Russland will sich auch offiziell am CERN beteiligen
Russland wird assoziiertes Mitglied des CERN. Offiziell dürfte die Mitgliedschaft im nächsten Jahr bekannt gemacht werden und damit einer Paradoxie ein Ende setzen. Obschon das Land bisher nur Beobachterstatus hatte, waren die Russen im weltweit grössten Labor für Teilchenphysik immer sehr präsent.
Auf der Schwarzweiss-Fotografie von 1959 aus der historischen Sammlung des CERN ist John Adams zu sehen. Der Teamleiter Protonen-Synchrotron, dem ersten Teilchenbeschleuniger des Standorts, hält eine Flasche Wodka in der Hand, ein Geschenk der Kollegen vom Vereinigten Institut für Kernforschung in Doubna im Norden Moskaus.
Die Mitarbeitenden am CERN waren damals aufgefordert worden, den Inhalt zu trinken, wenn der Start der Maschine geglückt sei. Nachdem sie die Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert hatten, steckten sie ein Foto hinein, das die Funktionstüchtigkeit des Synchrotrons unter Beweis stellte, und schickten die Flaschenpost zurück nach Moskau.
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Nächster Riesenbeschleuniger geht am CERN vorbei
Aber schon damals begnügten sich die Russen nicht damit, die Arbeiten am CERN aus Distanz zu verfolgen. Sie reisten regelmässig nach Genf. Während zahlreichen Jahren war Tatiana Fabergé, die Enkelin des bekannten Juweliers Karl Fabergé, ihr Schutzengel. Die Sekretärin am CERN half den sowjetischen Forschern, sich am Genfer Institut zurechtzufinden. Nicht selten nahm sie die Gäste bei sich zuhause auf, um ihnen Hotelkosten zu ersparen.
Heute beherbergt das CERN die wichtigste russische Wissenschaftler-Diaspora der Welt: 883 Personen! Unter den Nicht-Mitgliedländern sind lediglich die Amerikaner zahlreicher, mit 1757 Personen.
Vom Vater zum Sohn
Einer der Pioniere ist der 79-jährige Igor Golutvin. Als er vor mehr als 50 Jahren herkam, konnte er mit eigenen Augen die Entstehung des Genfer Laboratoriums mitverfolgen. In der Folge sollte er sogar mit zwei Nobelpreisträgern zusammenarbeiten. Heute leitet er den Rat für wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem CERN und dem Institut von Doubna.
Sein Sohn Andreï Golutvin, Absolvent der Staatsuniversität von Moskau und Professor am Imperial College von London, kommt seit Mitte der 1990er-Jahre regelmässig nach Genf. Seit 2007 arbeitet er am Experiment «LHCb» (Large Hadron Collider beauty experiment), einem der vier Kollisions-Detektoren des grössten Teilchenbeschleunigers der Welt. Während drei Jahren war er sogar Koordinator des Experiments, und damit der erste Russe, der am Institut eine derart hohe Funktion ausübte.
Die beiden Physiker bemühen sich, zuhause nicht über ihre Arbeit zu sprechen, «aber wenn wir zusammen essen gehen, können wir nicht verhindern, dass ‹philosophische› Themen, wie der Beitritt Russlands am CERN, zur Sprache kommen», witzelt Andreï Golutvin.
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Im Innern des LHC
Die Assoziierten und die anderen
Tadeusz Kurtyka, Ingenieur mit polnischen Wurzeln, spricht fliessend fünf Sprachen, unter anderen Russisch. Er arbeitet seit 22 Jahren am CERN und leitet die Beziehungen mit Osteuropa und insbesondere die Kooperation mit Russland. «Jeder Staat kann assoziiertes Mitglied am CERN werden und nach zwei Jahren Vollmitglied mit sämtlichen Rechten, wenn er es wünscht», sagt er.
«Der Status des assoziierten Mitglieds bedeutet ein beschränktes finanzielles Engagement. Diese Länder bezahlen nur 10 Prozent des vollständigen Mitgliederbeitrags. Aber ihre Rechte sind auch limitiert.»
Aber die assoziierten Mitglieder können Ausrüstungen und Material ans CERN liefern und zwar direkt, nicht nur für die internationalen Projekte («Kollaboration» genannt). Das bedeutet, dass die russischen High-Tech-Produzenten bei der Teilnahme an verschiedenen Ausschreibungen des CERN Vorteile haben können. Insgesamt geht es um Beträge in der Grössenordnung von hunderten Millionen Euro jedes Jahr.
Ausserdem haben die assoziierten Länder einen Vertreter im Rat des CERN, und ihre Staatsangehörigen können direkt für die Organisation arbeiten und einen Schweizer Lohn beziehen. Die ersten Nutzniesser dieses Status sind die Studenten, die dadurch Zugang zu Ausbildungsprogrammen auf höchstem internationalen Niveau erhalten.
