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Ein Tunnel, der Europa zusammenführt

François Hollande, Angela Merkel und Bundespräsident Johann Schneider-Ammann nach ihrer Fahrt durch den Gotthard-Basistunnel beim Südportal. Reuters

Ein Schweizer Werk der direkten Demokratie rückt Europa näher zusammen. Das ist der Tenor der Kommentare in den Schweizer Zeitungen am Tag nach der historischen Eröffnungsfeier für den 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnel, zentraler Teil der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat).

«Dem Balsam müssen nun Taten folgen», titelt die Aargauer Zeitung. Des Lobes voll waren an diesem historischen Tag die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Österreichs. «Nach Jahren des eher schwierigen Verhältnisses zu Europa waren die präsidialen Hymnen Balsam auf unsere Schweizer Seelen.»

Tatsächlich sei der neue Gotthard-Basistunnel «ein mutiges und zukunftsweisendes Bauwerk. Unsere direkte Demokratie hat einmal mehr bewiesen, wozu sie fähig ist; Entscheide dauern vielleicht etwas länger, aber das Resultat überzeugt». Es sein ein Tunnel geworden, der ganz Europa nütze, weil er «einen wesentlichen Teil» des Transitverkehrs auf der Achse zwischen Norden und Süden schlucken werde.

«Die Staatschefs von Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich haben ein starkes Zeichen gesetzt, indem sie gestern in die Schweiz reisten und im Eröffnungszug durch den neuen Gotthardtunnel mitfuhren. Sie haben deutliche Worte verwendet, um die Leistung der Schweiz zu würdigen. Schön und gut – doch Festreden zu halten, ist das eine, eine Partnerschaft zu pflegen, das andere. Der erste Teil ist erledigt, der zweite noch nicht», so die Aargauer Zeitung.

Die Schweiz habe den neuen Tunnel mit viel Selbstbewusstsein eröffnet. «Mit demselben Selbstbewusstsein sollte sie nun auch ihre Interessen gegenüber Europa wahrnehmen – wenn es um die Zufahrtsstrecken zum neuen Tunnel geht, aber auch, wenn es um unsere bilateralen Beziehungen und um die Regelung der Zuwanderung geht.»

Deutschland und Italien im Zugzwang

Die (noch fehlenden) Zufahrtsstrecken in Deutschland und Italien wurden auch am Eröffnungstag oft erwähnt. Merkel, Hollande, Renzi und Co. hätten der der Schweiz Respekt gezollt, «übten sich gar – zu Recht – in Selbstkritik», so die Neue Luzerner Zeitung.

«Denn die viel gepriesene Leistungsfähigkeit der Neat ist noch Theorie. Dies so lange, bis die bahntechnischen Zufahrten aus Norden und Süden ausgebaut sind. Da wartet noch viel Arbeit auf Bundesrat und Diplomaten. Sie müssen die von Nachbarstaaten und EU gemachten Versprechungen einfordern, unmissverständlicher denn je. Die Schweiz ist im Vorteil: Sie hat den in den Berg getriebenen Beleg für Zuverlässigkeit in der Hand.»

Schliesslich sei der neue Gotthardtunnel «nicht nur eine Meisterleistung schweizerischer Präzisions- und Ingenieurskunst. Er ist auch ein direktdemokratisches Meisterstück, Ausdruck von Innovationsfreude der Bürgerinnen und Bürger».

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Auch der Corriere del Ticino kommt in seinem Editorial auf die schwierigen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu sprechen. «In diesem Fall beherrscht die Tendenz zur Abschottung einen Teil unserer Bevölkerung. Im Tessin machen sie einen grossen Teil aus, wie mehrere Abstimmungen gezeigt haben. Gestern war die EU in Pollegio und Rynächt nicht offiziell vertreten. Stattdessen war es Europa. Und die Schweiz ist ein Teil Europas.»

Während anderswo in Europa neue Mauern entstünden, sei im Herzen Europas der längste Eisenbahntunnel der Welt eröffnet worden.» Schliesslich sei «das hart arbeitende Europa der Tunnels dem Europa des Stacheldrahts vorzuziehen».

