Warum ein Australier dem Genfersee auf den Grund geht
Der berühmte Genfersee sei nicht nur schön und biete den Menschen darum herum einen kulturellen Wert. Für den australischen Forscher Andrew Barry ist er auch ein faszinierendes "Freiluft-Labor". Die Forschungsarbeiten, die er und sein Team in diesem See durchführen, könnten helfen, mehr über den Klimawandel und die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Wasserressourcen auf der ganzen Welt zu erfahren.
Ursprünglich stammt er aus Brisbane, Australien. Professor Andrew BarryExterner Link kam 2005 an die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL). Gegenwärtig ist er Leiter des dortigen Instituts für Umwelttechnologie. Seit September 2018 ist er auch Interimsdirektor der EPFL-Hochschule für Architektur, Bauwesen und Umwelttechnik (ENAC), die diese drei Disziplinen zusammenbringt. Und genau das sei einer der Gründe gewesen, warum er nach Lausanne gekommen sei.
«Ich bin der Meinung, dass das Schweizer System bemerkenswert integrativ ist. Das macht es attraktiv, hierher zu kommen», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Und diese seltene Kombination von Disziplinen innerhalb einer einzigen Fakultät ist sehr nützlich, denn wir können alles anpacken, was mit der Umwelt, ihren Veränderungen und den Auswirkungen des Klimawandels zu tun hat.»
Je mehr Zeit er am Genfersee verbracht habe, «desto mehr interessierte ich mich für den See und die Erforschung der Prozesse, die in diesem vor sich gehen», sagt Barry.
Das «Freiluft-Labor»
Der Genfersee, im französischsprachigen Landesteil «Lac Léman» genannt, sei wegen seiner Grösse und Tiefe für Forschende besonders interessant, betont Barry. Mit seinen rund 580 Quadratkilometern Oberfläche ist er knapp vor dem Bodensee der grösste Schweizer See, auch wenn er auf einer Landesgrenze liegt und nur ein Teil davon Schweizer Territorium ist.
An seinem tiefsten Punkt ist er 310 Meter tief. Gespiesen wird er durch die Rhone, die am Furkapass aus dem Rohnegletscher entspringt und von Osten her in den See fliesst. In Genf, wo der Wasserstand des Sees reguliert wird, fliesst die Rhone schliesslich Richtung Frankreich und Mittelmeer gegen Süden ab.
«Wenn man ein Wasserglas füllt und beobachtet, passiert da nicht viel», sagt Barry. «Andererseits hat man in grossen Wassermassen wie den Ozeanen Gezeiten, Wind und heftige Stürme. Da gibt es natürlich die ganze biologische Aktivität. Ein grosser See ist kein Ozean, aber hydrodynamisch gesehen ist er wie ein kleiner Ozean ohne Gezeiten.»
Auf einem See gebe es keine grossen Wellen, die Oberflächenwinde seien viel schwächer, sagt Barry. Doch die Grösse eines Sees ermögliche eine gute Beobachtung der Coroliskraft. Diese bewirkt, dass sich Wasser in einer Kreisbewegung bewegt, wenn es beispielsweise durch den Wind gestört wird. Das wird durch die Rotation des Planeten verursacht.
Die Tiefe des Sees ermöglicht auch die Beobachtung der vertikalen Vermischung zwischen Oberflächenwasser und tiefem Kaltwasser. Verschiedene Effekte im See können diesen Mischprozess verstärken und so Sauerstoff von der Oberfläche in tiefere Seeregionen transportieren. Das ist sowohl für die Wasserqualität wie auch für die Fische wichtig. Die Wasserbewegung und das konstante Durchmischen des Sees können auch dazu beitragen, unerwünschte Einflüsse wie Abwässer abzuschwächen.
«Er ist ein sehr tiefer See, was zu einem sehr reichen hydrodynamischen System führt», erklärt Barry. «Deshalb verfügt er als ‹Freiluft-Labor› über die komplizierten Bewegungen und die Komplexität, die ihn zu einem sehr interessanten und herausfordernden wissenschaftlichen Gewässer machen. Und wegen seiner Grösse können wir viel von dem, was wir hier über den Genfersee herausfinden, auf andere Seesysteme anwenden.»
Die Temperatur nehmen
Seit zehn Jahren forscht Professor Barry bereits auf dem und im Genfersee. Ein Grossteil davon sind Messungen und Aufzeichnungen. «Wir messen die Strömungen im See recht detailliert», sagt er. «Und wir messen in gewissen Tiefen Wassereigenschaften wie die Temperatur, die zu einem grossen Teil die Wasserdichte bestimmt.»
Die Messungen werden auf verschiedene Arten durchgeführt. So hat sein Team in verschiedenen Wassertiefen Instrumente platziert, um vertikale Profile zu erhalten, wie etwa die Temperatur in verschiedenen Tiefen.
