Die Schweiz lernt, ohne Bargeld zu leben
Die Schweiz ist ein Bargeldland. Im Gegensatz zu Ländern wie etwa Schweden und Norwegen. Nun verschmähen wegen des Coronavirus immer mehr Menschen Bargeld und setzen auf Plastik. Wird sich dieser Trend auch nach der Krise halten?
«Nur Bares ist Wahres», hiess es früher. Besonders seit der Corona-Krise gilt aber: «Geld ist schmutzig.» Wenn man so wenig wie möglich anfassen sollte, gilt das natürlich umso mehr für Bargeld, das bereits vor dem neuen Coronavirus als Virenfänger verpönt war.
So halten sich Grippeviren laut einer Studie der Universitätsklinik Genf bis zu zwei Wochen auf Banknoten. Laut der Zeitung Finanz und Wirtschaft sind die Internet-Suchanfragen nach den gesundheitlichen Risiken von Bargeld seit Mitte März «geradezu explodiert».
Cashless und Contactless sind in diesen Zeiten häufig gehörte und gelesene Begriffe. Und weil viele Fachgeschäfte vorübergehend die Türen schliessen mussten, wurde viel mehr auch online geshoppt, was ebenfalls bargeldlos abgewickelt wird. Die Schweizerische Post musste Sonderschichten einplanen, um all die online bestellten Pakete ausliefern zu können.
Relative Zunahme elektronischer Zahlungsmittel
Grundsätzlich hat die Nutzung aller Zahlungsmittel in absoluten Zahlen stark abgenommen, weil das Angebot durch die vielen vorübergehenden Schliessungen von Fachgeschäften, Restaurants und Hotels massiv verkleinert wurde. Das zeigen die aktuellen Zahlen des Statistischen Amts des Kantons ZürichExterner Link. Wer aber heute Geld ausgibt, macht dies oft lieber, ohne Bargeld in die Hand nehmen zu müssen.
«Die Leute werden umerzogen, momentan kein Bargeld zu benutzen.» Andreas Dietrich, Hochschule Luzern
Dies bestätigt Andreas DietrichExterner Link, Leiter des Instituts für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ) der Hochschule Luzern. «Im Moment ist der Effekt klar, dass deutlich weniger mit Bargeld bezahlt wird als normalerweise», sagt er. «Die Leute werden umerzogen, momentan kein Bargeld zu benutzen.»
Laut Tobias TrütschExterner Link, Zahlungsökonom an der Universität St. Gallen, legen erste Zahlen ein verändertes Zahlungsverhalten nahe. «Aktuelle Daten zum KreditkarteneinsatzExterner Link offenbaren, dass kontaktloses Bezahlen und insbesondere Onlinezahlungen nach dem Lockdown anteilmässig zugenommen haben. Vor allem kontaktloses Bezahlen wurde ja auch immer propagiert.» Der Spezialist für Zahlungsmittel kann sich auch vorstellen, dass ab Beginn der Krise «ein leichter Rückgang bei Bargeldzahlungen feststellbar sein wird».
Fest steht, dass weniger Bargeldbezüge an Geldautomaten getätigt werden: Eine Auswertung der Postfinance, welche die NZZ am Sonntag publizierte, zeigt zwischen dem 16. März und dem 14. April eine prozentuale Veränderung gegenüber der Vorjahresperiode um satte -48,4%.
Ausgabelimite ohne PIN erhöht
Wer bargeldlos per Debit- oder Kreditkarte bezahlt, wird nach dem PIN-Code gefragt. Weil sich viele auch vor möglichen Viren auf dem Kartenlesegerät fürchten, bezahlen sie lieber kontaktlos. Alle Anbieter haben sich Anfang April geeinigt und deswegen die Limite für kontaktloses Bezahlen ohne PIN-Eingabe von 40 auf 80 Franken erhöht.
