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Unter Strom – wie die Schweiz elektrifiziert wurde

Blick in ein Lokomotivenwerk, schwarz-weiss
Die Elektrizität war ein Treiber der Schweizer Industrie. Hier ein Blick in ein Werk der Brown Boveri Co. Historisches Archiv ABB Schweiz

In der Schweiz setzte die Elektrifizierung sehr früh ein. Das Land ist für Staudämme und Eisenbahnen wie gemacht – es ist Pionierin. Doch die Entwicklung vor 120 Jahren verläuft keineswegs gleichförmig. Eine kurze Geschichte des Stroms.

1879 nahm das Hotel Engadiner Kulm in St. Moritz erstmals in der Schweiz eine elektrische Beleuchtungsanlage in Betrieb. «Die Oberschicht hat sich auf diese Weise sozial abgegrenzt», sagt Florian Blumer, Autor des Buchs «Wie Baselland Strom bekam», im Gespräch. Der Historiker beschreibt und kommentiert in dem Buch 120 Fotografien zur Elektrifizierung des Kantons Baselland (Reihe «bild.geschichten.bl»).

Bis etwa 1910 wies die Schweiz weltweit die höchste Stromproduktion pro Einwohner auf, mit sehr grossen jährlichen Zuwachsraten. Ein Grund dafür lag in der Topographie, sie bot gute Voraussetzungen für den Bau von Flusskraftwerken. Nach 1910 wurde sie von den USA und den skandinavischen Ländern abgelöst.

Strom als Sinnbild der Moderne

Die elektrische Energie löste eine zweite industrielle Revolution aus – die erste war durch die Kohle getrieben gewesen – und erlaubte es beispielsweise auch kleineren Betrieben und Gewerbetreibenden, Motoren anzuschaffen. Eine Dampfmaschine hätten sich diese kaum leisten können. Bis in die 1930 Jahre galt Elektrizität als Zeichen für Fortschritt und Modernität.

Schwarz-weiss-Aufnahme einer Standseilbahn
Die Ausweichstation Ämsigen der Pilatusbahn vor der Elektrifizierung, aufgenommen um 1930. Keystone

Bau vieler Bergbahnen

Wodurch zeichnete sich die Elektrifizierung in der Schweiz aus? Lief sie nicht in allen Ländern mehr oder weniger gleich ab? Zu Beginn nutzten Veranstalter in der Schweiz den elektrischen Strom für patriotische Anlässen wie Jubiläen, Sänger- und Turnfeste, schreibt Florian Blumer.

Er nennt etwa ein kantonales Sängerfest von 1882 in Gelterkinden. Dort kam zum ersten Mal im Baselbiet eine elektrische Beleuchtung zum Einsatz. Es gab aber noch eine Anwendung, welche sehr wichtig war, wie Blumer im Gespräch ausführt. Die Elektrizität erlaubte den Bau und Betrieb sehr vieler Bergbahnen: Zahnrad-, Standseil- und Schwebebahnen.

Bei der Eisenbahn setzte die Schweiz generell sehr früh auf den Elektroantrieb. War der Albulatunnel beim Bau zunächst noch für Dampflokomotiven bestimmt gewesen, setzte man bei der Bernina-Linie, welche zwischen 1908 bis 1910 etappenweise eröffnet wurde und St. Moritz mit Tirano verband, von Anfang an auf Elektroantrieb.

Auch die Schweizerischen Bundesbahnen trugen massgeblich dazu bei, dass sich auf dem Schweizer Schienennetz der Elektroantrieb rasch durchsetzte. 1939 war in der Schweiz 77 Prozent des Schienennetzes elektrifiziert, in den andern europäischen Ländern lag der Durchschnitt erst bei 5 Prozent, wie im Historischen Lexikon der Schweiz zu lesen ist.

Anarchie, bis der Stromzähler kam

Die Haushalte nutzten die neue Energiequelle als erstes fürs Licht. «Dies war die zentrale Anwendung auf dem Land», sagt Blumer, der in den neunziger Jahren eine Dissertation zum Thema verfasst hat. Der Ersatz von Petrol- durch Stromlampen blieb also nicht lange ein Privileg der Oberschicht.

Ein grosser Vorteil der Stromlampen war, dass sie nicht jeden Tag aufwändig geputzt werden mussten. Zu Beginn hat jeder Haushalt für den Anschluss ans Stromnetz eine Pauschale bezahlt, es gab noch keine Stromzähler. «Die Leute gingen sehr kreativ damit um und hängten zum Beispiel auch Bügeleisen ans Stromnetz» – ohne dafür zu bezahlen, wie Blumer erzählt.

Drei Mädchen in gleichen Kleidchen hören Radio mit Kopfhörern, schwarz-weiss-Fotografie
Der Ruf der Moderne: Kinder hören Radio (1925). Fotografie aus dem Buch «Wie Baselland Strom bekam». zVg

Weltkriege als Treiber

Beschleunigung erfuhr die Elektrifizierung der Schweiz durch die beiden Weltkriege. Im ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) gab es Schwierigkeiten mit der Kohleversorgung, dies führte zu einem Schub. Im Zweiten Weltkrieg war dann Strom im Gegensatz zu Gas, Kohle und Holz nicht rationiert.

Die Anwendungen nahmen in der Folge nochmals sprunghaft zu, vor allem auch das Kochen mit Strom, der «weissen Kohle». Dafür mussten allerdings die Stromleitungsanlagen verstärkt werden. Viele der dörflichen Genossenschaften, die sich zur Verteilung des Stroms gebildet hatten, lösten sich in der Folge auf, weil sie die Investitionen nicht mehr tragen wollten oder konnten. Grössere Stromversorger konnten übernehmen, im Kanton Baselland zum Beispiel die Elektra Birseck (heute EBM).

Und heute, im Zeitalter des Anthropozäns, in dem der Mensch das Klima erhitzt? Da ist eine gegenläufige Entwicklung in Gang: Gemäss der 2017 von der Stimmbevölkerung angenommenen Energiestrategie 2050 soll die Schweiz den Stromverbrauch pro Kopf in Zukunft senken (der Gesamtenergieverbrauch soll sogar stark sinken).

Neue Energiequellen wie Wärmepumpen und Photovoltaikanlagen erlauben es Blumer zufolge, sich zunehmend von zentralen Energieversorgungssystemen abzukoppeln. Und sich zum Beispiel unter Nachbarn zu einer Versorgungseinheit zusammenzuschliessen.

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