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Ein «Wikinger-Gen» im Kampf gegen Aids

Viren greifen eines der weissen Blutkörperchen an, die dem Körper als Immunabwehr dienen. medicalpicture

Eine Spontanmutation, die sich vor 5000 Jahren ereignete, schützt die Nachfahren bis heute vor Aids. Die Spur führt bis zu den Wikingern zurück. Weltweit forschen zahlreiche Labors an dieser Spontanmutation - auch in der Schweiz.

Im 3. Jahrtausend vor Christus, lange bevor in Ägypten und Mesopotamien die urbane Zivilisation und die Schrift entstanden, rafft irgendwo zwischen Europa und Zentralasien eine Epidemie ein Nomadenvolk dahin.

Um welche Krankheit handelte es sich da? Man hat es vergessen. Was man hingegen weiss, ist, dass einige der Überlebenden dank einer genetischen Veränderung überlebten.

Diese wurde auch auf die Nachfahren vererbt, die sich später im Nord- und Ostseeraum niederliessen: die Wikinger.

Diese genetische Veränderung findet sich heute in praktisch allen Gegenden, wo es Nachfahren der kriegerischen Wikinger gibt, so in Skandinavien, im Baltikum, in der Ukraine und auf Sizilien.

Gar nicht nachzuweisen ist sie etwa bei der Bevölkerung von West- und Südafrika oder Japan.

Verschlossene Türen für Virus

Wie schützt eine Genveränderung einen Virus? Um in die weissen Globuli einzudringen, muss sich das HIV-Virus mit zwei Molekülen vereinen, die sich auf der Membran der Blutzellen befinden: CD4 und CCR5. Bei den Wikingern fehlt eine dieser beiden Genarten (Allelen), welche die Produktion des Proteins CCR5 ermöglichen.

Das Resultat: Bei einer Person, die keine der beiden Genarten besitzt, ist die Wahrscheinlichkeit 95% grösser, dass sie nicht vom HIV-Virus infiziert wird. Besitzt die Person eine der beiden Genarten, ist der Schutz kleiner, doch immer noch nachweisbar.

Infiziert sich eine Person trotzdem mit dem HIV-Virus (denn das Virus dringt nicht nur in die weissen Blutzellen ein, es kann sogar über andere Rezeptoren eindringen), wird die Krankheit deutlich weniger schlimm verlaufen als bei Menschen mit den beiden Genarten. Auch bei Menschen, die nur eine dieser beiden Allele besitzen, fällt der Krankheitsverlauf geringer aus, allerding weniger deutlich.

Erster von Aids geheilter Mensch

Diese Spontanmutation, die vor rund 5000 Jahren auftrat, wurde an Millionen von Menschen weitergegeben. Sie erklärt, warum sich in nordischen Ländern am meisten Personen finden, die sehr lange mit dem HIV-Virus leben können.

Im Jahr 2007 gab eine deutsche Forschergruppe die Heilung einer HIV-infizierten Person bekannt. «Meines Wissens ist es die erste Heilung eines Aids-kranken Menschen durch die moderne Medizin. Es bestehen zwar zahlreiche gute Behandlungen, doch diese führen nicht zur Heilung», sagt Heinz Krause, Leiter des Labors für experimentelle Zelltherapie am Universitätsspital Genf (HUG).

Die deutschen Ärzte pflanzten dem Mann Knochenmark eines Patienten ein, der kein CCR5-Allel aufweist. Das Knochenmark ist das wichtigste blutbildende Organ des Menschen. Wenn die daraus hervorgehenden Blutkörperchen ohne dieses Protein hergestellt werden, besteht keine Eintrittsmöglichkeit für den HIV-Virus.

Transplantation ohne Chirurg

Die Knochenmark-Transplantation ist ein einfacher Eingriff, es braucht dazu keinen chirurgischen Eingriff, sondern lediglich eine intravenöse Injektion. Einige Hundert Stammzellen von hoher Qualität würden dabei genügen, wie Karl-Heinz Krause erklärt. Denn Knochenmark, Blutkörperchen und Blutblättchen erneuerten sich ständig.

