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Im Gotthard-Basislager vor dem «Gipfelsturm»

Heinz Ehrbar (links) und Jens Classen zeigen den Bohrkopf der TBM Alptransit. Gerhard Lob

Im Gotthard-Basistunnel bereitet man sich auf den Aushub der letzten 717 Meter vor. Vor der Wiederaufnahme der Arbeiten nach den Bauferien konnte swissinfo.ch einen Augenschein im Tunnel nehmen und bis zur Spitze der Bohrarbeiten tief unten im Gotthard-Massiv vordringen.

Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein an diesem Morgen in Faido. Am Werkplatz für den neuen Gotthard-Basistunnel geht es relativ ruhig zu und her. Es sind die letzten Tage der Bauferien.

Gleichwohl sind im Container-Dorf eine Reihe von Büros besetzt. Man arbeitet intensiv an den Vorbereitungen für die Wiederaufnahme des Vortriebs Anfang nächster Woche.

Einige Arbeiter in grünen Overalls sind zu sehen. Sie gehören zum Team der Firma Herrenknecht, welche diese Woche die gewaltige, 440 Meter lange Tunnelbohrmaschine (TBM) wartet und den Bohrkopf für den Endspurt fit macht.

In der Oströhre fehlen nur noch 717 Meter bis zur Losgrenze zwischen Faido und Sedrun, das heisst bis zum Hauptdurchschlag des 57 Kilometer langen Tunnels. Am 15. Oktober soll der Durchschlag erfolgen – ein Weltrekord, denn noch nie wurde auf der Welt ein so langer Tunnel ausgegraben.

Wie eine Kathedrale

In einer Baracke ziehen wir die orangen Overalls und Gummistiefel an, dazu einen Helm und Selbstretter-Rucksack, der im Notfall für Frischluft sorgt. Im Mini-Bus geht es nun den 2,7 Kilometer langen und gut 12 Prozent steilen Zugangsstollen ins Berginnere hinab.

Wir haben nun das eigentliche Tunnelniveau erreicht und verlassen den Mini-Bus. Hier öffnet sich die gewaltige Multifunktionsstelle (MFS) wie eine unterirdische Kathedrale.

Es ist ein Labyrinth: In diesem Bereich befinden sich Spurwechsel und Nothaltestellen, technische Räume für den Bahnbetrieb sowie Lüftungsinstallationen.

Man atmet echte Tunnelluft, es wird spürbar wärmer. «Glück auf» steht oben an der Wand; und auch eine Statue der Heiligen Barbara, Schutzpatronin der Bergleute, ist nicht weit.

Endlose Fahrt an die Ortsbrust

An der MFS heisst es Umsteigen auf die Tunnelbahn. Dies ist Alltag für die vielen Mineure, die in den Eingeweiden des Gotthardmassivs arbeiten.

Ganze 50 Minuten dauert die Fahrt mit dem Baustellenzug, um die rund 10 Kilometer bis zur Spitze des ausgebrochenen Tunnels in Richtung Sedrun zurückzulegen.

Es wird immer heisser, denn die Kühlung des Tunnels erfolgt nur im vordersten Abschnitt, wo der Vortrieb vorgenommen wird.

Etwas Fahrtwind erreicht uns durch die unverglasten, aber vergitterten Fenster und Türen. In den Gesichtern der Mitfahrenden tauchen Schweissperlen auf. Ohrstöpsel dämpfen den Krach des ratternden Zugs.

Die Fahrt scheint unendlich lang. Man kann nichts tun: Weder aus dem Fenster schauen noch lesen. Düstere Lämpchen schimmern von der Decke. Einige Graffiti an den Kabinenwänden zeigen, dass Mineure auf dieser Fahrt einen Zeitvertreib suchen. «Tunnel of love» steht da beispielsweise.

Ein Glücksfall

Trotz des hohen Geräuschpegels können wir mit Heinz Ehrbar, Leiter Tunnel- und Trasseebau der Alptransit Gotthard AG, sprechen. Er ist stolz, an diesem Tunnelprojekt beteiligt zu sein. «Es ist ein Glücksfall, so eine Chance hat man – wenn überhaupt – nur einmal im Leben», meint er.

Und er unterstreicht die Wichtigkeit, dass Alptransit von der Bevölkerung mitgetragen wird. Keine Selbstverständlichkeit: Er verweist auf Proteste gegen andere Grossprojekte wie den Basistunnel auf der Strecke Turin-Lyon, der von den Einheimischen bekämpft wird, oder die geplante Untertunnelung des Hauptbahnhofs in Stuttgart, gegen welche kürzlich demonstriert wurde.

