Im Schatten des Spitzen Steins
Die UN-Klimakonferenz soll die Staaten zu ehrgeizigeren Schutzmassnahmen bewegen. Doch vielerorts ist es bereits zu spät. Auch im Alpendorf Kandersteg kämpfen die Einwohner:innen mit den Folgen des Klimawandels. Oberhalb des Oeschinensees bröckelt der Fels. Es drohen Überflutungen und Erdrutsche.
In der Mitte eines smaragdblauen Bergsees mühen sich zwei Touristen in einem Ruderboot ab. «Ihr müsst ziehen, nicht schieben!», ruft Robin vom Ufer aus.
Der junge Bootsführer lächelt und nimmt einen langen Zug an seiner Zigarette. Jedes Jahr besuchen Tausende von Menschen den spektakulären Oeschinensee und seine umliegende Bergwelt oberhalb von Kandersteg.
An diesem Herbstmorgen ist es jedoch ruhig. Nur wenige wollen eines seiner Boote mieten oder ein Bad im eiskalten Wasser nehmen.
Die Morgensonne brennt auf die majestätischen Kronen der Dreitausender. Plötzlich hallt der Klang von Feuerwerkskörpern über den See. Besorgte Tourist:innen blinzeln in Richtung der Staubwolken, die über der Bergflanke aufsteigen.
«Das ist nur ein wenig Geröll vom Spitze Stei», sagt Robin und winkt ab. «Letzte Nacht war es schlimmer: Mein Chef erzählte mir, dass um zwei Uhr morgens ein paar richtig grosse Steine herunterdonnerten.»
Robin macht sich wenig Sorgen darüber, dass Felsen in den See stürzen und seinen Bootsverleih in den Ruin treiben. Aber er sorgt sich um sein Dorf, das im Falle eines Einsturzes des Spitzen Steins direkt von Erdrutschen, Schlammlawinen und Überschwemmungen betroffen wäre.
Eine 30-sekündige Google Earth Animation von Kandersteg und dem Spitzer Stein:
Auf dem Toblerone-förmigen Spitzen Stein (2.974m) droht die Katastrophe. Hier ist fünfmal so viel Gestein in Bewegung, wie 2017 auf das Dorf Bondo fielen. Im schlimmsten Fall könnten zwanzig Millionen Kubikmeter Kalkstein und Mergel – das entspricht der Grösse von acht Pyramiden – zusammen mit anderem Geröll und Wasser herabstürzen und Kandersteg überfluten.
Vom 31. Oktober bis 12. November treffen sich Regierungsvertreterinnen, Experten und Aktivistinnen im schottischen Glasgow zur 26. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP26). Ziel des Gipfels ist es, ehrgeizigere Klimaschutzmassnahmen der rund 200 Staaten auszuhandeln, die das Pariser Abkommen von 2015 unterzeichnet und sich darauf geeinigt haben, den durchschnittlichen Temperaturanstieg auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen.
Die Schweiz will vor allem für drei Massnahmen kämpfen: Erstens soll die Reduktion von Treibhausgasemissionen, die ein Land im Ausland verursacht, nur einmal angerechnet werden (und nicht für beide Länder). Zudem möchte die Schweiz, dass mehr investiert wird, insbesondere in Klimaschutzmassnahmen in ärmeren Ländern. Schliesslich wird sie sich dafür einsetzen, dass jedes Land Strategien entwickelt, um bis 2050 klimaneutral zu werden.
Der Permafrost verschwindet
Die Klimakrise, die im Mittelpunkt der laufenden UN-Klimakonferenz 2021 (kurz COP26, siehe Infobox) in Glasgow steht, verändert auch die Schweizer Alpen. Die Temperaturen steigen, die Gletscher schmelzen, und der auftauende Permafrost macht die Berghänge instabil.
Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) schätzt, dass 6 bis 8 Prozent der Schweizer Landesfläche instabil sind. Die Bewohner:innen von Siedlungen unterhalb von Permafrost-Gebieten müssen in den kommenden Jahren vermehrt mit Erdrutschen und Murgängen rechnen.
