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Massiv mehr Lawinensprengungen im Rekordwinter

Vom Helikopter aus wird in den Alpen mit Sprengstoff eine Lawine ausgelöst. Keystone

Wegen der enormen Schneefälle werden diesen Winter in den Schweizer Bergen mindestens dreimal mehr Lawinen per Sprengung ausgelöst als in normalen Wintersaisons. Weil dabei auch Wildtiere gestört werden, appellieren Umweltschützer an die Vernunft.

Täglich fliegen derzeit die Einsatzteams in Skiregionen und Berggebieten an die Bergkämme, um bereits frühmorgens die ersten Lawinen auszulösen. So sollen Pisten und Strassen vor spontanen Niedergängen geschützt werden.

Die Zunahme der Sprengungen wird diesen Winter laut diversen Experten ein Vielfaches betragen.

So erwartet etwa Daniel Antille, Direktor der Sprengstoff-Fabrik Société Suisse des Explosifs in Brig für diesen Winter eine Verdreifachung der Lieferungen, wie er gegenüber der Zeitung Le Matin sagte.

«Ich habe auch gehört, dass es bis zu fünf Mal mehr ist als in einem normalen Winter», sagt Lukas Stoffel, Bauingenieur im Team Lawinenschutz beim Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), gegenüber swissinfo.ch.

Charly Wuilloud, Chef Naturgefahren im Kanton Wallis, bestätigt diesen Befund: «Wir haben Standorte, wo wir letztes Jahr lediglich eine oder zwei Sprengungen gemacht haben – und dieses Jahr bald 30.»

Interessenkonflikt

Mehr Sprengungen – das bietet zwar einen besseren Schutz für Menschen, aber auch mehr Stress für Wildtiere in den betroffenen Regionen. «Wenn es um Menschenleben geht, macht es durchaus Sinn, dass man vereinzelt Lawinenniedergänge provoziert, um Strassen zu sichern», sagt Roland Schuler, Pressesprecher der Naturschutz-Organisation Pro Natura.

«Pro Natura hat dann etwas dagegen, wenn es flächendeckend zu Sprengungen kommt, insbesondere in Skigebieten, weil dort die negativen Auswirkungen auf wildlebende Tiere grösser sind.»

Diese Einwände der Tierschützer versteht Lawinenspezialist Stoffel. Er gibt zu bedenken, dass Tiere aber auch lernen würden, sich bei Helikopterlärm in sichere Gebiete zu begeben, weil daraufhin meist eine Lawine ausgelöst werde.

Doch eben dieser Lerneffekt sei ein Problem für die Tiere, sagt Schuler: «Das Tier wird künftig vor Helikopterlärm flüchten, was zu einem enormen Energieverlust führen und in Einzelfällen lebensbedrohlich sein kann.»

«Sprengungen unnötig machen»

Schuler erklärt sich die Zunahme der Sprengungen mit den aussergewöhnlich starken Schneefällen in diesem Ausnahmewinter. «So lange in dieser Zunahme nicht ein Trend liegt, sollte man nicht dramatisieren.»

Auch die Alpenschutz-Organisation Mountain Wilderness Schweiz «anerkennt diese Sprengungen zur Sicherheit der Berggänger und Berggängerinnen», sagt Priska Jost, Leiterin Kommunikation und Fundraising bei Mountain Wilderness. Wegen der grossen Schneemenge sei die Zunahme dieses Jahr wahrscheinlich nicht zu vermeiden.

«Wir würden es aber sehr begrüssen, wenn Skipisten so angelegt werden, dass solche Sprengungen gar nicht nötig sind oder auf ein Minimum beschränkt werden können», betont Jost.

Verrückter Winter

Dass dieser Winter alles andere als normal ist, zeigt ein Blick zurück: Lange zierte sich der Schnee in der Schweiz. Als er schliesslich kam, lag die Menge massiv über dem Durchschnitt. Laut Stoffel hat es vom 6. Dezember bis zum 22. Januar «immer wieder in sehr grossen Mengen geschneit».

