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EU-Brüskierung: Schweizer Forschung in der Schwebe

Die Schweizer Forschung steht unter Druck. snf.ch

Die Schweiz gehört bei der Forschung in Europa nicht mehr zur "Champions League". Nach dem EU-Entscheid, Schweizer Institutionen von der Finanzierung im Rahmen des EU-Flaggschiffprogramms für Forschung vorläufig auszuschliessen, sagen Forschende gegenüber swissinfo.ch, ihre Zukunft sei unsicher.

Marc Donath war im Begriff, seinen Antrag zur Finanzierung einer umfassenden Diabetes-Studie abzuschicken, die er mit 22 Zentren in Europa und den USA hatte koordinieren wollen, als er erfuhr, dass die Zukunft seines Projekts im Umfang von 5,9 Mio. Euro (7,2 Mio. Franken) ungewiss geworden war.

«Ich habe ein Gesuch eingereicht, aber ich bin nicht sicher, ob mein gemeinschaftliches Forschungsprojekt bewilligt werden wird», erklärte der Chefarzt des Basler Universitätsspitals.

«Es handelt sich dabei genau um jene Art Arbeit, die man ohne internationale Zusammenarbeit nicht tun kann, denn in einem Land von der Grösse der Schweiz können wir nie genügend Patienten für eine derart grosse Studie einbinden. Und es gibt keine andere einzelne Institution, mit der ein solch grosses Projekt finanziert werden könnte.»

Die Schweiz bezeichnet ihre Teilnahme an den kompetitiven EU-Rahmenforschungsprogrammen als eine der treibenden Kräfte hinter ihren Errungenschaften in Forschung und Innovation. Forschende an Schweizer Institutionen waren sehr erfolgreich bei der Sicherung von EU-Finanzmitteln für ihre wissenschaftlichen Projekte: Zwischen 2007 und 2013 (siehe Infobox) waren es geschätzte 1,7 Mrd. Euro (2,1 Mrd. Franken).

Die Schweizer Forschenden dürften am Dienstag gespannt auf Brüssel blicken: Eine EU-Arbeitsgruppe befasst sich mit dem Kroatien-Dossier. Die Hoffnung der Forschenden ist gross, dass sich etwas bewegt. Denn seit die Schweiz die Unterzeichnung des Personenfreizügigkeits-Protokolls für Kroatien ablehnte, sind die Verhandlungen zu «Horizon 2020» blockiert.

  

Der Schweiz läuft die Zeit davon, denn bis Ende Mai muss ein Abkommen auf dem Tisch liegen – gleichgültig, ob es sich dabei um eine Voll- oder Teilassoziierung handelt – damit Schweizer Forschende 2014 noch privilegiert am EU-Forschungsprogramm teilnehmen können. Für gewisse Projekte ist es bereits zu spät: Die Bewerbungsfristen sind abgelaufen.

  

Kann das Kroatien-Problem bis Ende Mai nicht gelöst werden, was angesichts der kurzen Zeit wahrscheinlich ist, wird die Schweiz versuchen müssen, für «Horizon 2020» wenigstens eine Lösung für 2015 hinzubekommen.

Spätestens aber 2017 – so lange hat der Bund Zeit, die Zuwanderungs-Initiative umzusetzen – wird sich zeigen, wie es zwischen der Schweiz und der EU weiter geht. Wird eine Assoziierung an das EU-Forschungsprogramm künftig nicht mehr möglich sein, muss eine Alternative gefunden werden.

Die Frage, ob an einem Plan B gearbeitet wird, lässt das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation unbeantwortet: «Erklärtes Ziel bleibt die vollständige Assoziierung an ‹Horizon 2020› zum frühestmöglichen Zeitpunkt», heisst es nur.

(Quelle: sda)

Anti-Immigrations-Initiative

Doch all dies geriet nach der am 9. Februar angenommenen Initiative «Gegen Masseneinwanderung» aus dem Lot, als der Europäische Forschungsrat die Schweiz als assoziiertes Mitglied ausschloss, die Zusammenarbeit zwischen Forschern von Schweizer Institutionen und deren europäischen Partnern suspendierte und einen Stopp für weitere Finanzierungen im Rahmen des Forschungsprogramms Horizon 2020 verfügte.

Mit Unterstützung des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation ergriff der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) rasch Übergangsmassnahmen, und bietet den Forschenden temporären Ersatz für die prestigeträchtigen «Starting» und «Consolidator Grants» des Europäischen Forschungsrats (ERC) an.

«Die hohe Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit und die Internationalität

der Forschung in der Schweiz muss durch spezifische Massnahmen gesichert werden, bis eine neue politische Vereinbarung mit der EU erreicht worden ist», erklärte der SNF. Dank der raschen Reaktion können viele beunruhigte Forschende weitermachen – vorerst.

«Notlösung»

Martin Vetterli, Forschungsratspräsident des SNF, warnte aber, dass diese Übergangsmassnahmen nur eine befristete Notlösung für die unmittelbare Situation seien, und der «fehlende internationale Wettbewerb mittel- und längerfristig unmöglich ersetzt werden» könne.

