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Warum die Gletscherschmelze uns alle betrifft

2022 war ein «katastrophales» Jahr für die Schweizer Gletscher

Gruppe von Menschen mit Blick auf einen Gletscher
Eine Landschaft, die zum Verschwinden verurteilt ist? Der Pers- und der Morteratschgletscher in Graubünden am 10. August 2022. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Die Schweizer Gletscher haben in diesem Jahr mehr als sechs Prozent ihres Volumens verloren. Die Gletscherschmelze hat damit alle Rekorde gebrochen – aber sie hatte auch einige positive Auswirkungen.

«Das hydrologische Jahr 2022 wird für die Schweizer Gletscher als das schlechteste in die Geschichte eingehen», sagt Daniel Farinotti gegenüber swissinfo.ch.

Der Glaziologe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) ist Mitglied des Steuerungsausschusses von «GLAMOS», dem Schweizer Gletschermessnetz, das die Zahlen erhoben hat. «Einen solchen Verlust hat es noch nie gegeben», sagt er.

>> Bericht in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF:

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In diesem Jahr haben die Gletscher rund drei Kubikkilometer Eis verloren. Das entspreche mehr als sechs Prozent ihres Volumens, heisst es in einer am Mittwoch veröffentlichten Mitteilung der Akademie der Naturwissenschaften SchweizExterner Link (SCNAT).

Bislang wurden Jahre mit einem Volumenverlust von zwei Prozent als «extrem» definiert. Die Schmelzraten haben den bisherigen Rekord der Hundstage von 2003 weit übertroffen, so die SCNAT, die 2022 nun als «katastrophales» Jahr einstuft.

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Im Engadin und im südlichen Wallis ist diesen Sommer auf einer Höhe von 3000 Metern eine vier bis sechs Meter dicke Eisschicht verschwunden. Der Durchschnitt der letzten Jahrzehnte lag bei etwa einem Meter.

Besonders drastisch war der Verlust bei kleinen Gletschern. Der Pizolgletscher im Kanton St. Gallen, der Vadretgletscher am Corvatsch in Graubünden und der Schwarzbachfirn im Kanton Uri seien «praktisch verschwunden», schreibt die SCNAT auf der Grundlage von «GLAMOS»-Messungen.

Um die Massenbilanz der Gletscher zu ermitteln, werden zwei Messungen durchgeführt: die erste im April, um festzustellen, wie viel Schnee das Eis bedeckt hat (Akkumulation). Und die zweite im September, um die Auswirkungen der Wärme zu messen (Ablation).

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Wenig Schnee, Saharastaub, Hitzewelle

Für den starken Gletscherschwund in diesem Jahr gibt es im Wesentlichen drei Gründe: Erstens, die geringen Schneefälle im Winter und Frühjahr. Zweitens der Sand aus der Sahara-Wüste zwischen März und Mai, der sich auf Eis und Schnee absetzte und den Albedo-Effekt (Rückstrahlvermögen) verringerte. Drittens die aussergewöhnliche Hitzewelle im Sommer mit Rekordtemperaturen selbst in grossen Höhen.

Der Sommer 2022 war der zweitwärmste in der Schweiz seit Beginn der Messungen im Jahr 1864. Am 25. Juli stieg die Null-Grad-Grenze auf eine Höhe von 5184 Metern. Der bisherige Rekord (5117 Meter) war laut Meteo Schweiz am 20. Juli 1995 gemessen worden.

Matthias Huss, Glaziologe an der ETH und Direktor von «GLMAOS», sagte gegenüber dem Tages-Anzeiger, dass die Gletscher im Juni innerhalb einer Woche mehr als 300 Millionen* Tonnen Schnee und Eis verloren haben. «Wir hätten alle fünf Sekunden ein olympisches Schwimmbecken füllen können», sagte er.

Die Auswirkungen der Hitzewelle und der globalen Erwärmung im Allgemeinen sind auf dem Tsanfleuron-Pass auf 2800 Metern Höhe zwischen den Kantonen Waadt und Wallis besonders deutlich zu spüren: Zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren sind die beiden Eiszungen nicht mehr durch einen schmalen Streifen verbunden, und die Menschen gehen wieder direkt auf dem Felsen.

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Schmelzwasser, ein «Segen»

Der Rückzug der Gletscher verändert die Landschaft und macht manche Alpenhänge instabiler. Die Gletscherschmelze hat aber auch positive Auswirkungen.

So konnte etwa das Schmelzwasser die geringen Niederschläge ausgleichen und einen Teil der für die Wasserkrafterzeugung genutzten Stauseen füllen. Wasserkraftwerke liefern mehr als 60% des in der Schweiz produzierten Stroms.

«Im letzten Winter hatten wir sehr wenig Schnee, so dass es an Schmelzwasser mangelte. Aber die Gletscher in den Einzugsgebieten der Stauseen haben diesen Sommer viel Wasser geliefert», sagte Bettina Schaefli, Professorin für Hydrologie an der Universität Bern, in einem swissinfo.ch-Artikel.

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Die diesjährigen Entwicklungen zeigen, wie wichtig die Gletscher für den Wasserhaushalt und die Energieversorgung in trockenen und warmen Jahren sind, so die SCNAT. Allein die Eisschmelze im Juli und August hätte genug Wasser geliefert, um alle Stauseen in den Schweizer Alpen von Grund auf zu füllen.

Vor dem Hintergrund einer möglichen Energieknappheit diesen Winter sei das Schmelzwasser für die Schweizer Wasserkraftwerke ein «Segen», so Huss.

* In einer früheren Version hatten wir fälschlicherweise «300’000 Millionen Tonnen» geschrieben. Die Zahl wurde am 15. November 2022 korrigiert.

Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

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