. Vielleicht versprühte Bertold Suhner deshalb kaum Wärme und Herzlichkeit – und suchte diese gemäss Adrian Déteindre auch nicht. Ganz im Gegenteil: Erzählte er einmal von seinem innersten Kummer oder enttäuschte ihn jemand, fühlte er sich fast schon in Schwäche ertappt und beendete das Verhältnis meist radikal.

Er galt als Hardliner, welcher an seinen Prinzipien festhielt. Konfrontationen scheute er nicht. «Freundschaften und auch Geschäftliches ging er stets mit einer gewissen Berechenbarkeit ein, weshalb er mit der Zeit nur noch für einen kleinen Vertrauenskreis zugänglich war», erzählt Déteindre.

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Das Triumvirat

Zwei seiner Mitarbeiter, sein direkter Cousin Hans Winzeler sowie Lorenz Kuhn, gehörten zu diesem engsten Freundeskreis. Kuhn, Winzeler und Suhner formierten sich zu einem Triumvirat: Alle besassen jeweils einen Drittel der Metrohm-Aktien, die Bertold Suhner ihnen überliess, solange sie bei der Metrohm zugehörig waren.

«Der 1,90 Meter grosse, grauhaarige Lorenz Kuhn war es, welcher in der Ostschweiz als Mister Metrohm galt», erinnert sich Déteindre. Im Hintergrund war es aber stets der kleingewachsene und leicht gebückte Gründer Bertold Suhner als Verwaltungsrats-Präsident, welcher das letzte Wort hatte.

Manchmal habe er sogar seine Entscheidungen getroffen, ohne eine Sitzung einzuberufen. «Denn wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn nur schwer davon abbringen – und wenn, dann nur mit stichhaltigen Argumenten.»

Belegschaft einer kleinen Fabrikation
Die Originalbelegschaft der Metrohm AG. Metrohm AG

Höhenflüge und depressive Phasen

Der Einstieg der Metrohm in die Entwicklung von Präzisions-Messgeräten war äusserst profitabel: In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre war die Metrohm von allen Schulden befreit und gleich zwei Produkte verhalfen der Firma zu Aufschwung: Eine spezifische Elektrode und eine sogenannte Kolbenbürette zur Messung von Flüssigkeitsvolumen.

Doch schon drei Jahre später, 1956, stürzte die Metrohm mitten in der Hochkonjunktur in eine Krise, wie ein damaliger Krisenbericht von Suhner zeigt. Er traf Massnahmen: Sparsamkeit und Rationalisierung waren zwei davon. Bertold Suhner musste also Leute durch Maschinen ersetzen.

Im Jahre 1959 folgte dann die erste Registrierung des Metrohm-Titrators «Potentiograph». Suhner wollte die Produkte stets regional produzieren, was die Metrohm auch heute noch tut. Tochterfirmen vermied er seit einem verunglückten Versuch in der Westschweiz.

Doch gerade deshalb waren die geschäftlichen Höhenflüge auch von Verschuldungen geprägt, denn die Produktion in der Schweiz war sehr teuer. Suhner war in diesen Tief-Phasen der Firma mehrmals kurz davor aufzugeben. Auch seine Ehe ging in die Brüche und Bertold Suhner blieb kinderlos – eine Nachfolge für die Metrohm blieb also aus.

Der gute Geist der Metrohm

Doch jemand hielt ihn immer wieder bei der Stange: Hedi Inhelder. Sie galt als der gute Geist der Metrohm, da sie in den schwierigen Zeiten Bertold Suhner stets den Rücken stärkte und ihn motivierte, weiterzumachen.

Hedi war seine Sekretärin und Lebensvertraute – die beiden verband eine platonische Liebe. Als sie im Jahre 1978 plötzlich und früh verstarb, zog sich Bertold immer mehr zurück – ab 1981 auch aus der Metrohm. Von da an war sein Lebensbegleiter sein Hund, ein Mittelschnauzer. Ab 1983 übernahm Adrian Déteindre die Firma als Geschäftsführer.

