Wo Grenzen zwischen der Schweiz und Italien zerfliessen
Durch das Abschmelzen der Alpengletscher aufgrund der Klimaaufheizung ist die Grenze zwischen der Schweiz und Italien ständig in Bewegung. Auf den Gipfeln der Berge macht es nur wenige Meter Unterschied aus. Trotzdem kann es zu Konflikten führen.
Im Alpenraum folgen die Grenzen natürlichen Gegebenheiten, vor allem Wasserscheidelinien, die felsigen Kreten und Gletscherkämmen entlangführen. Grenzmarkierungen sind selten. Am ehesten trifft man sie zum Beispiel auf Pässen an.
«In den Alpen werden die Grenzen durch die Fliessrichtung des Wassers bestimmt», sagt Alain Wicht, Verantwortlicher für die Landesgrenzen beim Bundesamt für Landestopografie swisstopoExterner Link.
Aufgrund der globalen Erwärmung und des Abschmelzens von Eis und Schnee können sich die Wasserscheide-Linien jedoch verschieben. Und wenn sich die Natur verändert, «müssen Grenzen angepasst werden», sagt Wicht.
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Das Konzept der «mobilen Grenzen» wurde auch in einem 2008 von der Schweiz und Italien unterzeichneten Abkommen anerkannt. Von den 594 km Wasserscheidelinien zwischen den beiden Ländern befinden sich rund 40% auf Schneefeldern oder Gletschern und sind daher Veränderungen der Natur unterworfen. Im Unterschied dazu liegt ein grosser Teil der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich und zu Österreich auf Fels.
Wicht weist darauf hin, dass die Definition einer neuen Grenze in der Regel nicht zu grossen Unterschieden führt, da sie abgelegene und schwer zugängliche Gebiete betrifft. In einem Fall konnten sich die Schweiz und Italien jedoch nicht einigen. Es handelt sich um das Gebiet der Testa Grigia und des Oberen Theodul-GletschersExterner Link auf über 3400 Metern Höhe an der Grenze zwischen dem Aostatal und dem Kanton Wallis.
Schutzhütte der Zwietracht
Im Gebiet des Matterhorns ist der Gletscher zu Italien in den Jahren 1940 und 2000 stark geschmolzen. Die Wasserscheidelinie, die nun auf blankem Fels liegt, wurde um mehrere Meter verschoben, wie in der folgenden Abbildung dargestellt.
Gemäss den Schweizer Behörden muss die Grenze an die neue alpine Morphologie angepasst werden. Italien will aber am Status quo festhalten.
Stein des Anstosses ist das Rifugio Guide del CervinoExterner Link (Matterhorn-Hütte) auf dem Rosa-Plateau, auf dem Gebiet der italienischen Gemeinde Valtournenche (Aostatal). Gemäss der schweizerischen Version würden sich nun rund zwei Drittel dieser Hütte auf Schweizer Territorium befinden.
Dieses 1984 erbaute Berghütten-Restaurant ist ein beliebtes Ziel für Skifahrer, die von Breuil-Cervinia oder Zermatt kommen, und für die lokale Wirtschaft lebenswichtig. «Dies ist nicht nur trostloses Gelände in grosser Höhe. Es gibt wirtschaftliche Interessen», sagt Wicht.
Vor einigen Jahren erfuhr die Bergstation der SeilbahnExterner Link auf den Furggsattel-Gletscher in der gleichen Region ein ähnliches Schicksal. Die ursprünglich auf italienischem Territorium gebaute Bergstation, wurde durch das Abschmelzen des Eises «verschoben» und gehört heute zur Schweiz. Das Unternehmen, das es betreibt, muss daher die jährliche Konzessionsgebühr nicht mehr an die italienischen Behörden entrichten.
Entscheidung bis Ende Jahr?
Der Streit über die neue Grenzroute war nicht nur Quelle einer Unstimmigkeit auf diplomatischer Ebene, sondern hatte auch direkte Folgen für die Verantwortlichen der Unterkünfte, die ihr Renovierungsprojekt aussetzen mussten.
«In der gegenwärtigen Situation anerkennt keines der beiden Länder die vom anderen Land festgelegte Grenzlinie. Deshalb können die Italiener nicht ohne unsere Erlaubnis bauen und umgekehrt», erklärt Wicht.
Die schweizerisch-italienische Grenzkommission, der auch ein Mitarbeiter von swisstopo angehört, versucht derzeit, die Wogen zu glätten. «Wir arbeiten mit unseren italienischen Kollegen an einer beidseitigen Anerkennung der Grenzen. Das Ziel ist eine Vereinbarung zwischen den Parteien, dass das Refugio auf italienischem Boden bleibt», sagt Wicht. Als Ausgleich erwartet die Schweiz, dass ihr eine gleichwertige Fläche zugeteilt wird.
Die nächste Sitzung des Ausschusses, die für Mai geplant war, wurde wegen der Coronavirus-Krise auf Ende November verschoben. Der Ausgang der Diskussionen bleibt offen. Gewissheit besteht hingegen, dass mit der globalen Erwärmung immer mehr Grenzen zu überprüfen sein werden.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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