Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Schlacht um Milliarden für Hirnforschung

Swissinfo Redaktion

Jedes Jahr werden mehr als 100'000 Arbeiten zur Neurowissenschaft publiziert: Die Umsetzung dieses rasch wachsenden Wissens- und Datenbergs in funktionierende Therapien und nutzbare Erkenntnisse für den menschlichen Alltag erfolgt aber nur langsam und beschwerlich. Zwei jüngst in der EU und in den USA mit Milliarden Euros finanzierte "Big Science"-Projekte zielen darauf ab, dies zu ändern – stossen aber auf Widerstand innerhalb der Welt der Neurowissenschaftler.

In der Geschichte der Menschheit haben wahrscheinlich nie zuvor derart viele Wissenschaftler das Gehirn studiert. Diese Beobachtung bezieht sich nicht nur auf grundlegende biologische Forschung und Neurologie, auch verwandte Bereiche experimentieren mit Theorien und Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft. So stellen Psychiater zum Beispiel psychische Krankheiten vermehrt als «Erkrankung des Gehirns» dar, und Ingenieure der Informationstechnologie und Robotik versuchen, neuronale Architekturen und Funktionen in Technologien umzusetzen.

Diese vielfältigen Forschungsaktivitäten generieren riesige Mengen von Daten und wissenschaftlichen Arbeiten auf allen Ebenen der neuronalen Organisation: Genexpression in Neuronen, neuronale Verbindungen, mit bildgebenden Verfahren erfasste Gehirnaktivitätsmuster, menschliches und tierisches Verhalten, um nur einige Aspekte zu nennen.

Bisher mündete dieses riesige Unterfangen kaum in wirtschaftlichem Erfolg und praktischem Nutzen. Ironischerweise hat die Pharmaindustrie – die bis vor kurzem fast die Hälfte des Budgets für Forschung und Entwicklung von Medikamenten gegen Erkrankungen des Gehirns finanzierte – in den vergangenen Jahren die Hirnforschung dramatisch gekürzt, weil sich ihre Investitionen nicht gelohnt haben. Zudem hat die Öffentlichkeit begonnen, sich ob der exzessiven Behauptungen von «revolutionären Erkenntnissen» von Neurowissenschaftlern zu langweilen.

Mehr und mehr Bücher stellen «Gehirn-Mythen» und die Tendenz, die menschliche Existenz auf Funktionen des Gehirns auszurichten, in Frage. Gleichzeitig nehmen die Belastungen durch Krankheiten wie Demenz, Schlaganfall oder Depression, die durch Funktionsstörungen im Gehirn ausgelöst werden, mit der stets wachsenden und älter werdenden Bevölkerung exponentiell zu.

Der Bioethiker und Neuroinformatiker Markus ChristenExterner Link vom Forschungsinstitut für Bioethik der Universität Zürich ist Koordinator des Forschungsnetzwerks «Ethik von Monitoring und Überwachung» (NEMOS). Nemos ist ein Programm des Forschungsschwerpunkts Ethik der Universität Zürich.

Christen ist auch Mitglied im ELSA-Komitee (Ethische, Legale und Soziale Aspekte) des Human Brain-Projekts. Das Komitee ist eine unabhängige Institution des HBP. In dieser Kolumne drückt er seine persönliche Meinung aus.

Umfangreiche Investitionen öffentlicher Gelder in «grossangelegte Neurowissenschafts-Forschung» wollen dies ändern. Die prominentesten Beispiele dafür sind das europäische «Human Brain ProjectExterner Link» (HBP) mit seiner Heimbasis in Lausanne und die amerikanische «BRAIN InitiativeExterner Link» (Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies), die beide im letzten Jahr lanciert wurden.

Diese Projekte zielen darauf ab, innerhalb von zehn Jahren mehrere Milliarden Steuergelder aus der Schweiz, anderen europäischen Staaten und den USA in einen koordinierten Forschungsaufwand zu investieren, um «grundlegende Erkenntnisse zu gewinnen, was es bedeutet, Mensch zu sein, neue Behandlungen für Gehirnerkrankungen zu entwickeln und revolutionäre neue Informations- und Kommunikations-Technologien zu konstruieren», wie zum Beispiel das Human Brain Project geltend macht.

Doch wird sich dies als leeres Versprechen erweisen? Von Anfang an stiessen beide Projekte bei Neurowissenschaftlern auf Kritik. Am Montag letzter Woche sandten 155 Wissenschaftler einen offenen BriefExterner Link an die Europäische Kommission, um «ihre Sorge mit dem Kurs des Human Brain Project auszudrücken», das eine «allzu enge Vorgehensweise» habe.

Als externer Beobachter des Human Brain Project und Mitglied des unabhängigen Ausschusses für ethische, legale und soziale Aspekte dieses Projekts habe ich drei Feststellungen.