Permafrost und die Bedrohung der Alpenregionen werden bei den COP26-Gesprächen nicht direkt thematisiert. In Glasgow wird jedoch darüber diskutiert, wie sich Gemeinden an verheerende klimabedingte Ereignisse anpassen können. Jedes Land muss in einem Dokument Bemühungen, Zukunftspläne und Bedürfnisse zur Anpassung an den Klimawandel darlegen.
Für die Schweiz konzentriert sich die Strategie, welche für den Zeitraum 2020-2025 aktualisiert wurde, auf 12 Schwerpunktbereiche. Dazu gehören die Bewältigung des erhöhten Risikos von Erdrutschen, Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürreperioden, höhere Schneefallgrenzen und die Verschlechterung der Wasser-, Boden- und Luftqualität.
Der Trend zur Erwärmung des Permafrostes ist in den gesamten Schweizer Alpen sichtbar. Das Permos-Netzwerk hat während den letzten 20 Jahren den Zustand des Permafrostes an 30 Standorten beobachtet und dokumentiert. Die Messungen zeichnen ein düsteres Bild: Die Permafrost-Temperaturen haben an vielen hochgelegenen Standorten Rekordwerte erreicht, ebenso die Dicke der aktiven Schicht (oberste Schicht des Bodens, die im Sommer auftaut) sowie die Geschwindigkeit der Blockgletscher.
Am Spitze Stei sind Felsstürze nichts Neues. Aber während den letzten zehn Jahren ist der Berg instabiler geworden. Brüchige Zonen haben sich ausgedehnt, und im freiliegenden Felsgestein sind grosse Risse entstanden. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Es wird angenommen, dass das Auftauen des Permafrosts die Instabilität in den oberen Teilen verschlimmert hat. Höhere Temperaturen haben das Eis schmelzen lassen, so dass Wasser in das darunter liegende Gestein eindringen und zur Instabilität beitragen konnte.
«Während den letzten drei Jahren beobachteten wir, wie der ganze Berg langsam wegschmilzt», sagt Robert Kenner, Permafrost-Experte am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (WSL).
Der Berg wird dauernd überwacht
Das Problem ist, dass sich die Instabilität beschleunigt. Die enormen Schneefälle im letzten Winter und die heftigen Regenfälle im Sommer haben das Tempo erhöht, mit dem sich der Spitze Stein zu Tal bewegt, sagt Nils Hählen, Leiter der Abteilung Naturgefahren des Kantons Bern.
«Der Abschnitt, der am schnellsten abrutscht, bewegt sich etwa 6 bis 8 Meter pro Jahr, das ist sehr viel», erklärt er. «Wir haben nach vergleichbaren Fällen in den Alpen und auch anderswo auf der Welt gesucht, aber es war schwierig, derart hohe Verschiebungsraten zu finden.»
Seit 2018 beobachten Hählen und sein Expertenteam den Berg genau. Sie haben ein 24-Stunden-Beobachtungsnetz aufgebaut, das Dutzende Radargeräte, GPS, Kameras und Niederschlagsmessgeräte umfasst.
Laut Hählen ist es unwahrscheinlich, dass alle 20 Millionen Kubikmeter auf einmal herunterstürzen werden. Aber in den nächsten 5 bis 10 Jahren seien kleinere Lawinen von 1 bis 8 Millionen Kubikmetern möglich.
Er warnt: «Im schlimmsten Fall könnte eine Felslawine die Nähe des Dorfes erreichen, jedoch nicht das Dorf selbst. Mehr Sorgen bereiten uns sekundäre Prozesse wie Murgänge». Ein grösserer Erdrutsch, begleitet von starken Regenfällen und Schlammlawinen, könnte Teile von Kandersteg überschwemmen.
Schutznetz soll helfen
Mit wehender roter Krawatte steht Kanderstegs Gemeindepräsident René Maeder am Rande eines zehn Meter breiten Dammes in der Nähe des Dorfzentrums. Der 67-Jährige, der im 1300-Seelen-Dorf geboren wurde, zeigt auf die Stelle, wo ein grosses Metallnetz aufgespannt werden soll. Es soll dereinst Steine und Geröll auffangen, die durch Erdrutsche am Spitzen Stein ausgelöst werden. Das Schutzbauwerk, das sich in der Endphase befindet, kostet 11,2 Millionen Franken.