Inzwischen haben wir die TBM erreicht. Die letzten Meter werden zu Fuss zurückgelegt. Überall an den Wänden rinnt Wasser nach unten. Wir waten durch grosse Pfützen und Schlamm. Um die Revisionsarbeiten am Bohrkopf durchführen zu können, wurde die TBM rund 20 Meter zurückgenommen.

Kühler nach der Hitze

Wir können seitlich vorbei klettern und befinden uns an der Ortsbrust, das heisst am vordersten Punkt des Vortriebs, im Herzen der Oströhre. Ein schwarzer Streifengneis, dessen geschichtete Platten deutlich sichtbar sind, liegt vor uns. Der Fels und das Wasser sind hier 43 Grad heiss.

Doch es ist spürbar kühler, weil dieser Arbeitsplatz gemäss Vorschriften auf 28 Grad herunter gekühlt werden muss. Kaum vorstellbar: Über uns türmen sich mehr als 2000 Meter Fels und Gestein. Es sind die höchsten Überlagerungen beim gesamten Tunnelprojekt.

Die Fräse mit ihren Rollenmeisseln und einem Durchmesser von 9,40 Metern sieht so aus, als könne sie es kaum erwarten, den letzten Abschnitt in Angriff zu nehmen.

Produktionschef Jens Classen vom Baukonsortium TAT (Tunnel Alptransit Ticino) erklärt mit seinem deutlich norddeutschen Akzent, warum diese Woche eine Revision nötig ist. «Wir sind in den letzten Monaten durch harten Granit gefahren; entsprechend hoch war der Verschleiss der Maschine.»

«Die letzten Meter überstehen»

Nun sind einzelne Teile des Bohrkopfs rot gekennzeichnet. Hier führen Mitarbeiter der Firma Herrenknecht Schweissarbeiten durch. Sie arbeiten rund um die Uhr, vier Mann pro Schicht.»Nach diesen Revisionsarbeiten, so hoffen wir, können wir auch die letzten 700 Meter noch überstehen», sagt Classen, «vorausgesetzt natürlich, dass uns die Geologie wohl gesonnen ist.»

Am kommenden Montag wird die Maschine wieder angefahren. Sie arbeitet mit sechs Umdrehungen pro Minute 19 Stunden pro Arbeitstag im Vortrieb. Danach folgen fünf Stunden Wartung.

Die Spannung und die Emotionen bei allen Beteiligten steigen. Auch bei Alptransit-Chef Renzo Simoni. «Wir fühlen uns wie im Basislager vor dem Gipfelsturm.»

Gerhard Lob, Faido, swissinfo.ch

Anfang nächster Woche wird in der Oströhre des neuen Gotthard-Basistunnels die Tunnelbohrmaschine (TBM) wieder angefahren und die letzten 717 Meter bis zur Losgrenze zwischen Faido und Sedrun in Angriff genommen.

Für Alptransit ist es ein Lauf gegen die Zeit. Nur wenn durchschnittlich 13,3 Meter Vortrieb pro Tag in den verbleibenden 54 Arbeitstagen geschafft werden, kann gemäss den Berechnungen von Alptransit der Termin für den Hauptdurchschlag am 15. Oktober eingehalten werden.

Für die Mineure ist es eigentlich nicht so wichtig, an welchem Tag der Durchschlag erfolgt, und ob es allenfalls einige Tage länger dauert.

Problematisch ist es aber, einen solchen Grossanlass zu verschieben. Denn die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.
Hunderte Einladungen sind bereits ins In- und Ausland verschickt worden, der Durchstich soll gar live an die Verkehrsministerkonferenz nach Luxemburg sowie nach Genua übertragen werden. Radio und TV bereiten sich auf stundenlange Live-Sendungen vor.

Nur ganz wenige Festgäste – gut 100 – werden indes den Bohrkopf der TBM direkt sehen, wenn er die letzte Wand durchschlägt. Diese müssen über den Schacht am Zwischenangriff von Sedrun nach unten befördert werden.

Auf der Seite Faido werden Mineure und geladene Gäste in der Multifunktionsstelle feiern.

Bundesrat Moritz Leuenberger gehört zu den VIPs, die in Sedrun unter Tage erwartet werden. Er hat wiederholt erklärt, diesen Anlass als Verkehrsminister miterleben zu wollen.

Da seine Ersatzwahl wohl am 22.September erfolgt und er längstens bis zum 22. November im Amt bleiben kann, könnte es aber knapp werden.

Dem Verkehrsminister sei ein Stossgebet an die Heilige Barbara empfohlen, damit ihm die Geologie wohl gesonnen ist.

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