Der Naturschutz als eine Herzensangelegenheit

Bertold Suhner war ein überzeugter Liberaler sowie leidenschaftlicher Naturschützer – und dabei kannte er keine Grenzen. Deshalb gründete er eine Stiftung, die er dem Natur-, Tier- und Landschaftsschutz widmete.

Falls jemand hinsichtlich dem Naturschutz anderer Meinung war, beendete er solche Verhältnisse radikal und wurde ungehalten. Zum Beispiel wegen der Abbildung von toten Hirschen, welche die Appenzeller Zeitung gleich zweimal in einer Woche während der Jagdzeit veröffentlichte.

Der Chefredaktor Paul Müller beschreibt in den Appenzeller Jahrbüchern Bertold Suhners schroffes Auftreten in seinem Büro. Ausserdem zitiert er darin Suhner in puncto Weitsicht: «Nur Banausen stellen keine Umweltfragen und kennen keine Angst vor der möglichen Zerstörung der Erde.» Im Alter wurde Suhner noch kompromissloser, weshalb viele Freundschaften in die Brüche gingen.

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Sparsam beim einen, grosszügig beim anderen

Obwohl Bertold Suhner ein Asket war und auch keinen Wert auf elegante und neue Kleidung legte, war er bezüglich seiner Hobbys alles andere als sparsam. In Sachen Technik war ihm nichts zu schade: Er besass einen Sportwagen, ein Motorflugzeug und lebte sich künstlerisch mit Fotografieren, Filmemachen, dem Orgelspielen oder der Malerei aus.

Ausserdem war er sportbegeistert und ein leidenschaftlicher Bergsteiger und Skifahrer. Jeder Freizeitaktivität ging er bis ins letzte Detail nach. Doch seine künstlerischen Werke waren ihm nie perfekt genug, und war seine Faszination in einem jeweiligen Gebiet gesättigt, liess er kurzerhand davon ab.

Ausser bei der Mineralogie. Als er im Ruhestand die Begeisterung hierfür entdeckte, verfolgte er dies bis zu einer Doktorarbeit und promovierte im Alter von 74 Jahren in der Infrarot-Spektroskopie an der Universität Basel.

Die Lösung des Nachfolgeproblems

Eines Tages wurde das Atmen schwer, denn er erkrankte an der Lunge. Suhner war bis dahin ein leidenschaftlicher Raucher gewesen. Was mit seiner Metrohm nach seinem Tod passieren würde, war bis zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Bertold Suhner befürchtete die Übernahme durch einen grösseren Konzern.

Um dies zu verhindern, gründeten Suhner und seine beiden Mitbesitzer Hans Winzeler und Lorenz Kuhn 1982 die Metrohm Stiftung und brachten ihre Drittel darin ein. Somit besass die Stiftung von da an alle Aktien, sodass diese auch künftig unabhängig und ausserrhodisch bleibt.

Und auch das Nachfolgeproblem wurde gelöst: Bertold Suhner übergab alle operativen Tätigkeiten in die Hände des neuen Geschäftsführers Adrian Déteindre. Er selbst blieb aber bis zu seinem Tod im Jahre 1988 Präsident des Verwaltungsrats.

Seine Lungenerkrankung entwickelte sich zum Lungenkrebs, welcher sich im ganzen Körper ausbreitete. Die letzten drei Monate seines Lebens verbachte Bertold Suhner daheim in Herisau im Bett und wollte sich weder operieren lassen noch ins Spital. Jede Art von Verhätschelung lehnte er ab. Er starb wie er gelebt hatte: Ohne Rummel.

Sein Erbe aber blieb ein Erfolg: Geräte von Metrohm sind von einer Forschungsstation in der Antarktis bis in den Weltraum auf der Raumstation ISS überall zu finden. Ausserdem wurden die Geräte auch immer präziser. Mittlerweile so genau, dass man damit von einem Stoff ein Teilchen unter einer Milliarde anderer feststellen könnte – dies entspricht etwa einem Appenzeller in ganz China.

Dieser Artikel wurde am 21. Juli 2021 auf Higgs.ch veröffentlichtExterner Link, dem ersten unabhängigen Magazin für Wissen in der Schweiz. SWI swissinfo.ch veröffentlicht Beiträge von Higgs in loser Folge.

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