«Das sind die Massnahmen, die bei kleinen bis mittleren Ereignissen helfen. Aber gegen grosse Bergstürze nützt das nichts», sagt Maeder.
Bisher haben kleinere Felsstürze und die Warnungen von Geolog:innen zur Sperrung von Wanderwegen und Sektoren direkt unterhalb des Spitzen Steins geführt. Die Tourist:innen zeigen sich jedoch unbeeindruckt, und die Hotelbetreiber:innen sagen, dass es keine spürbaren Auswirkungen auf den Tourismus gegeben habe.
Bei den Einheimischen sind die Meinungen geteilt. Die Älteren sind eher skeptisch.
«Ich fühle mich eigentlich sicher», sagt die ältere Kanderstegerin Doris Wandfluh. «Gegen die ersten grossen Brocken sind wir nun abgesichert. Und wenn weitere folgen, wird es vielleicht kleinere Schäden geben, aber ich denke, die Anwohner werden rechtzeitig gewarnt, und was kaputt geht, kann auch wieder aufgebaut werden.»
Sie sagt, dass alteingesessene Bewohner:innen an Naturgefahren wie Lawinen oder Stürme eher gewöhnt seien – im Gegensatz zu Neuankömmlingen, die oft Angst hätten, «weil sie Bilder der Bondo-Katastrophe vor Augen haben».
YouTube Video des Bergsturzes am Piz Cengalo in 2017, welcher das Dorf Bondo im Kanton Graubünden in der Süd-Ost-Schweiz traf:
Der Bootsführer Robin hat Zweifel an den Schutzmassnahmen. «Einige sagen, dass der Damm schlecht geplant und unten zu wenig breit ist; ich stimme ihnen zu.»
«Im Grunde ein Baustopp»
Dank der umfassenden High-Tech-Überwachung werden die Anwohner lange vor einer drohenden Katastrophe gewarnt. Die Bewohner und auch die zahlreichen Nutztiere im Dorf sollten rechtzeitig evakuiert werden können. Aber Häuser und Infrastruktur könnten beschädigt werden.
Die Steinschlaggefahr bereitet Gemeindepräsident Maeder und vielen Einheimischen grosses Kopfzerbrechen. Im vergangenen Herbst haben die Berner Behörden eine neue Gefahrenkarte von Kandersteg vorgelegt, die der neuen Situation Rechnung trägt. Fast zwei Drittel des Dorfes sind als rotes oder oranges Gefahrengebiet eingestuft worden, auch Maeders Gemeindeamt. Es dürfen keine neuen Gebäude errichtet und zerstörte Häuser nicht wieder aufgebaut werden. Nur kleine Renovierungen und Erweiterungen sind erlaubt.
«Das ist im Grunde ein Baustopp und für das lokale Gewerbe eine Katastrophe», sagt Doris Wandfluhs Mann Peter, der Architekt ist. Wegen der Gefahrenzonen wurden kürzlich fünf Baugesuche im Wert von 3,5 Millionen Franken abgelehnt.
Einige Anwohner:innen haben sich letztes Jahr an Maeder gewandt und ihn gebeten, sich gegen die neue Gefahrenzone zu wehren, die ihrer Meinung nach übertrieben ist und von den Gebäudeversicherungen auferlegt wird. Ein Entscheid über mögliche Anpassungen wird im Dezember erwartet.
«Wir haben heute die Tendenz, alles absichern zu wollen. Aber das geht einfach nicht», sagt der Gemeindepräsident.
«Wie sehr wollen wir uns für ein Ereignis versichern, das vielleicht nur einen Sachschaden verursacht?», fragt Maeder.
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Das Ende des ewigen Eises
Die Bewohner:innen von Kandersteg leben seit Generationen mit den Gefahren. Die Frage bleibt: Welche Risiken sind sie bereit einzugehen?
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