Erstens: Die Gehirn-Projekte starteten mit der richtigen Diagnose des Problems, nämlich der Fragmentierung und dem Wissensmangel der Neurowissenschaften. In den Augen der Öffentlichkeit wurde das HBP als Projekt wahrgenommen (und teilweise auch so angekündigt), das ein «Gehirn in einem Computer nachbauen will» – doch diese Interpretation geht an der Sache vorbei. Vielmehr sind die Projekte eine Strategie, das neurowissenschaftliche Wissen zu konsolidieren, indem ein «Atlas» des menschlichen Gehirns geschaffen wird (mit der BRAIN Initiative) und ein Werkzeugkasten mit Computersimulationen (im HBP), die als Werkzeuge für die künftige Hirnforschung dienen sollen, die zum grössten Teil nicht ethisch an lebenden Menschen durchgeführt werden kann.

Das Human Brain Project der EU und die BRAIN Initiative der USA zielen darauf ab, das Wissen auf verschiedenen Ebenen zu vereinheitlichen und empirische Forschung zu lenken, zum Beispiel was die Expression neuronaler Gene angeht, oder die Identifizierung unterschiedlicher Typen von Nervenzellen, deren Lokalisierung und Verbindungen untereinander sowie die Verhaltenseffekte, die aus der koordinierten Aktivität vieler Neuronen resultieren.

Da es nicht möglich ist, die individuellen Verbindungsmuster von Nervenzellen im menschlichen Gehirn auf dieselbe Art und Weise zu «entschlüsseln» wie wir heute das Genom einer Person sequenzieren können, werden Neurowissenschaftler Werkzeuge brauchen, die ihnen sagen, wonach sie im realen Gehirn suchen müssen. Simulationen und Landkarten könnten sowohl zu «Integratoren» von Wissen oder zu «Linsen» werden, durch welche die Wissenschafter schauen, um die Komplexität des Gehirns zu erfassen. Das ist in der Tat eine faszinierende Idee, und einer der wenigen gangbaren Wege, den Graben zwischen erhobenen Gehirn-Daten und realen Anwendungen der Neurowissenschaft zu überbrücken.

Zweitens: Eine zentrale, aber von einem ethischen Standpunkt her betrachtet vernachlässigte Herausforderung bezieht sich auf die Konsequenzen dieser Strategie auf die Hirnforschung selber. Gewiss, Hirnforschung wirft viele ethische Fragen auf, wie jene, die sich auf den Einsatz von Tieren beziehen, oder den Schutz von Menschen, die an der Forschung teilnehmen. Für Ethiker sind dies jedoch eher «klassische» Probleme, und wir haben die Werkzeuge dazu, diese anzugehen. Wenn aber die Wissensproduktion an sich durch «Big Neuroscience» [gross angelegte Forschungsprojekte in der Neurowissenschaft] verwandelt wird, tauchen neue Fragen auf.

Zum Beispiel: Wie soll man im Fall widersprüchlicher Daten entscheiden, welche Daten für den Simulationscode genutzt werden und welche nicht? Wie soll die Peer-Review funktionieren, wen es um den Code geht, der zur «Auswertung» des enormen Bergs wissenschaftlicher Publikationen genutzt wird, oder um Simulationscodes (d.h. um Computerprogramme, die Tausende Zeilen mit Code beinhalten könnten)?

Wie stellt man eine ethische Arbeitskooperation unter verschiedensten wissenschaftlichen Kulturen sicher – zum Beispiel Biologen und Software-Ingenieure –, oder unter mehreren Ländern mit unterschiedlichen Standards in Bezug auf Forschungsethik, zum Beispiel was die informierte Zustimmung angeht? Wie soll man Simulationsresultate strukturieren, damit die Visualisierung, (die künstlich ist), die Nutzer nicht in die Irre führt – angesichts des Ziels, dass Simulationen schliesslich die experimentelle Arbeit lenken sollten?

Dies sind komplexe Fragen, und Spekulationen, dass «Computer mit einem Bewusstsein» irgendwie aus einer Gehirnsimulation hervorgehen könnten, sind unangemessen einfach, wenn es darum geht, ethischen Bedenken Ausdruck zu geben, die differenzierteren Auswahlen in beiden Gehirn-Projekten zugrunde liegen.

