Innovation und Gerechtigkeit: Was das Silicon Valley von der Schweiz lernen könnte
Im Silicon Valley offenbart sich ein krasser Gegensatz zwischen ungebremster Innovation und wachsender sozialer Ungleichheit. Kann das Schweizer Modell Problemlösungen bieten? Ein Augenschein in der Heimat von Facebook, Apple & Co.
Ein Blick aus dem Zugfenster reicht, um zu sehen, was sich im Silicon Valley mit Erfolg und Reichtum kaufen lässt: Moderne, aber eintönige Häuser mit gepflegten Gärten und Swimmingpools im Freien.
Im Städtchen Palo Alto, wo die Mikrochip- und Computerrevolution ihren Anfang nahm, tauchen vor meinen Augen Teslas mit getönten Scheiben auf. Gut gekleidete junge Leute flitzen mit ihren Elektro-Scootern durch die Strassen.
In diesem Tal wimmelt es nicht nur von «Einhörnern» – Start-up-Unternehmen mit einer Bewertung von über 1 Milliarde Dollar.
Es ist auch die Heimat von drei der fünf grössten Technologieunternehmen der Welt: Alphabet (Eigentümerin von Google), Apple und Meta (Eigentümerin von Facebook). Das hat Reichtum gebracht.
Allerdings profitieren nicht alle Menschen gleichermassen von dem in dieser Gegend geschaffenen Wohlstand.
Das Silicon Valley und die Schweiz zählen zu den innovativsten Regionen der Welt. Warum eigentlich? Was trennt sie und was eint sie? Was können sie voneinander lernen? In dieser Serie berichten wir über das Silicon Valley aus der Sicht von Schweizer:innen, die seine Verlockungen, Versprechungen und Gegensätze hautnah erleben.
Wir fahren auf einer gut gepflegten Strasse, die am Campus der Stanford University vorbeiführt, einer der reichsten und teuersten Universitäten der Welt. Eine Reihe von Wohnmobilen parkiert entlang der Strasse.
Hier leben ganze Familien in ihren Heimen auf Rädern, weil sie sich die exorbitanten Mieten im Silicon Valley nicht leisten können. Einige kommen mit dem Verkauf von Mahlzeiten auf dem Campus über die Runden, andere arbeiten als Klempner oder Angestellte in einem der Technologieunternehmen.
Viele dieser Menschen sind in die USA eingewandert und sehen nicht aus wie Mark Zuckerberg oder Steve Jobs.
«Es ist reine Fantasie zu glauben, dass das Silicon Valley gleichbedeutend ist mit den Zuckerbergs. Gegen diese Art von Vorstellung versuchen wir anzukämpfen», erklärt Professor Fred Turner in seinem Büro im vierten Stock der Kommunikationsfakultät der Uni Stanford.
Nur dank dieser – schlecht bezahlten – Männer und Frauen existiere und funktioniere das Big-Tech-Imperium überhaupt – Tag um Tag.
Einer von Vieren lebt unter der Armutsgrenze
Turner, ein ehemaliger Journalist, untersucht seit Jahrzehnten die Auswirkungen der neuen Medientechnologien auf die amerikanische Kultur.
In seinem Büro im Retro-Stil der 1970er-Jahre liegen Bücher auf dem Boden verstreut. Mein Blick fällt auf Titel wie «Men in Dark Times» (Menschen in finsteren Zeiten) von Hannah Arendt und «The Religion of Technology» von David Noble.
Turner gehört zu denjenigen, die lautstark die Ungerechtigkeiten anprangern, unter denen viele Menschen leiden, die im Silicon Valley leben und arbeiten. Die Professorin und Fotografin Mary Beth Meehan porträtierte einige von ihnen in dem 2021 erschienen Buch «Seeing Silicon Valley: life inside a Fraying America»Externer Link.
Im Durchschnitt verdienen Arbeitnehmer:innen ohne Hochschulabschluss 115’000 Dollar weniger pro Jahr als diejenigen mit einem Universitätsdiplom oder einer Berufsausbildung (siehe Grafik unten).
Dabei geht die Schere immer weiter auseinanderExterner Link: 2021 lebten laut Silicon Valley IndexExterner Link 23% der Bewohner:innen unter der Armutsgrenze, 3% mehr als 2019.
