Kernkraftwerke sind nicht für den Rückbau gebaut
Die Schweizer Kernkraftwerke müssen dereinst vollständig abgebaut werden. Dass das Jahrzehnte dauert, hat mit der Kontamination des Reaktorgebäudes, aber auch mit der komplexen Logistik zu tun. swissinfo.ch hat in Deutschland ein KKW im Rückbau besucht.
Das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich liegt am Rhein, 50 Kilometer südlich von Bonn. Dass es bereits seit 2004 zurückgebaut, also abgebrochen wird, ist von aussen nicht zu sehen. Drinnen, im Reaktorgebäude, zersägen Arbeiter in Zelten, die mit Luftabsauganlagen ausgerüstet sind, Metallteile. Andere säubern die Teile mit einem Hochdruck-Wasserstrahl. Leerräume zeugen davon, dass hier Motoren, Pumpen, Rohrleitungen, und Dampferzeuger ausgebaut worden sind.
«Von den 13’000 Tonnen Material, die wir aus dem Kontrollbereich nach draussen bringen müssen, sind 9200 Tonnen bereits draussen», sagt der Ingenieur Walter Hackel, der die Rückbauarbeiten seit Beginn leitet. «Insgesamt müssen 60’000 Tonnen Material raus. Das ist schon rein von der Menge her eine grosse Herausforderung und dauert seine Zeit.»
Ausserhalb des Kontrollbereiches ist das Material nicht kontaminiert. Die Turbine und der Generator sind aus der Maschinenhalle ausgebaut worden und sollen in Ägypten neu aufgebaut werden.
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Nie fertig gebaut – noch nicht abgerissen
Reinigen mit Brachialdruck
Die 13’000 Tonnen aus dem Kontrollbereich hingegen müssen zum Teil dekontaminiert, also von der Verstrahlung befreit werden. «Wir müssen das Material so zerlegen, dass wir jede Oberfläche messtechnisch bewerten und nachweisen können, dass sie frei ist von Kontamination. Im Kontrollbereich bedeutet das, dass wir an die Innenseiten der Oberfläche müssen. Die Pumpen und Rohre waren ja innen kontaminiert», sagt Hackel.
Technisch bedeutet Dekontaminieren Hochdruckreinigung mit einem Wasserstrahl, der einen brachialen Druck von bis zu 2000 bar aufbaut. Das entspricht etwa einer Wassersäule mit einer Höhe von 20’000 Metern. «Da gehen ganze Schichten weg», sagt Hackel.
Die «Kunst beim Rückbau» bestehe darin, «das ganze KKW so zu zerlegen, dass möglichst viel in den normalen Schrottkreislauf geht. Was übrig bleibt, das ist radioaktiver Abfall, und das muss möglichst wenig sein». Mülheim-Kärlich wird voraussichtlich 3000 Tonnen radioaktiven Abfall hinterlassen. Das Gesamtgewicht der Anlage beträgt inklusive Beton 500’000 Tonnen, die allesamt rückgebaut und entsorgt werden müssen.
Stillegung und Rückbau der Schweizer KKW und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle wird laut den aktuellen offiziellen Zahlen dereinst 20.6 Milliarden Franken kosten.
Das sind 10 Prozent mehr als die Kostenschätzungen aus dem Jahr 2006 ergeben hatten.
Das hat zur Folge, dass die KKW-Betreiber mehr in die Entsorgungsfonds einbezahlen müssen als bisher.
Bis zur Abschaltung der KKW muss der Entsorgungsfonds 9,2 Milliarden enthalten. Per Ende 2011 waren es 2.82 Milliarden, was jährliche Einzahlungen in Höhe von 118,3 Millionen Franken erfordert.
Der Stilllegungsfonds muss dereinst 4.16 Milliarden Franken enthalten. Per Ende 2011 waren es 1.33 Milliarden, was jährliche Einzahlungen in Höhe von 56 Millionen Franken erfordert.
Die jährlichen Einzahlungen werden aufgrund einer Laufzeit von 50 Jahren pro AKW berechnet. Geht ein Werk früher vom Netz, fehlen den Fonds die entsprechenden Gelder.
In diesem Fall schreibt das Kernenergiegesetz Nachschusspflicht vor. Die AKW-Betreiber haften solidarisch dafür, dass die Fonds ihre Zielmarken erreichen.