«Zeuge einer anderen Zeit»

Vor allem die moderne Ingenieurskunst sei am 1. Juni gefeiert worden, meint das St. Galler Tagblatt. «Politisch dagegen ist dieser Tunnel ein Zeuge aus einer anderen Zeit, beschlossen im Grundsatz noch vor dem Nein zum EWR am 6. Dezember 1992. Zu einer Zeit also, als die Integration dieses Landes in ein europäisches Projekt politisch möglich und vielen erstrebenswert erschien.»

Doch das sei lange her. «Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet jetzt, da das Bauwerk seinen Nutzen entfalten kann, die Frage nach dem Verhältnis zur EU in neuer Schärfe stellt. Immerhin: Wer 57 Kilometer Fels durchbohren kann, der sollte auch hierauf eine Antwort finden.»

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Wo bleibt der Alpenschutz?

Etwas kritischer gibt sich der Kommentator der Südostschweiz unter dem Titel «Neu, lang, leer». Nach wie vor erfolge der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze viel zu häufig auf der Strasse: «650’000 Lastwagen dürfen ab 2018/2019 die Schweiz jährlich noch durchqueren, gut eine Million sind es derzeit.» Schliesslich habe das Stimmvolk 1994 den Alpenschutz-Artikel angenommen, der diese Limitierung fordere.

«Die Neat – gestern feierlich eröffnet, frenetisch gefeiert im In- und Ausland – könnte den nötigen Schub liefern. 50 Millionen Tonnen Güter könnten je Jahr durch den rekordlangen Tunnel befördert werden, genug, um mehr als die gesamte Gütermenge zu transportieren, die heute die Schweiz auf Strasse und Schiene gesamthaft durchquert. Den Tatbeweis wird die Neat allerdings nie antreten können – zu gewichtig ist die Schweizer Strassenlobby.»

Was 22 Jahre nach der Annahme des Alpenschutz-Artikels bleibe, «ist deshalb Freude über eine ausserordentliche Schweizer Ingenieursleistung – und ein schaler Beigeschmack beim Gedanken daran, dass die teure Neat ihr Geld vielleicht nie wert sein wird».

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Der neue Tunnel sei zuallererst ein Erfolgssymbol für die Schweiz, meinen La Liberté und Journal du Jura. «Ein technologischer und wissenschaftlicher Exploit, beweist das Bauwerk doch die Kompetenzen und das Know-how unserer Hochschulen, Ingenieure und der hiesigen Industrie. Es ist ein Tunnel der Ehre des Landes, doch dürfen wir die Tatsache nicht unterschlagen, dass über 80% der Arbeiter Ausländer waren.»

Tessin wird sich verändern

Mit der Eröffnung des Tunnels sei auch das Tessin «nicht mehr gleich», betont La Regione Ticino. Der Tunnel werde «unsere Widersprüche explodieren lassen, hin- und hergerissen zwischen Öffnung und Abschottung».

«Bereiten wir also unsere Kinder darauf vor, sich der Zukunft zu stellen, wie man es mit dem Tunnel getan hat: Mit einer intelligenten Öffnung, um die neuen Herausforderungen zu meistern, und nicht mit der Errichtung alter Grenzen oder Mauern im Kopf.»

«Ach, wir Schweizer», seufzen Der Bund und der Tages-Anzeiger und liefern ein typisches Muster schweizerischen Verhaltens: «Auf dem Tisch lag sein Handy, und der Mann, einer der tausend ersten Passagiere durch den neuen Gotthardtunnel, meinte zum Reporter: ‹Das wird jetzt gleich getestet. Das wäre ja noch schöner, wenn man in einem so teuren Bauwerk keinen Empfang hätte!'»

Und schliesslich erwähnt der Kommentator auch die Tränen der Verkehrsministerin Doris Leuthard im Interview mit swissinfo.ch: «Es braucht einen Tunnel, um eine Schweizer Politikerin zu rühren. Und Leuthard hatte ja Recht. All die Worte über den ‹historischen Tag›, das ‹Jahrhundertbauwerk› und den ‹Stolz› nutzten sich in der Wiederholung etwas ab. Aber sie bleiben wahr: Das war ein grosser Tag für die Schweiz. Es war ein Schweizer Tag.»


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