Dennoch verfolgen viele Länder, darunter auch die Schweiz, den «Traum vom Silicon-Valley», das heisst sie streben noch grösstmöglicher Innovation und rascher Wohlstandsvermehrung.
So versucht der kleine Alpenstaat im Herzen Europas, der als innovativstes Land der Welt und als «Silicon Valley der Robotik» gilt, sich international als Zentrum für Kryptowährungen und Start-ups zu etablieren. Laut Turner hat die Schweiz jedoch wenig vom Silicon Valley zu lernen.
Der Stanford-Professor ist sogar der Meinung, dass die Schweiz umgekehrt dem kalifornischen Silicon Valley etwas lehren könnte. Für ihn ist die Schweiz ein Beispiel, wie grosse Technologieunternehmen in die Gesellschaft integriert werden können, ohne ein unüberbrückbares Wohlstandsgefälle in der Bevölkerung zu schaffen.
Der Schlüssel: ein verantwortungsvolles, in den demokratischen Institutionen verankertes Innovationsmodell.
Silicon Valley: eine Geschichte, die auf Ausbeutung beruht
Seit dem 19. Jahrhundert erfolgte die wirtschaftliche Entwicklung dieses Gebiets südlich von San Francisco auf Kosten von Tausenden von Menschenleben: Die Ureinwohner:innen wurden ihres Landes beraubt und versklavt; Ausländer:innen, hauptsächlich Chinesen und Mexikaner, als billige Arbeitskräfte missbraucht.
Es entstand eine weisse Elite, für die Rassismus und Missachtung von Marktregeln ein Schlüssel zum Erfolg war. Schon damals war in der Region der Glaube aber weit verbreitet, wonach der Reichtum talentierten Menschen zustand, weil sie sich diesen verdient hätten. Das jedenfalls schreibt der Journalist Malcolm Harry in seinem Buch «Palo Alto: A History of California, Capitalism and the World»Externer Link.
Erst nach dem Zweiten Weltkriegs beziehungswiese nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelte sich diese Region zu einem Standort der Spitzentechnologie, wie wir ihn heute kennen. Dies gelang auch dank der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der Stanford University, den Unternehmen der Halbleiterbranche und der militärischen Forschung.
Es war eine Ära, in der Siliziumchips von Raketen in Computer wandern. Ab den 1960er-Jahren schufen Hippies auf Grund dieser Technologien eine neue Vision von der Maschine als einem Werkzeug, das die Fähigkeiten des einzelnen Menschen erweitert und zugleich dem Gemeinwohl dient.
In ähnlicher Weise sprechen moderne Silicon-Valley-Tycoons von der «Befähigung der Menschen» und dem gleichzeitigen «Aufbau einer Gemeinschaft».
Sie drängen auf ein Geschäftsmodell ohne Regeln. Doch das System hat seine Kehrseiten: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. «Der Traum von Unternehmen in den Diensten des Menschheitswohls hat sich in einen Albtraum verwandelt, und die Schweiz sollte ihn nicht verfolgen», meint Professor Turner.
Mehr Technologie, mehr Armut, mehr Prekarität
Die Künstlerin Şerife Wong ist ebenfalls der Meinung, dass das weit verbreitete Bild von visionären Genies, die in ihren Garagen tüfteln und von dort die Welt zum Guten verändern, eine Illusion ist.
«Wir idealisieren den Mythos der Erfinder, den amerikanischen Traum von Leuten, die aus dem Nichts superreich werden und die Welt zum Besseren verändern», meint Wong, die sich intensiv mit den sozialen Auswirkungen neuer Technologien befasst hat und an der Universität von Kalifornien in Berkeley forscht. Denn die Frage sei heute: Für wen verändert sich die Welt zum Besseren?
Einen Tag vor meinem Treffen mit Fred Turner an der Universität von Stanford sitze ich mit Şerife Wong vor einem Café in San Francisco, ganz in der Nähe von Chinatown. Während unseres Gesprächs lässt sich eine obdachlose Frau an einen Nachbartisch nieder und zieht sich fast bis aufs letzte Hemd aus.
In diesem Moment hält ein weiss-orangefarbenes fahrerloses Auto an einer Kreuzung an, um Fussgänger:innen das Überqueren der Strasse zu ermöglichen. San Francisco war eine der weltweit ersten Städte, die selbstfahrende Autos und Lieferroboter getestet hat.
Und was bringen diese Innovationen den Menschen? «Dass sie ärmer werden und ihre Arbeitsbedingungen prekärer», meint Wong.
