Interaktion ohne Berührung: Wie KI eine neue Realität schafft
Mitten in der Covid-19-Pandemie versucht ein schweizerisch-südkoreanisches Forschungsprojekt, öffentliche Räume durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) wieder zugänglich zu machen – berührungsfrei.
Händeschütteln. Umarmen. Diese Gesten gehören heute der Vergangenheit an. In Zeiten der Pandemie sind Berührungen zum Tabu geworden. Ein Projekt der Südschweizer Hochschule für angewandte Wissenschaften und Künste (SUPSI) in Zusammenarbeit mit der Hongik-Universität in Seoul versucht, sich eine «berührungsfreie» Gesellschaft vorzustellen, durch den Einsatz intelligenter Schnittstellen auf der Basis von maschinellem Lernen.
Im Rahmen eines Workshops zu maschinellem Lernen entwickelten südkoreanische und schweizerische Studierende und Forschende das Projekt «Untouched interactions through machine learning».
Das Projekt wurde während der Veranstaltung «Science Club» im März 2021 vorgestellt, die vom Büro für Wissenschaft und Technologie der Schweizer Botschaft in Südkorea organisiert wurde. SWI Swissinfo.ch moderierte die Veranstaltung. Hier erfahren Sie mehr darüberExterner Link.
Solche Schnittstellen zielen nicht nur ab auf die Einhaltung von Schutzmassnahmen wie das Tragen einer Maske und das Einhalten von Abstand, sondern vor allem darauf, Gemeinschaftsräume völlig neu zu erfinden.
Stellen Sie sich vor, Sie können wieder mit einer Gruppe von Freunden oder Ihrer Familie an einem Tisch in einem Café sitzen. Plaudern und lachen und dabei in aller Sicherheit einen Drink geniessen, trotz der Pandemie.
Wie soll das möglich sein? Ein intelligentes System, das die Interaktionen der Gäste verwaltet, sagt Ihnen, wann Sie trinken dürfen und wann Sie Ihre Maske wieder anziehen müssen, damit nicht jede und jeder diese gleichzeitig abnimmt.
Kulturtechnologie
«Das Ziel ist es, KI nicht als eine Steuerungstechnologie zu verwenden, die ‹hinter den Kulissen› sitzt, sondern als ein Werkzeug, das an das tägliche Leben angepasst ist», sagt Serena Cangiano. Die Forscherin ist für das Fablab zuständig, das Labor für visuelle Kultur der SUPSI. Sie koordiniert das Projekt zusammen mit Jae Yeop Kim, einem Professor am Fachbereich für Industriedesign der privaten Hongik-Universität in Seoul.
Angesichts der Herausforderungen, welche die Pandemie mit sich bringt, zielt die schweizerisch-koreanische Forschungsgruppe darauf ab, den öffentlichen Raum neu zu gestalten und unsere Beziehung zur Technologie in verschiedenen sozialen Kontexten akzeptabler und natürlicher zu gestalten.
Die Digitalisierung trifft zunehmend auf eine kollaborative Wirtschaft, die auf den Austausch und das Teilen von physischen Objekten ausgerichtet ist. Denken Sie an gemeinsam genutzte private Transportsysteme wie Autos, Fahrräder, Elektroroller oder Scooter, die auch in der Schweiz immer mehr Verbreitung finden.
Bei diesen Infrastrukturen der so genannten Sharing Economy ist der Tastsinn nach wie vor der Hauptsinn, auf den sich die Menschen verlassen müssen. Zum Beispiel, um eines der Fahrzeuge zu entriegeln oder zu fahren.
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Die Maschine und die Moral
«Im öffentlichen Raum experimentieren wir ständig mit gemeinsam genutzten Schnittstellen», sagt Cangiano. «Unsere Forschung konzentriert sich auf die Gestaltung völlig berührungsfreier Schnittstellen und darauf, wie wir unsere alltäglichen Interaktionen übersetzen und neu überdenken können.»
Geht es auch ohne Berührung?
Laut der Forscherin Laura Crucianelli ist Berührung entscheidend, um unseren Geist und Körper mit der sozialen Welt zu verbinden. «Der Tastsinn ist der erste Sinn, durch den wir der Welt begegnen, und der letzte, der uns verlässt, wenn wir an der Schwelle zum Tod stehen», schrieb sie in einem Artikel, der in Aeon erschienExterner Link.