Möglich ist dies mit einer Contactless-Karte, dem Konto einer der neuen Fintech-BankenExterner Link oder diversen Apps per Handy. Hier gibt es verschiedene Anbieter wie Apple Pay, Samsung Pay oder Google Pay.
Auch ein Schweizer Anbieter mischt mit: TwintExterner Link. Das Unternehmen gehört Schweizer Banken, Postfinance und der Schweizer Börse (SIX). Kontaktlos mit Twint kann heute unter anderen bereits bei verschiedenen Detailhändlern bezahlt werden.
«Die steigenden Hygieneansprüche beflügeln die Nachfrage nach mobilen Zahlungsmitteln, bei denen weder Bargeld, noch eine Karte mit Code eingegeben werden muss», teilt Twint auf Anfrage mit. Seit der Corona-Krise verzeichne man bis zu 7000 Neuregistrierungen pro Tag, was mehr als einer Verdoppelung der Zahlen vor Corona entspreche.
«Im Bereich E-Commerce sehen wir sogar mindestens eine Verdoppelung der Transaktionen, in spezifischen Bereichen sogar eine Versechsfachung», schreibt Twint weiter. Der Anbieter rechnet damit, dass sich dieser Trend weiterführt. «Denn das Thema Hygiene wird auch künftig sehr wichtig bleiben.»
Tiefer Anteil
Allerdings war bargeldloses Zahlen für nicht wiederkehrende Ausgaben vor der Krise noch auf einem bescheidenen Niveau: Laut einer Umfrage der Schweizerischen Nationalbank (SNB) von 2017Externer Link wurden rund 70% aller Käufe mit Bargeld getätigt. Per Debitkarte zahlten 22%, die Kreditkarte setzten 5% der Befragten ein, andere bargeldlose Bezahlarten wie etwa Paypal 3%.
Zwei Jahre jünger ist der aktuellste Swiss Payment Monitor 2019Externer Link der Universität St. Gallen und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Wobei die Daten etwas anders erhoben wurden, unter anderem war die Altersgruppe nur bis 65 Jahre. Demnach hatte Bargeld einen Transaktions-Anteil von 48%. Bargeldloses Bezahlen in all den verschiedenen Arten schlug mit fast 44% zu Buche, wovon mindestens ein Drittel kontaktlos abgewickelt wurde.
«Ich denke, dass sich das Zahlungsverhalten nachhaltig verändern wird.» Tobias Trütsch, Universität St. Gallen
Nachhaltiger Trend?
Die Swiss Payment AssociationExterner Link, die Kreditkartenmarkt-Branchenorganisation, hält fest, dass es sich beim Kreditkartenmarkt um einen gesättigten Markt handle und zudem momentan viele Vertriebskanäle für Kreditkarten nicht oder nur eingeschränkt verfügbar seien.
«Das würde die Vermutung nahelegen, dass es derzeit eher zu einer Stagnation als zu einem Wachstum bei der Anzahl Kreditkarten kommt», sagt Geschäftsführer Thomas Hodel. Vor Beginn der Corona-Krise nahmen die Anzahl der Kredit- und Debitkarten sowie elektronisch gespeicherten Geldes jedoch langsam aber stetig zu, wie Zahlen der Nationalbank bis Februar 2020Externer Link zeigen.
Über die letzten 20 Jahre gesehen habe der Bargeld-Anteil an den Zahlungen pro Jahr um 1-2% abgenommen, sagt Dietrich. Er vermutet, dass es durch die Krise bei der Nutzung von Bargeld «einen deutlichen Corona-Knick gibt», der später auch in den Statistiken feststellbar sein werde.
«Ich denke, dass sich das Zahlungsverhalten nachhaltig verändern wird». vermutet auch Wirtschaftsforscher Trütsch. «Ich sehe vor allem Potenzial im Mobile-Payment, beziehungsweise dem kontaktlosen Bezahlen. Diese Möglichkeit lernten die Leute vermehrt schätzen, weil sie praktisch dazu gezwungen wurden.»
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