Horizon 2020 ist das grösste Forschungs- und Innovationsprogramm, das es in Europa je gab – mit Fördermitteln von fast 80 Mrd. Euro zwischen 2014 und 2020. Ziel des EU-Rahmenprogramms Forschung und Innovation ist es, die Konkurrenzfähigkeit Europas sicherzustellen, Innovationsbarrieren abzubauen und öffentlichen und privaten Sektoren die Zusammenarbeit für die Umsetzung innovativer Ideen zu erleichtern.

Nach Angaben von Laure Ognois, der Leiterin für Forschung der Universität Genf, hatten zwischen 2007 und 2013 etwa 3900 Forschende aus der Schweiz am vorangehenden EU-Rahmenprogramm teilgenommen. Sie hatten 1,7 Mrd. Euro erhalten. 70% davon gingen an Forschungsinstitutionen, 30% in die Industrie und an kleine und mittlere Unternehmen (KMU).

Gemäss einer Schätzung der Schweizer Niederlassung von Ernst & Young sind kleine Biotech-Firmen vom EU-Entscheid am stärksten betroffen. Jürg Zürcher, Biotech-Experte bei Ernst & Young, erklärte gegenüber dem Tages-Anzeiger, bei kleinen Firmen könne der Beitrag der EU bis zu 50% des Forschungsbudgets ausmachen.

Viele Antragssteller bleiben aber verunsichert. Ihre Zeitpläne verzögern sich etwa wegen knapper gewordenen Finanzmittel, was ihre Konkurrenzfähigkeit einschränkt. Im schlimmsten Fall müssen sie ihre Projekte sogar ganz verschrotten. Doch der härteste Schlag ist, dass die EU-Partner die Schweiz wieder als «Drittland» betrachten – so wie andere, nicht-europäische Staaten wie Japan oder die USA, was die Zusammenarbeit viel schwieriger macht.

«Der SNF mag zwar eine Auffanglösung für die Finanzierung zur Verfügung gestellt haben, aber wir sind nicht mehr länger Teil des Wettbewerbs», sagte Olivier Küttel, Leiter öffentliche europäische Angelegenheiten an der ETH Lausanne (EPFL).

«Wir sind nicht mehr in der Champions League», erklärte er, und zog eine Analogie zwischen Forschenden in der Schweiz und englischen Fussball-Teams, die nach dem Desaster im Heysel-Stadion 1985 von europäischen Wettbewerben ausgeschlossen worden waren.

Brain drain

In einer Erklärung vom 11. April sagte der für Forschung zuständige Bundesrat Johann Schneider-Amman, die «volle Assoziierung der Schweiz an Horizon 2020» bleibe für die Regierung «das vordringliche Ziel».

«Wenn die Politiker nicht bald eine Lösung finden, werden Schweizer Forschungspartner bald einmal als Risiko betrachtet werden, und es wird zu einem Brain-Drain an Schweizer Universitäten kommen», warnte Laure Ognois, Leiterin der Abteilung Forschung der Universität Genf. Der Ruf und das Bild der Schweizer Forschung wie auch das Vertrauen von Forschenden in das Schweizer System würde damit «erheblich beeinträchtigt».

Seit dem Entscheid der EU hätten vier von 12 jungen Forschenden, die einen ERC-Zuschuss beantragen wollten, «sie verkörpern die Exzellenz von heute und morgen», die Universität Genf schon verlassen, sagte sie.

Dennoch, als Reaktion auf das Backup-Programm der Regierung sind beim SNF 145 Gesuche für die 1,5-Millionen-Franken Starting Grants eingegangen. Der beantragte Gesamtbetrag beläuft sich auf 219 Millionen Franken. Die Nachfrage lag auf dem Niveau der 131 Gesuche, die 2013 beim ERC aus der Schweiz eingereicht worden waren, wie der SNF sagte.

Bei der Sicherung eines ERC-Zuschusses geht es jedoch nicht nur um Geld (die Zuschüsse können pro Antrag bis 2,5 Mio. Euro betragen). Sie sind auch Auszeichnung, Trophäe oder Etikett. Vor allem für junge Forscherinnen und Forscher sei eine ERC-Förderung für die Entwicklung der Karriere von Bedeutung, erklärte Küttel.

Schweizer Institutionen können nach wie vor bei Horizon 2020 mitmachen, von den wichtigsten Arten der Fördermittel bleiben sie aber ausgeschlossen, sie können auch nicht mehr Einsitz nehmen in  strategischen wissenschaftlichen Komitees und Expertengruppen und werden damit nicht mehr mitreden können, wenn es um die Zukunft der europäischen Wissenschaftsprogramme geht.

