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Shuttle-Bus ohne Fahrer ist noch Zukunftsmusik

An autonomous bus on the Belle-Idée hospital site.
Stopp auf Verlangen: Dereinst sollen drei vollautomatisierte Shuttle-Busse Menschen auf dem Gelände der Klinik Belle-Idée in Genf transportieren. swissinfo.ch

In der Schweiz wird vielerorts mit automatisierten Bussen experimentiert. Aktuell auch auf einem Spitalgelände der Stadt Genf. Doch bis die fahrerlosen Systeme etabliert sind, könnten noch Jahre vergehen.

Ein kühler Herbsttag in Genf. Ein orange-weisser Elektrobus fährt auf dem Spitalgelände im Stadtteil Belle-Idée. Der Bus bewegt sich langsam, aber stetig über den von Blättern bedeckten Kiesweg, der das 36 Hektar grosse, parkähnliche Gelände durchkreuzt.

Plötzlich tauchen zwei Personen auf: Eine Pflegerin und ein Patient sind hinter einem Baum hervorgetreten und stehen im Weg des Shuttles. Das Fahrzeug bremst scharf ab, ein Warnsignal ertönt, und vorne und hinten blinkt ein «Abstand halten»-Schild. Die beiden Fussgänger machen einen Schritt zurück, und der Bus fährt wieder an.

Das Shuttle mit zehn Sitzplätzen, das an ein Spielzeug erinnert, ist bis auf einen Sicherheitsbeamten menschenleer. Auch der Fahrer ist leer. Stattdessen wird das Vehikel von Sensoren, GPS und Radar gesteuert. Der Kleinbus bildet das Herzstück eines Experiments.

«Es ist eine Weltneuheit im öffentlichen Verkehr», sagt Dimitri Konstantas zum Feldversuch, den er koordiniert. «Was bislang an automatischen Verkehrsdiensten existiert, verläuft auf fest vorgegebene Routen», erklärt der Direktor des Instituts für Informationswissenschaften an der Universität Genf. «Der Versuch hier ist anders – der Shuttle kann theoretisch überall hin.»

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Allzeit bereit

Das Experiment begann bereits im Sommer, als ein kleines Team den grossflächigen Park des Krankenhauses und dessen Hindernisse kartierte. Parallel dazu gab ein Genfer Startup namens MobileThinking einer App den letzten Schliff.

Wenn das Projekt dereinst umgesetzt ist, werden sich die Patientinnen und Patienten, die Besucher sowie Mitarbeitenden des Psychiatrie- und Geriatriespitals einfach und schnell auf dem Gelände bewegen können. Ziel ist ein Tür-zu-Tür-Service auf Abruf – und das zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Mit Hilfe der App können die Fahrgäste feststellen, wo sich die Busse gerade befinden. Anschliessend können sie eine Bestellung eingeben. Der Besteller enthält danach die notwendigen Informationen, zu welchem Zeitpunkt ein Shuttle zur Verfügung steht. Aufgrund von allfällig anderen Bestellungen wird dann die zu fahrende Route festgelegt.

«Die Idee ist ein System, das bis auf einen Controller, der die Fahrzeuge überwacht, völlig automatisch funktioniert», beschreibt der Verkehrsexperte Jeroen Beukers das Pilotprojekt, das er für die Genfer Verkehrsbetriebe (TPG) leitet.

«Nächste Woche installieren wir die elektrischen Türen im Depot. Sie werden sich automatisch öffnen und schliessen, nachdem ein Kunde eine Bestellung abgeschickt hat. Ein aufgeladener Bus wird den Passagier abholen und ans Ziel bringen. Anschliessend wird das Fahrzeug entweder ins Depot zurückkehren oder den nächsten Passagier abholen», erklärt Beukers.

Driverless bus in Geneva
Versuchsfahrzeug ohne Fahrer im Testeinsatz auf dem weitläufigen Gelände der Genfer Klinik. swissinfo.ch

Das Belle-Idée-Projekt ist nicht das erste seiner Art in der Region: Seit 2018 betreiben die TPG in der Gemeinde Meyrin erfolgreich einen automatisierten Shuttle-Dienst. Im Gegensatz zum neuen Projekt verkehrt dort aber der Bus auf einer vordefinierten Route.

Europäische Initiative

Das neue Projekt ist Teil einer vierjährigen europäischen Initiative für autonome Fahrzeuge mit der Bezeichnung AVENUE (Autonomous Vehicles to Evolve to a New Urban Experience). Das europäische Konsortium, das durch das Programm Horizon 2020 der EU finanziert wird, umfasst auch Pilotprojekte im französischen Lyon, in Luxemburg sowie in Kopenhagen in Dänemark.

In den vergangenen fünf Jahren haben in der Schweiz Versuche mit selbstfahrenden Bussen zugenommen. Viele Städte und Transportunternehmen haben mit fahrerlosen Fahrzeugen experimentiert (siehe Box). Zum Beispiel Sion. Der Hauptort des Kantons Wallis hat 2016 als erste Schweizer Stadt und in Zusammenarbeit mit der Post einen autonomen Busdienst eingeführt.

