Der Schweizer, der Berlusconi die Ehrendoktorwürde verlieh
Der Waadtländer Jacques Guenot war einer der Gründer der Universität von Kalabrien. Der 2015 verstorbene "Schweizer Pythagoras" lebte während 40 Jahren in dieser italienischen Region, wo er deutliche Spuren hinterliess.
«Er hat mir viel beigebracht», sagt Vita Lentini. «Darunter etwa, seine Macht nicht zu missbrauchen, um andere beim Sprechen zu übergehen. ‹Du musst auch zuhören›, sagte er mir immer wieder. Für mich war er wie eine Vaterfigur. Er war ein aussergewöhnlicher Mann.»
Lentini, eine Sizilianerin, die in Kalabrien lebt, hat Tränen in den Augen. Während acht Jahren war sie Assistentin von Jacques Guenot. Wir treffen sie etwas ausserhalb von CosenzaExterner Link, in der Nähe der Università della CalabriaExterner Link (Unical).
Der Professor aus der Schweiz habe diese Universität «in die Welt bringen wollen», erzählt Lentini. «Er war ein Visionär, dessen Ideen vielleicht zu gross für unsere kleine Region waren.»
«Neben seinem Studium sowie der Wertschätzung und dem Ansehen, das er in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft genoss, zeichnete sich Guenot stets durch seine nüchterne und diskrete Arbeit aus.»
Università della Calabria
Ein Bewunderer von Pythagoras
Jacques Guenot wurde 1942 in Renens in Kanton Waadt geboren. Mit 34 Jahren kam der studierte Mathematiker an die Unical, wo er ordentlicher Professor für Geometrie wurde.
1987 ernannte die Universität Guenot zum Dekan der Fakultät für Ingenieurwissenschaften. Zudem wurde er stellvertretender Rektor und gilt heute als einer der Gründerväter der Universität.
«Neben seinem Studium sowie der Wertschätzung und dem Ansehen, das er in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft genoss, zeichnete sich Guenot stets durch seine nüchterne und diskrete Arbeit und nicht zuletzt durch seine menschlichen Qualitäten und seine grosszügige Hilfsbereitschaft gegenüber Kollegen und Studenten aus, für die er ein Beispiel für Seriosität, Hingabe und einen sicheren Bezugspunkt darstellte», ist auf der Website der UniversitätExterner Link zu lesen.
«Er war sehr streng und genau. Er war das Schreckgespenst der Ingenieurwissenschaft», erinnert sich Lentini mit einem Lächeln. «Er war aber nicht ein reiner Mathematiker. Vielmehr war er eine vielseitige Person, die sich für alles interessierte und innovativ war. Und er war ein Pythagoras-Gelehrter und hat zusammen mit der Gemeinde CrotoneExterner Link [wo die Pythagoräische Schule gegründet wurde, A.d.R.] den Pythagoräischen Preis ins Leben gerufen, eine internationale Anerkennung in der Mathematik.»
Häuser der ‹Ndrangheta nutzen
Laut Marta Petrusewicz, Professorin für moderne Geschichte an der Unical, war Jacques Guenot besonders an der Internationalisierung der Hochschule interessiert. «Er hat mit der halben Welt Abmachungen getroffen. Er war der Erste, der einen Schüler- und Lehreraustausch mit den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks und mit China förderte.»
Seine Bemühungen wurden auch vom ehemaligen Präsidenten der Italienischen Republik, Carlo Azeglio Ciampi, anerkannt. Dieser hob 2005 den Beitrag Guenots zur «Stärkung des kulturellen Zusammenhalts in Europa» hervor.
Guenot sei auch vom Konzept des «Social Housing» fasziniert gewesen, so Petrusewicz weiter. «Er beteiligte sich an nachhaltigen Wohnprojekten. In Kalabrien wird viel gebaut, auch wegen der ‹Ndrangheta, die Gelder in der Bauwirtschaft wäscht. Jacques wollte bereits existierende und unbenutzte Gebäude in Wohnungen für Junge und Immigranten umwandeln.»
Entweder trinken oder fahren
Der Professor lebte zusammen mit seiner Frau auf einem Hügel in der Nähe der Universität, in einem restaurierten alten Bauernhaus. «Er hatte Kaninchen, Ziegen, Hühner und adoptierte alle streunenden Hunde der Gegend. Er zog Weintrauben und war gerne mitten in der Natur. Er wollte eine hervorragende Landwirtschaft fördern», sagt Petrusewicz, die auch Guenots Nachbarin war.
