Geglückte Urknall-Simulation
Physiker des Europäischen Teilchenforschungsinstituts CERN in Genf haben Atomkerne mit nie da gewesener Energie zusammenprallen lassen. Die Kollisionen markieren den Beginn einer neuen Ära in der Physik.
Um 13.06 Uhr war der Weltrekord geknackt: Die Forscher hatten zwei Strahlen geladener Atomkerne, so genannte Protonen, mit einer Energie von je 3,5 Billionen Elektrovolt in gegenläufiger Richtung durch den 27 Kilometer langen und 4 Meter hohen Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider LHC gejagt und kollidieren lassen.
Jeder der Strahlen enthielt mehr als zehn Milliarden Protonen. Die Geschwindigkeit beim Aufprall war grösser als 99,99% der Lichtgeschwindigkeit. Die Kollisionsenergie von 7 Billionen Elektrovolt liegt 3,5 Mal höher als jene, die der grösste amerikanische Teilchenbeschleuniger der Fermilabs in Chicago erreicht.
Die Energie ist vergleichbar mit der eines 400 Tonnen schweren Zuges bei einer Geschwindigkeit von 150 Kilometern in der Stunde.
«Wir betreten nun ein neues Territorium, das noch niemand betreten hat», sagte Jean-Pierre Revol, Leiter der Abteilung Kollisionen von schweren Ionen, gegenüber swissinfo.ch. Die Forscher erhoffen sich, dem Urknall, der Entstehung des Universums und der Materie vor rund 14 Mrd. Jahren, so nahe wie möglich zu kommen.
Viele Probleme
Der Rekord ist die Frucht von beinahe 20 Jahren Arbeit. Der LHC ist eine riesige, extrem komplexe Maschine. Ein Sandkorn kann sie ausser Gefecht setzen. Seit seinem ursprünglichen Start im Herbst 2008 hatte der Beschleuniger verschiedene Probleme, die viel Zeit und Geld kosteten.
Auch am Dienstag lief nicht alles reibungslos. Die Rekordkollision gelang erst im dritten Anlauf. Die ersten beiden waren am Morgen vom automatischen Sicherheitssystem abgebrochen worden. Solch kleine Pannen seien aber absolut normal, sagte CERN-Generaldirektor Rolf Heuer.
Beim LHC-Vorgänger LEP habe es eine Woche gedauert bis zur ersten Kollision.
Wo ist das Higgs-Teilchen?
Die im LHC kreisenden Partikel haben zwar nur etwa die Energie, mit der zwei Stechmücken ineinanderfliegen. Weil die Kollision aber in einem einzigen Proton konzentriert ist, hat sie extreme Auswirkungen. Beim Zusammenprall entstehen Abermillionen sekundärer Teilchen, die von den Forschern nun detailliert vermessen werden.
So lässt sich herausfinden, was sich bei Teilchenkollisionen abspielt, die jenen bei der Entstehung des Universums ähneln. Die Fragmente werden am CERN von vier gewaltigen Detektoren, ATLAS, ALICE, CMS und LHCb, registriert. Diese stehen jeweils in einer eigenen unterirdischen Halle und decken je einen Kollisionspunkt ab.
Ein Hauptziel der Forscher ist es, das so genannte Higgs-Teilchen ausfindig zu machen. Dieses mysteriöse, bisher nur theoretisch beschriebene Teilchen könnte erklären, warum die bekannten Elementarteilchen überhaupt eine Masse besitzen. Um es dingfest zu machen, müssen allerdings riesige Datenmengen gesammelt werden.
Schwarze Löcher, dunkle Materie
Weiter wollen die Forscher weitere grosse Fragen der Physik beantworten. Es beginne nun auch die Jagd nach der rätselhaften Dunklen Materie – die rund einen Viertel der Materie im Universum ausmacht -, nach neuen Kräften und sogar nach neuen Dimensionen, sagte Fabiola Gianotti, die Sprecherin des ATLAS-Experiments.
Bei den Zusammenstössen könnten sogar winzige Schwarze Löcher entstehen. Kritiker der Experimente hatten im Vorfeld davor gewarnt, dass diese Löcher sich zu Schwerkraftmonstern entwickeln und die Welt verschlingen könnten.
Die CERN-Forscher widersprechen dem: Laut ihren Berechnungen würden die Minilöcher sofort wieder zerfallen.
In den kommenden Monaten werden die Forscher weiter Protonen aufeinanderprallen lassen, um ausreichend Daten zu sammeln, mit denen sich ihre Annahmen bestätigen oder widerlegen lassen.
CERN im Alltag
Das CERN trägt nicht nur zu unserem Verständnis des Universums bei. Viele Produkte und Nebenprodukte des Forschungszentrums sind heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken.
Das berühmteste ist das World Wide Web. Es wurde 1990 am CERN erfunden, um den Physikern den Datenzugriff zu erleichtern. Seither hat sich das «WWW» in rasender Geschwindigkeit um die Welt gewoben.
Aber auch andere Experimente und Erfindungen am CERN haben unser Verständnis der Welt entscheidend geprägt und auch medizinische Anwendungen hervorgebracht.
So sind Detektortechniken der Teilchenphysik in der medizinischen Diagnostik heute weit verbreitet, und auch Teilchenbeschleuniger für die Krebstherapie sind nichts Ungewöhnliches mehr.
An dem 1954 gegründeten CERN arbeiten bis zu 10’000 Menschen aus rund 80 Nationen. 20 Länder sind daran beteiligt.
swissinfo.ch und Agenturen
Im Teilchen-Beschleuniger LHC sollen zwei Strahlen von Protonen gegenläufig zirkulieren.
Prallen sie aufeinander, sollten neue Teilchen entstehen wie das Higgs-Teilchen, das bisher aber erst in der Theorie existiert.
Das Aufeinanderprallen der Protonenstrahlen simuliert den Big Bang, den Urknall.
Die Strahlenbündel enthalten Milliarden von Protonen. Sie bewegen sich leicht unter Lichtgeschwindigkeit und werden durch Supermagneten geleitet.
Die Bündel bewegen sich durch zwei Vakuum-Ringe. An vier Punkten kollidieren sie – im Zentrum der Experimente.
Die Detektoren finden bis 600 Mio. Kollisionen pro Sekunde. Daraus ergeben sich Daten, die vielleicht Auskunft geben über neue Teilchen.
Das Magnetsystem enthält mehr Eisen als der Eiffel Turm.
Das Cern wurde 1954 von 12 Staaten inklusive der Schweiz gegründet. Heute sind 20 Länder Mitglieder. Ein Cern-Wissenschaftler hatte auch das Internet erfunden.
Die Kabel für den LHC enthalten 6300 superleitende Niobium-Titanium-Fasern von 0,006 mm Dicke. Insgesamt erstrecken sich die Kabel also mehr als zehn Mal über die Distanz der Erde bis zur Sonne.
Der LHC (Beschleuniger) birgt auch den weltgrössten Kühlschrank. Dessen Temperatur liegt unter jener im Weltall.
Die jährliche Datenmenge, die der LHC erzeugt, hat auf 100’000 DVDs Platz.
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