Der Tastsinn ist der einzige unserer Sinne, der eine Gegenseitigkeit voraussetzt. Mehrere Studien haben die Bedeutung von Berührungen für die Entwicklung des Gehirns gezeigt. Sie brachten Verhaltensweisen und kognitive Defizite bei Waisenkindern mit einem Mangel an körperlicher Affektivität in den frühen Lebensjahren in Verbindung, schreibt Crucianelli.
Mehrere UntersuchungenExterner Link haben den Mangel an Kontaktmöglichkeiten während der Pandemie mit erhöhten psychischen Problemen in der Bevölkerung in Verbindung gebracht.
Wäre demnach eine berührungsfreie Gesellschaft wirklich wünschenswert? «Covid-19 hat unser Leben verändert: die Art, wie wir arbeiten, sprechen und essen», sagt Jae Yeop Kim von der Hongik-Universität. Kim glaubt, dass die Pandemie uns zu einem Kurswechsel zwingt und wir Technologien wie maschinelles Lernen nutzen sollten, um eine neue Idee von Gesellschaft zu entwickeln.
Ausgehend von diesem Konzept arbeiteten Designerinnen und Designer und die Studierenden eines von den beiden Universitäten organisierten Workshops an verschiedenen Projekten, die auf berührungsloser Interaktivität basieren. So etwa «Untouched Karaoke» – ein Gruppenkaraoke, bei dem die Musik stoppt, sobald jemand keine Maske trägt oder das Mikrofon nicht in der richtigen Entfernung hält.
Ein weiteres Projekt sieht den Einsatz von Gesichtserkennungs-Software vor, um Personen zu identifizieren, die keine Gesichtsmasken tragen, und deren Verwendung zu fördern. «Das Tragen einer Maske ist nicht nur eine soziale Frage, sondern auch eine Frage der individuellen Freiheit und Verantwortung», sagt der koreanische Professor.
Viele dieser Projekte wurden auf der Grundlage gemeinsamer kultureller Erfahrungen in Südkorea entwickelt. Aber das schweizerisch-koreanische Team berücksichtigt und analysiert die Auswirkungen dieser Lösungen auch in anderen Teilen der Welt. Mit Blick auf den Westen versuchte das Team, alltägliche Vorgänge ganzheitlicher und «hygienischer» zu gestalten.
Ein europäisches Entwicklerteam entwickelte zum Beispiel Desinfektionsmittel-Spender, die sich je nach Körpergrösse der Benutzerin, des Benutzers senken oder heben. Ein anderes Projekt optimierte die Armaturen von öffentlichen Toiletten und machte sie «berührungslos». Das System nutzt maschinelles Lernen, um individuelle Gesten zu erkennen und die Wassertemperatur einzustellen – und das alles ohne eine einzige Berührung. Eine Simulation ist online verfügbarExterner Link.
Universelle Technologie
Laut Cangiano ermöglichte die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Südkorea eine sehr innovative und kreative Herangehensweise an die Pandemie, bei der die einzigartigen Stärken beider Länder in der Technologieforschung genutzt worden seien.
«Südkorea ist ein technologisch sehr fortschrittliches Land mit einer starken Designkultur, genau wie die Schweiz», sagt die Forscherin. Cangiano weist darauf hin, dass die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern so gut funktioniere, weil sie beide auf ein starkes technologisches «Erbe» zurückblicken würden.
Aber Beziehungen und Interaktionen sind nicht überall gleich. Cangiano nennt als Beispiel die Schutzmasken, die in Europa und Asien sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. «Wenn wir neue Geräte und damit neue Wege der Interaktion entwerfen, müssen wir uns bewusst sein, dass sie in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedlich akzeptiert werden», betont sie.
Während in der ersten Phase des Projekts die Schaffung eines lebhaften Rahmens für den internationalen Austausch im Vordergrund stand, soll nun die Zusammenarbeit zwischen den beiden Universitäten weiter gefördert werden. In einer letzten Phase sollen die Zivilgesellschaft und andere Organisationen und Institutionen einbezogen werden.
Das Ziel ist es, «universelle» Systeme zu schaffen, die in verschiedenen kulturellen Umgebungen eingesetzt werden können. «Wir wollen nicht eine Lösung entwickeln, die nur für die Schweiz und Südkorea ideal ist», stellt Cangiano klar. «Wir wollen einen designbasierten Ansatz und maschinelles Lernen nutzen, um personalisiertere und umfassendere Erfahrungen zu schaffen, die in jedem kulturellen Kontext gelten können.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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