Forschende von Schweizer Institutionen können keine Gesuche mehr stellen für die so genannten Starting, Consolidator und Advanced Grants des Europäischen Forschungsrates (ERC). Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) springt für gewisse Zuschüsse mit einem temporären Ersatz in die Bresche. Von den bereits eingereichten Gesuchen kommen 88% von Forschenden, die derzeit an einer Forschungsinstitution in der Schweiz arbeiten. Von diesen sind 36% Schweizer Staatsangehörige. «Dies reflektiert die sehr internationale Natur unserer Forschungszentren», erklärte der SNF.  

ERC-Zuschüsse sind nach den Zuschüssen des SNF die zweigrösste Finanzierungsquelle für Forschende in der Schweiz. Zwischen 2007 und 2013 beliefen sich die Beiträge auf insgesamt 500 Mio. Franken. Die Zuschüsse der EU sind mobil, das bedeutet, dass Forschende an ein anderes europäisches Forschungsinstitut ziehen können und ihre Zuschüsse mitnehmen können.

Seit dem Entscheid der EU werden Forschende an Schweizer Institutionen von ihren europäischen Partnern zunehmend als Risikofaktor betrachtet, solange die Finanzierung gemeinschaftlicher Projekte nicht durch die Schweiz garantiert wird. Deshalb wurden zum Beispiel vier Professoren der Universität Genf schon von europäischen Konsortien ausgeschlossen, wie die Universität erklärte.

Schock und Frustration

Dennis Gillingham, Chemieprofessor an der Universität Basel, dessen Forschung sich mit der Regulierung genetischer Information befasst, hatte damit gerechnet, dass ihm ein ERC-Zuschuss Türen öffnen würde. Seine erste Reaktion auf die Nachricht war Schock und Frustration, denn er ist einer der Forscher, der die Gelegenheit just verpasst hatte, sich innerhalb von sieben Jahren nach seinem Doktorabschluss um einen Starting Grant beim ERC zu bewerben.

«Das mit diesen Zuschüssen verbundene Prestige machte sie zu einem wichtigen Meilenstein in Bezug auf eine Festanstellung an europäischen Universitäten», erklärte der kanadische Staatsangehörige. Obschon er sich in den kommenden Jahren für andere EU-Zuschüsse weiterhin bewerben kann, werden andere Gesuchsteller ihm gegenüber einen Vorteil haben.

«Das war meine letzte Chance, bei der ERC ein Gesuch für einen Zuschuss am Anfang meiner Karriere einzureichen», sagte Gillingham. «Für den Starter Grant war ich ein grosser Fisch in einem kleinen Teich, ab jetzt werde ich ein kleiner Fisch in einem grossen Teich mit viel schärferer Konkurrenz sein.»

Wie viele andere, die aus dem Ausland gekommen sind, regen sich bei Gillingham Zweifel, ob die Schweiz das Paradies für Spitzenforschung bleiben wird, das sie heute dank Unterstützung durch die Regierung, Mechanismen zur Kommerzialisierung neuer Entdeckungen und der Nähe zur Pharmaindustrie ist. «Wenn einem jeden Moment der Teppich unter den Füssen weggezogen werden kann, werden die besten Talente anderswohin gehen.»

Diese Einschätzung teilt Christian Sengstag vom Vizerektorat Forschung der Universität Basel. «Die Schweiz wird für Forschende aus dem Ausland weniger attraktiv werden», warnt er. «Topkandidaten werden es sich zweimal überlegen, bevor sie eine Stellle in der Schweiz annehmen und auf eine wichtige Finanzierungsquelle einer Drittpartei verzichten.»

Human Brain Project

Betroffen vom Entscheid der EU sind nur Gesuche, die im Frühjahr 2014 eingereicht werden, nicht Projekte, die schon Fördermittel von der EU erhalten. Daher ist auch die Finanzierung des Human-Brain-Flaggschiffprojekts bis 2016 sichergestellt. Doch wie sieht es mit der Zukunft des Projekts aus?

«Wir sind besorgt», erklärte Projektleiter Henry Markram kürzlich. «Horizon 2020 ist ein Schlüsselelement der Finanzierung für das Human Brain-Projekt. Wir sind zurzeit daran, aufwändigere Pläne für Horizon 2020 zu erstellen. Inmitten dieses Prozesses besteht nun Unsicherheit darüber, ob die Finanzierung weitergehen wird.»

Es wäre keine Option, das Projekt aus der Schweiz zu verlegen, sagte er. «Die Schweiz ist ein absoluter Drehpunkt zur Verwirklichung des Human Brain-Projekts.» Zu dem Projekt gehören die Anhäufung von Ressourcen, Simulation und das Zusammenfügen von Wissen. Es wäre ohne die Schweiz nicht durchführbar, erklärte Markram.

Falls die Probleme mit Horizon 2020 bis zum nächsten Jahr nicht gelöst werden können, werde der Ausschluss «ernsthafte Auswirkungen auf den ganzen Forschungsplatz Schweiz haben», erklärte Küttel. «Um erfolgreich zu sein, braucht man nicht nur Geld, man muss mit den Besten zusammenarbeiten können.»

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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