Die Forschenden verfügen auch über einen autonomen Katamaran, der auf dem See Luftmessungen durchführen und Wassereigenschaften feststellen kann. Zudem haben sie an einem Ballon ein Wärmebild-System montiert. Er schwebt zwischen 500 Meter und 1,5 Kilometer über der Seeoberfläche.
«Mit dem Wärmebild-System können wir die Temperatur des Seewassers ermitteln und diese dann in unseren Berechnungen des Oberflächen-Energieaustauschs verwenden. Dieser hat im Lauf der Zeit einen grossen Einfluss auf die Energiebilanz des Sees», sagt Barry.
«Es gibt erhebliche Temperaturschwankungen. Auch wenn die Wasseroberfläche homogen und eben aussieht, findet man heraus, wenn man sie genauer untersucht, dass sie eigentlich ziemlich variabel ist.»
Die EPFL ist eine von mehreren Organisationen, die Forschung auf dem Genfersee betreiben. Darunter etwa die französisch-schweizerische «Commission Internationale pour la Protection des Eaux du Léman»Externer Link (CIPEL). Die EPFL arbeitet zusammen mit der EawagExterner Link sowie den Universitäten Genf und Lausanne an einer neuen Forschungsplattform vor dem Städtchen Pully. Diese ergänze die Arbeit seines Teams, sagt Barry.
«Die Welt der Wissenschaft ist sehr international, und die Schweiz ist dabei sehr stark involviert», sagt Barry. «Auch ist die Schweiz ein sehr kleines Land, so können sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vielleicht leichter kennenlernen als in einem grossen Land. Deshalb sind die Grösse und Lage der Schweiz beides Faktoren, die zu einer starken Zusammenarbeit führen.»
Umwelttechnologie
Die Umwelttechnologie stützt sich in hohem Mass auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Doch wo kommt der technische Aspekt ins Spiel?
Barry gibt ein Beispiel: Wenn es zu einer Einleitung in den See komme, könne die EPFL-Forschung helfen, festzustellen, wohin dieses Wasser fliesst, wie lange es an der Oberfläche bleibt und welche möglichen chemischen Reaktionen durch Sonnenlicht verursacht werden. Solche können die Wasserqualität des Sees beeinträchtigen. Sollte also eine neue Wasserfassung aus dem See gebaut werden, etwa für Trinkwasser, könne die Forschung bei der Bestimmung des Standorts helfen.
«Eine weitere Gruppe wollte eine künstliche Insel für Vögel bauen», so Barry weiter. «Die Frage ist: Wenn man eine Insel baut, wie wirkt sich das auf die Hydrodynamik des Sees aus? Das sind die Dinge, zu denen wir beitragen können.»
Was darunter liegt
Die Frage, die sich angesichts des Klimawandels aufdrängt, ist, ob sich der Genfersee erwärmt. Das Volumen des Sees beträgt etwa 89 km3, so dass Temperaturschwankungen stufenweise auftreten. Langzeitstatistiken zeigen eine Tendenz zur Erwärmung, aber diese ist keinesfalls linear, und das Seesystem ist komplex.
Barrys Team hat auch einen Prozess untersucht, der sich windgetriebener Küstenauftrieb nennt. Dabei kann Kaltwasser aus der Tiefe an die Oberfläche steigen. Der Küstenauftrieb ist besonders ausgeprägt im Winter, wenn der Temperaturunterschied zwischen Oberflächen- und Tiefenwasser gering ist. Diese so genannte schwache Schichtung ermöglicht es der Energie von starken Winden, die entlang ihrer Längsachse über die Oberfläche des Sees wehen, tief ins Wasser einzudringen.
«In unserer jüngsten Forschung haben wir herausgefunden, dass es besonders nach einem mehrtägigen Wind zu starkem Küstenauftrieb kommt und das Wasser – das ist kaum zu glauben – aus einer Tiefe von 150 bis 200 Metern stammt», sagt Barry. Der Küstenauftrieb ist ein bekanntes Phänomen, aber in diesem See ist es besonders ausgeprägt, weil er derart tief ist und oft mehrtätige Winde wehen.
Ein anderes, überraschendes Phänomen haben die Forschenden im Osten beobachtet, wo die Rhone in den Genfersee mündet: einen so genannten Trübungsstrom. «Wenn die Rhone in den See fliesst, bringt sie Sedimente und normalerweise eine kältere Temperatur mit. Also ist es dichteres Wasser», sagt Barry.
«Wenn nun das Wasser dicht genug ist, sinkt es auf den Seegrund, der steil abfällt. Dieses Wasser kann so am Seegrund bis fast in die Mitte des langgezogenen Sees fliessen. Es ragt von einem Teil des Seegrunds hervor, und man kann dort, wo das passiert, Spuren in der Morphologie des Seebetts sehen.»
Andrew Barry lebt in der Nähe von Montreux, weshalb er den Genfersee jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vom Zug aus sieht. «Natürlich bin ich total fasziniert von diesem See – wie alle anderen auch», sagt er.
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(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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