Bis auf kleinere Zwischenfälle haben sich solche Versuche bislang bewährt: Tausende von Fahrgästen nehmen heute regelmässig Pendelbusse ohne einen Chauffeur aus Fleisch und Blut.

«Schweiz leistet Pionierarbeit»

Die Versuche hätten es der Schweiz ermöglicht, sich als Vorreiterin in diesem Bereich zu positionieren, sagt Marina Kaempf, Sprecherin des Bundesamtes für Strassen.

In den meisten Fällen seien die Tests von der Bevölkerung gut angenommen worden, wobei Gemeinden und Kantone stets «realistische» Projekte entwickelten, um zu zeigen, was die Fahrzeuge tatsächlich leisten können, sagt sie gegenüber swissinfo.ch.

Der heutige Stand der Technik erlaube es aber noch nicht, fahrerlose Fahrzeuge kommerziell zu nutzen, so Kaempf weiter. Zudem müsse der Datenaustausch zwischen dem Fahrzeug und seiner Umgebung verbessert werden. «Längerfristig kann man sich vorstellen, dass autonome Busse auf bestimmten Linien regelmässig fahren. Doch dazu muss die Technologie perfektioniert werden», betont sie. Kurzfristig liege der Fokus deshalb auf Pilotprojekten.

Die Schweiz hat während den vergangenen fünf Jahren eine Reihe von autonomen Fahrzeugen auf ihren Strassen ausprobiert.

Ein selbstfahrender Personenwagen wurde 2015 in Zürich getestet, gefolgt von einem Lieferroboter der Post ein Jahr später in Bern.

In Sitten wurde ab Sommer 2016 versuchsweise ein autonomer Minibus der Post im Stadtzentrum eingesetzt. Das Projekt wurde jedoch wegen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt. Die Post plant aber ein Nachfolgeprojekt zwischen Sitten und dem Vorort Uvrier.

Regionale Verkehrsbetriebe testen zudem autonome Shuttles in Marly im Kanton Freiburg, in Bern sowie in Meyrin und Thônex im Kanton Genf. Ähnliche Versuche wurden zwischen 2018 und 2019 in Neuhausen am Rheinfall sowie in Zug durchgeführt.

Parallel dazu bereitet sich der Bundesrat in den nächsten Jahren auf den verstärkten Einsatz autonomer Fahrzeuge auf dem Schweizer Strassennetz vor. Mit einer Revision des Strassenverkehrsrechts will er den neuen technischen Entwicklungen im Verkehr Rechnung tragen. Das Revisionspaket wurde im vergangenen August in die Vernehmlassung geschickt. Ein Teil der Vorschläge zielen darauf ab, die gesetzlichen Grundlagen für automatisiertes Fahren und künftige Tests zu verbessern und sicherzustellen, dass sich die Schweiz an internationale Entwicklungen anpassen kann.

Viele offene Fragen

Die Schweiz macht also vorwärts. Doch nicht alle Mobilitätsexperten glauben, dass selbstfahrende Busse in naher Zukunft zum Strassenbild gehören werden. «Vielleicht in 20 Jahren wird man echte Fortschritte sehen, aber im Moment sind autonome Busse leider nichts mehr als ein nettes Gadget», sagt Vincent Kaufmann, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und wissenschaftlicher Leiter des Mobile Lives Forum in Paris.

«Für mich sind gemeinsam genutzte Taxis viel interessanter. Wir werden weiterhin Strassenbahnen, Züge und Busse benötigen, in denen 100 bis 200 Passagiere befördert werden können. Wenn jedoch gemeinsam genutzte autonome Fahrzeuge die individuellen Autos in den Städten ersetzen, wäre das ein echter Gewinn», sagt Kaufmann.

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Momentan gibt es noch sehr viele Fragen. Wird die Einführung von autonomen Fahrzeugen die Schweizer Strassen verstopfen? Wie sollen sie reguliert werden und wie sicher werden sie überhaupt sein? Werden selbstfahrende Busse dereinst nur in den Vorstädten oder auch in den Stadtzentren eingesetzt? Wie sieht’s mit dem Datenschutz aus? Und welche rechtliche Verantwortung werden Verkehrsbetriebe und Fahrer für ihre Fahrzeuge haben?

Für Dimitri Konstantas, der den Versuch in Genf leitet, steht vor allem eine Herausforderung im Vordergrund: Die Erkennung der Umgebung. «Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis solche Busse Objekte in unmittelbarer Nähe korrekt erkennen sowie das Verhalten der Menschen auf der Strasse vorhersehen können.» Tesla arbeite mit Hochdruck an solchen Systemen, ergänzt er, «aber ich denke, dass die perfekte Lösung erst in einigen Jahren, wenn nicht sogar in Jahrzehnten vorliegen wird».

Auch der Datenschutz ist für Konstantas ein grosses Thema. «Wir dürfen die Daten von Menschen, denen das System begegnet, nicht verwenden, um daraus zu lernen», sagt er. «Es ist fest programmiert. Es ist keine künstliche Intelligenz, die lernt und sich verbessert. Soweit sind wir noch nicht.» Zurzeit seien es also nur Experimente. «Wird das die Zukunft sein? Werden wir alle davon profitieren? Wir können es nur herausfinden, wenn wir weiter testen.»

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