Guenot war ein unabhängiger Geist. Er ging immer zu Fuss, weil er nie Autofahren lernen wollte. «Er sagte, in der Schweiz müsse man sich entscheiden. Entweder man trinke, oder man fahre. Er hat sich fürs Trinken entschieden. Aber er war überhaupt nicht ein Trinker, sondern liebte einfach nur guten Wein», sagt seine Ex-Assistentin Vita Lentini.
Ein Schweizer durch und durch
Auch wenn er sich sehr für die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme Kalabriens interessiert habe, sei Guenot «durch und durch Schweizer» geblieben, betont Lentini: «Er schaute Schweizer Fernsehen und las die Zeitungen seines Landes. Und er war immer absolut pünktlich. Ich holte ihn immer mit dem Auto ab: Wenn ich mich verspätet hatte, tadelte er mich, und wenn ich zu früh da war, liess er mich im Auto warten.»
Und als perfekter Schweizer feierte er auch jedes Jahr den Nationalfeiertag am 1. AugustExterner Link. «Überall hingen rote Fähnchen mit weissem Schweizerkreuz. Wir waren alle ‹gezwungen›, am Fest teilzunehmen», erinnert sich Professorin Lida Barazzutti, auch sie eine Nachbarin der Guenots.
Gastfreundlich und gutmütig wie der Professor war, hatte er allerdings auch einen Makel: «Vielleicht war er etwas naiv», sagt Petrusewicz. «Er konnte die Menschen nicht richtig einschätzen, und oft nutzten sie seine Grosszügigkeit aus. Jacques dachte nicht immer an die Folgen seines Handelns.»
Eine Charakterschwäche, die in einer Kontroverse gipfelte, als er beschloss, das Engagement und die Arbeit eines bekannten Italieners zu würdigen: Silvio Berlusconi.
«Guenot glaubte einfach, dass Berlusconi jenen Unternehmergeist verkörperte, der auf nachhaltige Entwicklung ausgerichtet war und den er immer bewundert hatte.» Marta Petrusewicz, Professorin
Honoris causa an Berlusconi
Es war 1991, und Silvio Berlusconi war bereits ein erfolgreicher Unternehmer. Der in Italien «Cavaliere» (Ritter) genannte Berlusconi stand damals an der Spitze des Finanzunternehmens Fininvest, war aber noch nicht in der Politik tätig.
«Jacques war nicht sehr vertraut mit den italienischen Angelegenheiten», sagt Petrusewicz. «Er glaubte einfach, dass Berlusconi jenen Unternehmergeist verkörperte, der auf nachhaltige Entwicklung ausgerichtet war und den er immer bewundert hatte.»
Guenot, damals Dekan der Fakultät, beschloss deshalb, Berlusconi die Ehrendoktorwürde in Wirtschaftsingenieurwesen zu verleihen. «Jacques gab etwa 10 Millionen alte Lire (etwa 6500 Franken) aus, nur für Blumen», erzählt Lentini. «Aber er bat nicht die Fakultät um das Geld, sondern zahlte alles aus seiner eigenen Tasche!»
Laut den lokalen Zeitungen führte der Entscheid der Unical zu Protesten bei Studierenden und akademischen Mitgliedern der Universität. «Wir waren damit nicht einverstanden und hatten Jacques davon abgeraten. Aber er hatte seinen eigenen Kopf», kommentiert Lentini. Für die Unical war es ein historisches Ereignis. Berlusconi gründete drei Jahre später seine Partei Forza Italia.
Wissen in die Schulen bringen
Am 5. Februar 2015 starb Jacques Guenot im Alter von 73 Jahren, wenige Monate nach seiner Frau. «Ein vorzeitiger Tod. Er hätte uns noch so viel geben können», sagt Lentini. Etwas mehr als ein Jahr danach entschied eine Gruppe von Dozenten und Freunden, einen Verein zu seiner EhreExterner Link zu gründen. «Wir wollen nicht nur an seine Person und sein Werk erinnern, sondern auch die Verbreitung technisch-wissenschaftlichen Wissens in den Schulen Kalabriens fördern», sagt Vereinspräsidentin Marta Petrusewicz.
Ein Plan ist auch, das Haus der Guenots, in dem noch immer seine vielen Bücher aufbewahrt werden, zum Sitz des Vereins zu machen. «Wir möchten, dass es zu einem Ort für Begegnungen und Debatten wird, an dem wir vielleicht Gastdozenten unterbringen können», sagt Petrusewicz.
In der Zwischenzeit besucht Vita Lentini weiterhin regelmässig das Grab von Guenot, wo er neben seiner Frau und seiner Mutter begraben wurde. «Ich vermisse ihn sehr. Aber ich fühle mich ihm immer noch nah.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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