Sie nennt als Beispiel die unzähligen Fahrer:innen ohne Krankenversicherung, die von den undurchsichtigen Algorithmen von Uber abhängig sind und wirtschaftlich kaum über die Runden kommen. Vor allem afroamerikanische und Latino-Familien sind von Armut bedroht.
Schweiz: Hohe Innovation, weniger Ungleichheit
In diesem Sinne könnte Europa den Verwandten in Amerika etwas lehren. Länder wie Frankreich und Deutschland als Eckpfeiler der Europäischen Union könnten laut Turner zu Vorbildern dafür werden, wie starke Sozialsysteme und Gemeinschaftsregeln die Technologie in den Dienst der Demokratie stellen könnten – und nicht umgekehrt.
Der Stanford-Professor glaubt zudem, dass auch die Schweiz mit ihren dezentralen, aber sehr demokratischen Institutionen als Modell dienen könnte.
Die Schweiz investiert stark in die öffentliche Bildung (16 ProzentExterner Link der gesamten öffentlichen Ausgaben im Vergleich zu 10 Prozent inExterner Link den USA), und selbst ihre Weltklasse-Universitäten werden vom Staat finanziert und sind für alle Gesellschaftsschichten zugänglich. «Ein Land wie die Schweiz mit einem hohen Innovationsniveau, aber geringer sozialer Ungleichheit, kann wenig vom Silicon Valley lernen», meint Turner.
In der Tat steht die Schweiz seit 13 Jahren in Folge an der Spitze des Global Innovation Index. Darüber hinaus ist sie weltweit eines der Länder mit der geringsten Ungleichheit bei der Einkommensverteilung, auch wenn sich der Reichtum (beziehungsweise das Vermögen) zunehmend in den Händen einer kleinen Oberschicht konzentriert.
Wie das Silicon Valley beherbergt auch die Stadt Zürich grosse Technologieunternehmen und weist weltweit eines der höchsten Bruttoinlandsprodukte pro Kopf auf. Hier leben 7 Prozent der BevölkerungExterner Link unter der Armutsgrenze. Dies ist einer der niedrigsten Werte in der Schweiz.
Der Historiker Caspar HirschiExterner Link, Professor mit Schwerpunkt Wissenschafts- und Innovationsgeschichte an der Universität St. Gallen, stimmt überein, dass die Schweiz das Silicon Valley nicht nachahmen sollte.
Er weist jedoch auch auf die Grenzen des Schweizer Systems hin, das von einigen wenigen Grossunternehmen mit viel politischer und gesellschaftlicher Macht dominiert wird. «Kein Wirtschaftssystem ist demokratisch», schreibt Hirschi in einer E-Mail an SWI.
Gemäss Hirschi gibt es einen Unterschied, weil die Schweizer Unternehmer:innen diskreter und weniger egomanisch seien als diejenigen im Silicon Valley.
Sie legten Wert auf Stabilität und stellten die Demokratie nicht in Frage. Ausserdem verpflichten sie sich aufgrund der Marktregeln und des Wohlfahrtsstaates, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten.
Die Schweizer Lektion für das Silicon Valley
Fred Turner wiederum ist überzeugt, dass die Schweiz dank ihres demokratischen Systems innovativ sein kann, ohne in die gleiche Falle zu tappen wie das Silicon Valley.
Was sein Land daraus lernen könnte? «1945 brachten die Vereinigten Staaten die Demokratie zurück auf den europäischen Kontinent. Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer revanchieren», hält er fest.
Inzwischen neigt sich unser Gespräch dem Ende zu. «Ich möchte Ihnen etwas zeigen», sagt Turner. Wir verlassen sein Büro und gehen zur Universitätskirche, die Jane Stanford zum Andenken an ihren Ehemann Leland erreichten liess. Gemeinsam hatten sie 1891 die Universität auf einem Grundstück, auf dem früher eine Farm und eine Ranch standen, gegründet.
Niemand hätte sich vorstellen können, dass diese trostlose Stückchen Land eines Tages zum Synonym für Innovation werden und die Welt so tiefgreifend verändern würde. Sie gilt heute als eine der forschungsstärksten und renommiertesten Universitäten der Welt.
Editiert von Sabrina Weiss und Veronica De Vore, aus dem Italienischen übertragen von Gerhard Lob.
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