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Erst die Alpen – dann die Anden

Eine Schweizer Karte.
Humboldts Stationen auf seinen Schweiz-Reisen. Peter Palm für Universität Bern

Auf seiner berühmten Forschungsreise durch Amerika hatte Alexander von Humboldt auch Schweizer Messgeräte im Gepäck - und seine in den Schweizer Alpen gewonnenen Erkenntnisse im Hinterkopf.

Das Humboldt-JahrExterner Link anlässlich des 250. Geburtstags des Universalgenies neigt sich dem Ende entgegen. Ein Jahr, das auch für den renommierten Berner Humboldt-Forscher Oliver Lubrich ereignis- und erfolgreich war.

Eine Porträt-Aufnahme eines Mannes mit blauem Hemd.
Berner Humboldt-Forscher Oliver Lubrich. Oliver Lubrich

Der Literaturwissenschaftler hat nicht nur über die Verbindungen Humboldts in die Schweiz geforscht, sondern jüngst auch mit seinem Kollegen Thomas Nehrlich eine viel gelobte Berner Ausgabe mit bisher nicht veröffentlichen Schriften des deutschen Abenteurers und Forschers herausgegeben.

Bereits in den 1990er-Jahren als Student fiel Oliver Lubrich während seiner Reisen in Südamerika auf, dass Humboldt dort allerorts mit Denkmälern und als Namensgeber präsent schien. 

«Erstaunlicherweise waren seine Werke aber im Buchladen kaum erhältlich», erinnert sich der wie Humboldt in Berlin geborene Wissenschaftler, der seit 2011 als Professor für Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Bern forscht und lehrt. «Es gab einen eklatanten Widerspruch zwischen der öffentlichen Aufmerksamkeit und dem Erschliessungsgrad seines Werkes», so Lubrich.

Grosse Teile von Humboldt Schriften und Essays waren nicht ediert, das Gleiche galt für sein umfangreiches graphisches Werk. Man habe den Forscher offensichtlich mehr gefeiert als gelesen.

Detektivische Spürarbeit

Lubrich und seinem Team in Bern ist zu verdanken, dass diese Lücke seit Herbst dieses Jahres zumindest erheblich kleiner geworden ist. Die unter seiner Federführung herausgegebene Berner Ausgabe vereint 750 Aufsätze, Artikel und Essays aus dem sieben Jahrzehnte währenden Schaffen Humboldts.

Viele seiner kurzen Schriften und Zeitungsartikel schlummerten bis dato in über die Welt verstreuten Archiven, wo sie Lubrich und sein Team aufspürten wie Detektive. Systematisch gingen sie in Frage kommende Publikationen aus Humboldts Zeit durch und machten dabei so manche Entdeckung.

Mal war es reiner Zufall, mal brachte sie die Erwähnung einer Schrift in einem Briefwechsel auf die Spur oder eine Auflistung in einer Veröffentlichungsliste. In akribischer Arbeit kontaktierten die Berner Wissenschaftler Bibliotheken, transkribierten gescannte Seiten, übersetzten und edierten sie.

«Träge Schweizer» und die «Theuerkeit»

In der Schweiz wird nicht nur über Humboldt geforscht, er hatte auch persönliche Verbindungen in das Land, das er 1795, 1805 und 1822 bereiste. In Briefen aus diesen Jahren scherzt Humboldt über die “trägen Schweizer“ und die «Theuerkeit», schwärmt aber auch über seine “göttliche Reise“.

Er traf sich in der Schweiz mit Wissenschaftlern und sammelte auf Wanderungen in den Alpen Erkenntnisse über Botanik, Geologie und Klima. Diese dienten ihm später während seiner Forschungsreise durch Amerika von 1799 bis 1804 insbesondere in den Anden als Referenz.

Zeichnung von den Anden und den Schweizer Bergen.
Humboldt stellte die Vegetationszonen der Anden denen der Schweizer Berge gegenüber. Geographiae plantarum lineamenta, Alexander von Humboldt, 1815

In drei Zeichnungen – heute würde man sie Infografiken nennen – stellt er die Gebirge gegenüber und vergleicht die Vegetationszonen, Schneegrenzen und das Vorkommen der Arten.

Besonders wichtig waren für den Forschungsreisenden, der schier unermüdlich Daten sammelte, seine Präzisionsmessgeräte. Ein Schweizer Chronometer sowie ein von dem Eidgenossen Horace-Bénédict de Saussure entwickeltes sogenanntes Cyanometer nahm Humboldt mit auf seine Reisen, erzählt Oliver Lubrich.