Heute erreicht das Budget des CERN, das von 20 Staaten getragen wird, einen Umfang von 1 Mrd. Franken. Das Land, das mehr als alle anderen investiert, nämlich 220 Millionen Franken, hat eine Regierungschefin mit einem Diplom in Kernphysik. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte an der Karl-Marx-Universität von Leipzig in den 1970er-Jahren Physik studiert.
Frankreich steuert rund 170 Millionen, Grossbritannien 160 Millionen bei. Die Schweiz, Belgien, Norwegen, Polen, Schweden und weitere Länder bezahlen einen Mitgliederbeitrag von 30 Millionen Franken.
In Zukunft wird das CERN den Status eines Beobachterstaats, den heute noch Indien, Russland, die USA, die Türkei und Japan innehaben, nicht mehr verleihen. Diese Länder werden sich entweder für den Status einer assoziierten Mitgliedschaft oder eines Vollmitglieds entscheiden müssen.
1954 haben 12 europäische Länder den Gründungsvertrag des CERN (Conseil européen pour la recherche nucléaire) unterzeichnet. Ende des 20. Jahrhunderts traten 9 weitere Länder der Organisation bei, Jugoslawien trat aus.
2010 entschied das CERN, sich auch den Ländern ausserhalb Europas zu öffnen. Mehrere Länder, darunter Brasilien, Pakistan, Türkei, Ukraine und Russland bewarben sich um eine assoziierte Mitgliedschaft.
Rumänien hat derzeit den Status eines Beitrittskandidaten. Israel und Serbien sind assoziierte Mitglieder in einer der Beitrittskandidatur vorausgehenden Phase.
Moskau hat seine Beteiligung am wissenschaftlichen Genf erst 2012 offiziell bestätigt, obwohl das Land de facto von Anfang an mitmachte. Die Antwort des CERN auf das russische Beitrittsgesuch als assoziiertes Mitglied wird nächstes Jahr fällig.
Die Konstruktion des LHC, des grossen Teilchenbeschleunigers am CERN, hat 6 Milliarden Franken gekostet. Russland hat für das Projekt mehr als 150 Millionen Franken beigesteuert. Der Wissenschafts-Beitrag des Landes beläuft sich auf rund 10% der vier Experimente im Innern des LHC.
Für und wider
Als Berater des Generaldirektors, Rolf Dieter Heuer, für Kooperationsangelegenheiten des CERN mit Russland kennt Andreï Golutvin die geopolitischen Interessen beider Parteien sehr genau. Dass es zwei Jahre gedauert habe, bis der russische Minister für Bildung und Wissenschaft, Dmitri Livanov, eine offizielle Anfrage eingereicht habe, begründet Golutvin mit dem Hinweis auf einen «internen Prozess im Land, der Zeit brauchte, um zu reifen».
«Das Spektrum der Gesichtspunkte zum russischen Beitritt am CERN ist breit», sagt der Professor mit «physikalischer» Wortwahl. «Ich gehöre zum Lager der Extremisten, die den Beitritt als ausserordentlich erachten für die Entwicklung der Grundlagenforschung. Genf wird zu einen weiteren ‹heimischen Labor› für russische Studenten, die hier ihr Praktikum werden absolvieren können.»
Aber es gibt auch eine Opposition, die befürchtet, dass das russische Geld, anstatt direkt in die wissenschaftliche Infrastruktur zu fliessen, in Genf versickert. Der Beitrag für die assoziierte Mitgliedschaft würde sich für Russland pro Jahr auf rund 7 Millionen, für die Vollmitgliedschaft auf fast 70 Millionen Franken belaufen.
Andreï Golutvin hält die Beteiligung nicht für einen kostspieligen Luxus. Aber ganz im Sinn von Albert Einstein möchte er zuerst die Relativität der Dinge prüfen. «Angesichts der gesamten Investitionen zur Entwicklung der Physik in Russland handelt es beim CERN um einen geringen Betrag.»
Das CERN beschäftigt 11’000 Forscher aus 50 Ländern, die den Status «User» haben. Sie werden von ihren Universitäten oder Forschungsinstituten nach Genf geschickt, die ihnen für die Dauer von zwei Wochen bis zu mehreren Jahren ein Salär und Spesenentschädigungen in Schweizer Franken bezahlen.
Trotzdem gibt es Ungleichheiten vor allem im Vergleich zu den europäischen Labor-Kollegen.
2300 Personen sind Vollzeit beschäftigt («Staff»). Aber dieser Status ist den Forschern der Mitgliedländer vorenthalten. Rund 1000 Personen haben temporäre Stellen.
Diese Regeln des CERN können nicht als diskriminierend bezeichnet werden, weil sie den Zugang zu den Arbeiten in den Laboratorien der Organisation für alle erleichtern, unabhängig von der Herkunft. In Russland zum Beispiel hat der Gesetzgeber den Zugang zu wissenschaftlichen und technologischen Informationen für Ausländer eingeschränkt.
(Übersetzung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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