Logistik neu aufbauen
Vom Moment, an dem ein KKW definitiv vom Netz genommen wird, bis zum Tag, an dem das Gelände wieder als grüne Wiese daliegt, vergehen gut und gerne zwanzig oder mehr Jahre. Das hat mehrere Gründe.
Zuerst muss das KKW eine so genannte Nachbetriebsphase von bis zu sieben Jahren durchlaufen. In dieser Zeit kühlen die Brennelemente aus und werden anschliessend abtransportiert. Die Rückbauarbeiten müssen anschliessend von den zuständigen Behörden genehmigt und während der ganzen Dauer überwacht werden.
Grundsätzlich sei «das Kraftwerk ist nicht für den Rückbau gemacht; sagt Hackel. «Wir hatten keine Logistik, um jeden Tag hundert Tonnen Material rauszubringen. Wir mussten die Logistik zuerst aufbauen, Transportwege schaffen, Hebezeuge einbauen, Flächen bereit stellen, wo die Installationen zerlegt, dekontaminiert und gemessen werden können». Der Aufbau der Logistik im KKW Mülheim-Kärlich hat rund zwei Jahre gedauert.
Säuberlich sortiert in Körben
Die Apparaturen aus dem Kontrollbereich – also 13’000 Tonnen Material – landen nach der Reinigung säuberlich nach Material sortiert und kompakt portioniert in 80 Zentimeter hohe und breite und120 Zentimeter lange Gitterkörbe. Jeder einzelne Korb wird in einer eigens dafür gebauten Halle mit einer Freimessanlage auf allfällig noch vorhandene Strahlungen kontrolliert.
Anschliessend übernimmt ein Schrotthändler das Material und führt es dem Recycling-Zyklus zu. «Auf dem Höhepunkt der Arbeiten haben wir täglich fünf Tonnen Material durch die Freimessanlage geschleust. Das sind zwischen 15 und 30 Gitterboxen, und die müssen alle bewegt werden.»
Beznau I
Inbetriebnahme: 1969
Beznau II / Mühleberg
Inbetriebnahme: 1972
Gösgen
Inbetriebnahme: 1978
Leibstadt
Inbetriebnahme: 1984
Warten auf ein Endlager
Wenn das Reaktorgebäude leergeräumt sein wird, dann bleiben noch der Reaktor und die Reaktorhülle. Hier wird der Abbau mit ferngesteuerten Instrumenten erfolgen, denn «die Strahlenbelastung ist zu hoch», so Hackel. Der Reaktor muss anschliessend in einem Endlager für radioaktive Abfälle entsorgt werden.
Hackel geht davon aus, dass das geplante Endlager «Konrad» in einem stillgelegten Erzbergwerk, dessen Eröffnung schon mehrere Male verschoben werden musste, frühestens im Jahr 2025 in Betrieb gehen wird. «Deshalb überlegen wir gerade, ob es Sinn macht, den Reaktor auszubauen, zu zerlegen und in ein Zwischenlager zu transportieren, oder ob wir ihn drin lassen, bis das Endlager aufgeht.»
Kurze Laufzeit – geringere Kontamination
Grundsätzlich wird der Rückbau der Schweizer KKW dereinst allerdings anspruchsvoller sein als jener von Mülheim-Kärlich. Das hat damit zu tun, dass das deutsche Kraftwerk lediglich 13 Monate Strom produzierte. Es musste 1988 wegen einem baurechtlichen Behördenfehler abgestellt werden. Bis zum Beginn der Rückbauarbeiten im Jahr 2004 waren 16 Jahre vergangen. In dieser Zeit hatte ein grosser Teil der Strahlungen bereits mehrere Halbwertszeiten hinter sich.
«Wir haben es vor allem mit Kobalt zu tun», sagt Hackel. «Der hat eine Halbwertszeit von 5 Jahren. Die Strahlung war also bereits auf die Stärke von einem Achtel abgeklungen.»
Weniger Strahlung bedeutet weniger und weniger stark kontaminierte Stellen. «Bei Anlangen, die lange gelaufen sind, geht Kontamination bis in die Gebäudestruktur. Da kann irgendwann ein Dampfaustritt oder ein Leck gewesen sein. Dort werden sie irgend mal den Putz abtragen oder ein Stück Estrichboden rausnehmen müssen.»
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