Die Chancen, einen Spender zu finden, dessen Knochenmark kein CCR5-Allel aufweist und mit jenem des Empfängers übereinstimmt, ist etwa gleich hoch, wie im Lotto zu gewinnen. «Ein therapeutisches Konzept kann nicht auf einer Lotterie basieren», so Karl-Heinz Krause.

Von daher kommt die Idee der Knochenmark-Transplantation am eigenen Körper. Dabei wird dem Patienten von seinem eigenen Knochenmark entnommen und eine gentechnische Behandlung vorgenommen, um das CCR5-Allel zu unterdrücken.

Danach wird wieder eine intravenöse Injektion vorgenommen. Auf diese Weise werden Abwehr-Reaktionen verhindert. Diese Methode verfolgt das Labor von Karl-Heinz Krause.

Natürlich ist das CCR5-Allel nicht einfach sinnlos. «Es spielt in der immunen Abwehr eine Rolle, und es ist bekannt, dass Menschen, die kein CCR5-Allel besitzen, bei gewissen Infektionen einen schwereren Krankheitsverlauf haben», so Karl-Heinz Krause.

Als Beispiel einer solchen Infektion nennt Karl-Heinz Kraus etwa das Nil-Fieber. Doch für ihn ist klar: «Im Vergleich mit dem HIV-Virus fallen diese Betrachtungen weniger ins Gewicht.»

«Auf der richtigen Spur»

Karl-Heinz Krause und sein Team sind im Moment daran, ihre Forschungsarbeiten abzuschliessen. Danach werden Tierversuche und Tests an Menschen folgen, um möglichst verlässliche Daten zu verfügen.

Eine einzige Heilung genüge natürlich nicht als Erfolgsbeweis, sagt Karl-Heinz Krause. Doch es gebe zahlreiche Hinweise dafür, dass sie «auf der richtigen Spur» seien. Krause ist mit seiner Überzeugung nicht allein: Zahlreiche Labors arbeiten bereits an der Unterdrückung des CCR5-Allels.

Auch in reichen Ländern ist die Aids-Epidemie immer noch präsent: In Nordamerika und in Westeuropa steckten sich im vergangenen Jahr 100’000 Menschen mit dem HI-Virus an, wie das Aids-Programm der Vereinten Nationen (UNAIDS) am Dienstag in Genf erklärte. 2001 waren es 97’000.

2009 starben laut UNO in diesen Ländern 35’000 Menschen an der Immunschwäche-Krankheit, lediglich 2000 weniger als acht Jahre zuvor.

Die Zahl der Menschen, die mit dem tödlichen Virus leben, sei zwischen 2001 und 2009 um 30% auf 2,3 Millionen gestiegen.

Nordamerika zählt 1,5 Millionen Erkrankte, 2009 gab es 70’000 Neuinfektionen und 26’000 Menschen starben an dem HI-Virus.

In West- und Zentraleuropa lebten im vergangenen Jahr 820’000 Infizierte, 31’000 Menschen steckten sich neu an und 8500 starben.

In der Schweiz wurden gemäss Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) 642 Menschen positiv auf das Virus getestet; ein Jahr zuvor belief sich die Zahl der Neuinfektionen auf 788.

Besonders unter den Homosexuellen sei die Epidemie wieder aufgeflammt, heisst es im AIDS-Weltbericht.

Daten aus 23 europäischen Ländern zeigten, dass die Zahl der Infektionen unter homosexuellen Männern zwischen 2000 und 2006 um 86% gestiegen sei.

Die Geschlechter sind unterschiedlich von der Krankheit betroffen: Männer stecken sich öfters mit dem tödlichen Virus an als Frauen.

Nur 26% der Erkrankten in Nordamerika waren 2009 weiblich, in Europa waren es 29%.

(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

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