«Ich habe das noch nie gesehen mit so viel Schnee und Lawinen, die zu irgendeiner Tageszeit abbrechen, die man nicht vorbestimmen kann», sagt Wuilloud. «Während der Nacht oder tagsüber kann plötzlich eine Lawine losgehen, und wir wissen nicht, wie wir absichern sollen.»

Lokal sei der Schnee sehr stabil zusammengepresst, erklärt er. «Man bringt ihn mit Sprengstoff fast nicht los. Darum ist es sehr schwierig zu entscheiden, ob Strassenabschnitte gesperrt bleiben sollten oder nicht – im Wissen, dass die Lawine zu jeder Tageszeit anbrechen kann.»

Daher seien zusätzliche Sicherheitsmassnahmen wie Strassensperrungen nötig. «Zum Glück mussten wir noch keine Dörfer evakuieren. Falls noch mehr Schnee kommt, könnte das aber eintreten.»

Oft erfolglose Sprengungen

Charly Wuilloud hegt diesen Winter jedoch Zweifel an der Effizienz der Lawinensprengungen. «Mit den ersten Sprengungen diesen Winter hatten wir noch Erfolg. Aber mit den grossen Schneemengen und dem starken Wind, der das alles zusammengedrückt hat, wurde der Erfolg immer kleiner.» An einer Stelle habe man 12 Schuss abgegeben, ohne dass sich eine Lawine gelöst habe.

Und im österreichischen St. Anton habe eine Sprengung mit 100 Schuss aus einem Helikopter lediglich eine bis zwei Lawinen gelöst, sagt Wuilloud. Ferdinand Alber, der dortige Verantwortliche für die Bergbahnen, bestätigt diesen Bericht, relativiert aber ebenfalls und verweist auf den speziellen Winter: «Es war noch nie so», sagt er.

Dass eine Lawine nicht ausgelöst werden könne, sei aber auch eine Versicherung, dass der Hang nicht ins Rutschen gerate, sagt Lawinenspezialist Lukas Stoffel. «Man hat mit der Sprengung quasi einen Stabilitätstest gemacht.» Der Entscheid, eine Strasse oder Piste wieder zu öffnen, falle so etwas leichter, als wenn man nichts unternommen hätte.

Das Institut für Schnee- und Lawinenforschung unterteilt den Lawinenschutz in verschiedene Bereiche.

Baulicher Lawinenschutz: Seit 1951 investierte die Schweiz laut SLF rund 1 Mrd. Fr. in den Lawinenschutz von Siedlungen und Verkehrswegen.

Dazu gehören Stützverbauungen, Lawinendämme, Lawinengalerien für Strassen und Eisenbahn sowie der direkte Schutz von Häusern mit Keilen und sonstigen baulichen Massnahmen.

Planerische Massnahmen: Betroffene Gebiete werden in verschiedene Gefahrenstufen eingeteilt: Hohe, mittlere, geringe sowie keine Gefährdung.

Je nach Gefahrenstufe eines Gebiets gelten entsprechende Regeln für Neubauten und Evakuationen. Daher werden diese Gefahrenkarten oft zum Streitfall.

Waldbauliche Massnahmen: Laut SLF gilt Wald als «effektiver und kostengünstiger Lawinenschutz». Flächenmässig stelle er den wichtigsten Lawinenschutz dar: Rund ein Drittel des schweizerischen Alpenraumes ist bewaldet.

Temporäre Massnahmen: Diese werden je nach der Entwicklung einer Situation eingesetzt, besonders in Gebieten, wo bauliche Schutzmassnahmen nicht genügen oder zu teuer sind.

Die wichtigsten temporären Lawinenschutz-Massnahmen sind Warnungen, die Sperrung oder Evakuation eines Gebiets und die künstliche Auslösung von Lawinen durch Sprengung.

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