Drittens: Bei «Big Science» geht es nicht nur ums «grosse Geld», gross angelegte Forschung zu betreiben, hat auch erhebliche Auswirkungen darauf, wie die wissenschaftliche Zusammenarbeit an sich entwickelt, wie sie strukturiert, gehandhabt und gefördert wird. Dies könnte ein unvermeidliches Dilemma von öffentlich finanzierten Grossprojekten sein. Wenn ein grosser Haufen Geld für die Öffentlichkeit auffallend (und richtigerweise) sichtbar ist, sollte der Zweck öffentlich erklärt und die verantwortungsvolle Verwendung öffentlich ausgewiesen werden. Dies kann aber zu unrealistischen Begründungen auf Seiten der Forschenden führen und zu unrealistischen Erwartungen in der Öffentlichkeit, oft fusst dies auf aufregenden und verlockenden Erklärungen in Massenmedien.

swissinfo.ch öffnet seine Spalten für ausgewählte Gastbeiträge. Wir werden regelmässig Texte von Experten, Entscheidungsträgern und Beobachtern publizieren. Ziel ist es, eigenständige Standpunkte zu Schweizer Themen oder zu Themen, die die Schweiz interessieren, zu publizieren und so zu einer lebendigen Debatte beizutragen.

swissinfo.ch

Darüber hinaus kommen Grossforschung, Grossfinanzierung und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit oft in einer Art zusammen, die zu Druck führt, eine Gouvernanz- und Übersichtsstruktur zu schaffen, die mit dem Bottom-up-Entdeckungsethos vieler wissenschaftlicher Bereiche in Konflikt kommen kann. Steht mehr «auf dem Spiel», steigt oftmals der Druck, praktische Anwendungen liefern zu können. Dies könnte es unumgänglich machen, den wissenschaftlichen Ansatz «einzuengen» und relevante Unterbereiche und Mitarbeiter wegzulassen. Die Ethik sollte einen Teil ihrer Aufmerksamkeit auch auf solche wichtigen Nebeneffekte der «Big Neuroscience» fokussieren.

Angesichts vergleichbarer Erfahrungen in der Klimaforschung, wo Simulationen sowohl bei der Zuweisung von Investitionen als auch beim politischen Entscheidfindungs-Prozess eine zentrale Rolle spielen, sollten solche Fragen zur Forschung in den Neurowissenschaften nicht unterschätzt werden.

Beobachter aus soziologischen und anderen wissenschaftlichen Studienbereichen, die den aktuellen Prozess in der Klimaforschung untersuchten, mit Simulationen zu arbeiten, kamen zum Schluss, dass die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, die mit Modellen arbeiten und empirisch arbeitenden Wissenschaftlern schwierig ist, dass Visualisierungen dazu tendieren, bedeutende Unterschiede zwischen Simulationsdaten und realen Daten zu verwischen, und dass verschiedene psychologische Mechanismen am Werk sind, die eine kritische Beurteilung der Simulationsergebnisse untergraben können.

Myanna Lahsen untersuchte zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Modelltheoretikern und Meteorologen und stellte fest, dass letztere das Gefühl hatten, an der Entwicklung der allgemeinen Kreislauf-Modelle, den Vorläufern der heutigen Klimamodelle, nur ungenügend beteiligt gewesen zu sein.

Empiriker, die glauben, dass sinnliche Erfahrung die einzige Quelle von Wissen ist, haben Demut erworben, wenn es um die Genauigkeit von Prognosen zu Witterungsbedingungen geht: Sie führen dies auf die Erfahrungen zurück, dass sich synoptische und numerische Wettervorhersagen regelmässig als falsch erwiesen haben. Sie beklagen sich, Entwickler von Modellen schlössen andere oft aus, neigten dazu, kritischen Anregungen gegenüber resistent zu sein und lebten in einer «Festungsmentalität». Und Klimaskeptiker verweisen dann auf solche Probleme, wenn sie Ergebnisse der Klimaforschung in Frage stellen.

Befasst man sich nicht mit diesen Problemen, so untergräbt man das gesamte wissenschaftliche Unterfangen – das Erstellen von Simulationen, die künftige Forschungsarbeit ermöglichen sowie bedeutendes Wissen und Anwendungen schaffen sollen, die öffentlich und wissenschaftlich vertrauenswürdig sind. In dem Sinne können die jüngst von Neurowissenschaftlern in dem «offenen Brief» geäusserten Bedenken zum Human Brain Project schlicht wiederholen, was andere Studienbereiche bereits erlebten, als Simulationen als Werkzeuge der Forschung an Bedeutung zunahmen.

Jean-Pierre Changeux, ein französischer Neurowissenschaftler und Mitglied des HBP, forderte eine «epistemische Ethik», wenn man die gross angelegte Neuroforschung vorantreibe, die Big-Data-Technologien und Simulationen nutze, um die grossen Herausforderungen in der Hirnforschung anzugehen. Das bedeutet, dass das Ziel, Wissen zu «integrieren» und Computerleistung zur Lenkung der Forschung zu nutzen, auf eine sorgfältige Zusammenarbeits-Architektur über Disziplinen hinweg angewiesen sein wird, genauso wie auf die Unterstützung der Wissenschaft und einer gut informierten Öffentlichkeit, sowie auf eine vertiefte Erforschung ethischer Aspekte und Auswirkungen der grossen Neuroforschung.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft