Mit Tricks das Gehirn neu verkabeln
Mit neuartigen Hightech-Lösungen wollen neurowissenschaftliche Startups und Labors in der Schweiz Patienten helfen – dies obwohl es weltweit an Behandlungen für Hirnleistungs-Störungen mangelt.
Vom Gipfel des Rocher de Léaz mit Blick auf das Rhonetal ist es ein weiter Weg bis hinunter ins Tal. Während ich hoch oben über einer Felswand sitze mit dem Wind in den Ohren, fühle ich mich trotz Klettergurt und Seil nicht besonders sicher.
An meiner Rechten steigt ein Kollege zu mir herunter und winkt. Er will wissen, ob mit mir alles in Ordnung ist. Ich schleppe mich vorwärts und gebe ihm ein Zeichen.
Erst dann realisiere ich, dass all dies nicht real war. Ich hatte vergessen, dass ich ein VR-Headset aufhatte (Virtual Reality-Helm und -Kopfhörer). Ich stand auch nicht an einer Felswand, sondern im Innern der Erinnerungsmaschine (Reality Substitution Machine RealiSM), einem Ausstellungsstand des Brain Forum 2015Externer Link in Lausanne, einer Konferenz über Neurowissenschaft, die im April von der Eidgenössischen Technischen Hochschule EPFL organisiert worden war.
Das neue Versuchsprojekt, bekannt als RealiSM, bringe virtuelle Realität und kognitive Neurowissenschaften zusammen, um das Gedächtnis, die Wahrnehmung und den «Peripersonal Space» (Bereich, der sich in Griffnähe befindet) zu erforschen – mit Blick auf klinische und therapeutische Anwendung, sagt EPFL-Forscher und Projektleiter Bruno Herbelin.
«Wir wirken auf Reize ein, die es dem Gehirn ermöglichen, unsere Anwesenheit im Raum wahrzunehmen, so dass das Experiment natürlich erscheint und man alles vergisst, was dahinter passiert», sagt Herbelin.
Die Kletterszenen am Berg, die ich via VR-Headset erlebte, wurden aus echtem Filmmaterial zusammengefügt, das von 16 GoPro-Kameras auf einem speziellen Stativ aufgenommen worden war. Das Tonmaterial wurde von vier Mikrophonen aufgenommen.
Das Headset ist mit kleinen 3D-Kameras ausgerüstet, welche Hände, Füsse und Körperbewegungen filmen. So taucht man körperlich in die Umgebung ein, da alles in Echtzeit abgespielt wird. So wird das Hirn getäuscht, denn es meint, sich wirklich an der Felswand zu befinden.
Dies alles tönt spektakulär, jedenfalls für Spieler. Das RealiSM-Team hofft aber, dass es auch in zahlreichen klinischen Anwendungen benutzt werden kann, um zum Beispiel Phobien und posttraumatische Belastungsstörungen zu behandeln. Die Technologie soll innert ein paar Jahren verfügbar sein, so dass Versuchs-Szenen je nach Bedarf hergestellt werden können.
«Als Menschen sind wir nicht fest verdrahtet, und mit Experimenten kann diese Verkabelung im Gehirn verändert werden», erklärt Jamil El Imad, Ko-Leiter des RealiSM-Projekts.
Neuro-Rehabilitation
Auch das Schweizer Unternehmen MindMazeExterner Link ist in der VR-Technologie im Zusammenhang mit der Neurowissenschaft tätig. Der EPFL-Ableger hat mehrere Applikationen entwickelt, darunter «MindPlay». Dabei handelt es sich um ein preiswertes Rehabilitations-Produkt, das Schlaganfall- und Hirntrauma-Patienten helfen soll, ihre Glieder wieder brauchen zu können.
Die Patienten werden durch eine Reihe von Übungen begleitet, die sie im Spital oder auch zu Hause ausführen können, während eine massgefertigte Kamera ihre Bewegungen verfolgt. Ein Schlaganfall-Patient sieht einen Avatar eines nicht betroffenen Gliedes auf dem Bildschirm, der Aufgaben ausführt , zum Beispiel ein Ziel berührt. Später wird das virtuelle Bild umgekehrt, so dass das Gehirn getäuscht wird und glaubt, das geschädigte Glied sei gesund.
MindMaze-CEO und Mitgründer Tej Tadi sagte, dies führe zu «einer Art Neuorganisation oder Aktivierung zwischen verschiedenen kortikalen Bereichen, die wir anzapfen, messen und dann anpassen und üben, um die Formbarkeit zu maximieren.»
Die Übungen ermöglichen die frühzeitige Reaktivierung neuronaler Verbindungen zwischen Gehirn und geschädigten Gliedern, was in vielen Fällen dazu führt, dass Arme oder Beine wieder bewegt werden können.
«Die ersten drei Wochen nach einem Schlaganfall sind äusserst wichtig. Unsere Untersuchungen am Lausanner Universitätsspital (CHUV) und in Sion haben gezeigt, dass es möglich ist, bereits eine Woche nach dem Schlaganfall mit der Reha zu beginnen», sagt Wissenschaftler Gangadhar Garipelli von MindMaze.
In Lausanne ebenfalls vorgestellt wurde ein Prototyp, der dazu dient, epileptische Anfälle vorauszusagen und zu erkennen.
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Frühwarnung für Epileptiker
Das Gerät der Zürcher Medizin-Forschungsfirma NeuroProExterner Link wird am Schweizer Epilepsie-ZentrumExterner Link weiterentwickelt. Bald schon sollen klinische Test erfolgen, innert zwei Jahren dürfte das Gerät im Handel sein.
Am Forum wurden also mehrere erfolgversprechende neurowissenschaftliche Technologien der 30 anwesenden Ableger und Startups präsentiert.
Das Gehirn – ein Geheimnis
Die Erforschung des menschlichen Gehirns floriert zur Zeit weltweit. Es gibt eine globale Bewegung grosser Initiativen zur Hirnforschung, darunter die US-amerikanische «Brain Initiative», aber auch grosse Projekte in Australien, China, Japan und Israel, welche die Geheimnisse des Gehirns enträtseln wollen.
In der Schweiz ist vor allem die Genfersee-Region, allen voran die EPFL, führend in der Neurowissenschaft. Die EPFL ist der Hauptkoordinator des von der EU finanzierten Human Brain ProjectExterner Link, bevor eine kürzliche Umstrukturierung der Hochschule die Führungsrolle wegnahm. Dennoch ist sie eine treibende Kraft geblieben, mit über 100 Leuten, die an diesem Projekt im Campus BiotechExterner Link in Genf mitarbeiten.
EPFL-Präsident und Neurowissenschaftler Patrick Aebischer begrüsste am Forum in Lausanne die neuartigen Schweizer Technologien, welche hirnverletzten Patienten Linderung bringen sollen.
«Dank der jüngsten Fortschritte in Technologie und Visualisierung kann man das Gehirn auf eine andere Art anschauen und Daten sammeln, wie es bislang noch nicht möglich war», sagte er.
In seiner Rede vor versammelten Top-Wissenschaftlern am Forum erinnerte Aebischer jedoch unverblümt daran, wo die Prioritäten liegen sollten: «Auf der einen Seite gibt es diese erstaunlichen «Big Brain Initiativen». Wie aber können wir diese neuen Erkenntnisse zu neuen Therapien weiterentwickeln? Wir haben zwar grosse Fortschritte im Verstehen des Gehirns gemacht, doch diese Erkenntnisse haben kaum zu medizinischen Fortschritten geführt.»
Die Last von Demenz
Trotz futuristischer Technologien, die Menschen helfen sollen, die zum Beispiel an Epilepsie oder Hirnverletzungen und –störungen leiden, bleiben neue Therapien jedoch wenig fassbar.
Die G8-Mitgliedstaaten haben sich ein optimistisches Ziel gesetzt: Bis 2025 soll ein Heilmittel oder eine wirksame Therapie gefunden werden gegen Demenz, ein Oberbegriff für diverse Hirnleistungsstörungen.
Trotz Berichten, dass amerikanische Forscher vor kurzem eine mögliche Ursache für Alzheimer, die häufigste Demenz-Erkrankung, gefunden haben könnten, gibt es noch immer kein Heilmittel.
Im Gegensatz zu Herz- oder Krebserkrankungen, die bei der Entwicklung von Medikamenten durch Pharma-Multis grosse Fortschritte erlebten, wurden in den letzten zehn Jahren keine neuen Therapien zur Behandlung von Alzheimer zugelassen. Zwischen 2002 und 2012 schlugen 99,6% der teuren Medikamentenversuche zur Prävention, Heilung oder Verbesserung von Alzheimer-Symptomen fehl oder wurden abgebrochen, bei Krebs waren es 81%.
Experten erklären dies damit, dass die Versuche zu spät und dazu an Patienten durchgeführt worden seien, deren Erkrankung bereits zu weit fortgeschritten war. Forscher peilten verschiedene Aspekte der Erkrankung an, aber nur ein Heilmittel erwies sich als wirksam: Memantine, das zur Verbesserung des Gedächtnisses eingesetzt wird. Die Prävention bietet zur Zeit die beste Chance. Die Unkenntnis über die Gründe für Alzheimer bleibe. Zudem handle es sich um eine sehr heterogene Krankheit, die schwierig zu diagnostizieren sei und sich langsam entwickele, sagen Wissenschaftler.
«Wenn man die Zahl der Heilmittel in der Hirnforschung anschaut, die von der FDA (US-Nahrungs- und Heilmittelbehörde) oder der EMA (Europäische Arzneimittelbehörde) zugelassen wurden, dann ist das deprimierend», betont Aebischer.
Demenz
Gemäss Alzheimer’s Disease International dürften sich die Fälle von Alzheimer-Erkrankungen, der häufigsten und bekanntesten Demenz-Erkrankung, bis ins Jahr 2050 auf 135 Millionen weltweit verdreifachen. Diese Entwicklung ist eine riesige Herausforderung für die Gesellschaft.
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
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