Mit dieser Art Farbfächer bestimmte er die Blautöne des Himmels, die Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der Atmosphäre zuliessen: Je trockener die Luft, so de Saussure, desto blauer der Himmel. Auch bei seiner berühmten Besteigung des Chimborazo im heutigen Ecuador mass Humboldt mit dem Cyanometer in verschiedenen Höhen die Himmelsbläue.

Als Humboldt am 6. Mai 1859 starb, war er fast 90 Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt hatte er 70 Jahre lang unermüdlich geforscht, publiziert und mit Freunden, Politikern und Wissenschaftlern auf der ganzen Welt korrespondiert. Insgesamt verfasste er allein rund 30’000 Briefe.

Der rastlose Beobachter schrieb über Pflanzen, Klimazonen, Naturvölker, über Vulkane und Politik. Seine Artikel erschienen in zahlreichen Sprachen in Zeitungen und Zeitschriften auf der ganzen Welt, in der Neuen Zürcher Zeitung ebenso wie in der New York Times oder in der Bombay Times. Seine Neugier war im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos.

«Kein Fach fühlte sich für ihn zuständig»

In einer Wissenschaftswelt mit klaren Zuständigkeiten ist er damit nur schwer zu verorten, so bemüht man dann auch immer wieder den Begriff des «Universalgelehrten». Auch was seine Sprache betrifft, widersetzt sich Humboldt gängigen Zuschreibungen. Er forschte detailversessen als Wissenschaftler und schrieb wie ein Poet, einfühlsam und für Jedermann verständlich.

Nach seinem Tod geriet sein Werk dann allerdings etwas in Vergessenheit. Sein multidisziplinärer Ansatz stand der Beschäftigung mit ihm lange Zeit im Wege, sagt Lubrich. «Kein Fach fühlte sich für ihn zuständig.» Bis erst vor zwei Jahrzehnten mit der Wiederentdeckung seiner Interdisziplinarität auch der Universalgelehrte Humboldt zu neuem Ruhm gelangte.

Die Berner Ausgabe legt die Grundlage für weitere Humboldt-Forschung. Denn nun gilt es, die hier versammelten Schriften auszuwerten: Klimaforscher können mit Humboldts Messdaten historische Klimaveränderungen rekonstruieren, nennt Lubrich ein Beispiel, Literaturwissenschaftler sich der Rhetorik seiner Werke widmen. Auch für Historiker, Politologen und Pflanzenwissenschaftler sind die Bände eine Fundgrube.

«Die Texte herauszugeben war nur der Anfang», freut sich Oliver Lubrich: «Nun stehen sie der Wissenschaft zur Verfügung – aber auch vielen faszinierten Lesern.»

Die Berner Ausgabe

Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich (Hrsg.). Alexander von Humboldt, Sämtliche Schriften: Aufsätze, Artikel, Essays (Berner Ausgabe), 7 Textbände und 3 Ergänzungsbände. dtv 2019, 6823 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles.

Die Berner Ausgabe umfasst rund 750 Aufsätze, Artikel, Reisebeschreibungen und Essays von Alexander von Humboldt aus den Jahren 1789 bis 1859, die in 15 Sprachen erschienen. Das Team um die Herausgeber hat zusammen mit Nachdrucken, Bearbeitungen und Übersetzungen insgesamt 3600 Texte an 440 Publikationsorten auf fünf Kontinenten recherchiert, um sie zum ersten Mal zu edieren. 95 Prozent davon wurden nach Humboldts Tod nie wieder gedruckt. Der Schweizer Nationalfonds förderte das Projekt.

Weitere Veröffentlichungen Oliver Lubrichs zum Thema (ein Auszug):

  • Alexander von Humboldt, Der Andere Kosmos. 70 Texte, 70 Orte, 70 Jahre. 1789-1859, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, München: dtv 2019.
  • Alexander von Humboldt, Das graphische Gesamtwerk, herausgegeben von Oliver Lubrich, Darmstadt: Lambert Schneider 2014.
  • Oliver Lubrich und Adrian Möhl, Botanik in Bewegung. Alexander von Humboldt und die Wissenschaft der Pflanzen, Bern: Haupt Verlag 2019.
  • Alexander von Humboldt, Die Russland-Expedition. Von der Newa bis zum Altai, herausgegeben von Oliver Lubrich, mit einem Nachwort von Karl Schlögel, München: C. H. Beck 2019.


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