Scharf beobachtete Klicks
Deepfakes, Geheimdienste und politische Unruhen – das sind die Zutaten der ersten Kurzgeschichte in der neuen Science-Fiction-Reihe von swissinfo.ch. Die visionären Zukunftsszenarien sollen dabei helfen, aufkeimende Technologien besser zu verstehen.
Der technologische Fortschritt beschleunigt sich rasant. Wie verändert er unseren Alltag und unsere Gesellschaft? Science-Fiction-Kurzgeschichten, die von swissinfo.ch in Zusammenarbeit mit Autoren und Wissenschaftlern entwickelt worden sind, sollen Antworten liefern.
In der ersten Story gehts um ein Forscherteam, das während der Covid-19-Pandemie Deepfakes entlarvt, nur um herauszufinden, dass mit ihrer Chefin so einiges nicht stimmt.
* * *
Schlaftrunken tastete Reggie nach ihrem Mobiltelefon und blickte aufs schwach leuchtende Display. Es war 7:52 Uhr. Zeit, aufzustehen.
Reggie mochte das Homeoffice nicht besonders, aber sah durchaus die Vorzüge: Sie konnte im Bett arbeiten, ihre Morgenroutine war innert acht Minuten abgespult. Und Duschen war optional.
Bald dampfte der Kaffee. Die Müdigkeit hatte sie noch immer im Griff. Trotzdem klappte Reggie ihren Laptop auf und meldete sich bei zahlreichen Remote-Netzwerken an. Anschliessend warf sie einen Blick auf «Slack», um zu erfahren, was sie heute zu tun hatte. Annabel hatte ihr eine lange Liste geschickt. «Lass mich nicht im Stich!» stand darunter.
Reggie verdrehte die Augen. Aber sie wollte Annabel beeindrucken. Sie kannte ihre Chefin kaum; auch zwei Monate nach Job-Antritt hatten sie nur ein paar Mal via Video Call miteinander gesprochen. Doch Reggie betrachtete sie als Vorbild.
Utopie oder Dystopie? Realität oder Fiktion? Die gegenwärtigen technologischen Fortschritte konfrontieren uns mit grundlegenden Fragen über die Zukunft der Menschheit: Werden die Hightech-Quantensprünge unsere Verbündeten oder unsere Feinde sein? Wie werden sie unsere Gesellschaft verändern? Sind wir dazu bestimmt, zu Cyborgs und «Übermenschen» zu werden?
«Tomorrow’s Utopias and Dystopias» ist eine Reihe von Kurzgeschichten, die von swissinfo.ch in Zusammenarbeit mit Schweizer Autorinnen und Autoren sowie Forschenden entwickelt wurden, um solche Fragen auf innovative und visionäre Weise zu beantworten. Jede Kurzgeschichte wird von einem Sachartikel begleitet, der Einblicke in die neuesten Forschungsergebnisse zu den jeweiligen Themen gibt.
Annabel beherrschte sieben Sprachen und konnte einen beeindruckenden Lebenslauf mit Erfahrungen beim Nachrichtendienst vorweisen. Mit knapp 30 Jahren leitete sie ein staatsübergreifendes Forschungsteam, das sich mit Desinformation und Propaganda beschäftigte.
Der erste Punkt auf der Liste betraf eine angebliche Rede von Viktor Orbán, die als Video im Umlauf war. Die Aufnahme machte einen authentischen Eindruck. Aber wann hatte der als Hardliner bekannte Präsident Ungarns jemals wohlwollend über Flüchtlinge gesprochen?
Einige Klicks weiter stiess Reggie auf Hinweise, dass ein berüchtigtes russisches Hackerkollektiv für die Datei verantwortlich war. Doch wie immer war die eigentliche Frage nicht wer, sondern warum. Was konnte Russland von einem liberaleren Ungarn gewinnen?
Reggie holte ihren persönlichen Laptop heraus und loggte sich ins Darkweb ein. In einem gut geschützten Chatroom tippte sie folgende Frage ein:
«Wer profitiert vom Deep-Fake-Video, das Orban als Einwanderungs-Befürworter zeigt?»
Ihrer Uhr zufolge war es noch zu früh, um Antworten zu erwarten, es sei denn, ihre ostasiatischen Freunde hätten plötzlich ein Interesse an Ungarn entwickelt. Reggie liess die Sache fürs Erste ruhen und wandte sich Annabels Liste zu. Der Kampf gegen #Fakenews ging weiter.
Bis zur Mittagspause hatte Reggie ein halbes Dutzend Videos entlarvt, in denen Politiker EU-feindliche Parolen riefen, und dabei ihre Chatroom-Anfrage beinahe vergessen.
Doch andere Darkweb-Geeks hatten das nicht. Ihr Beitrag im Forum Peelthis.onion brummte, zahlreiche Hacker-Detektive meldeten sich zu Wort.
Die «russischen Fingerabdrücke» auf Orbáns Rede erkannten auch sie. Hacker, die viel mehr Erfahrung hatten als Reggie, lieferten sich ein digitales Wettpinkeln. Aber zur eigentlichen Frage gabs keinen Konsens. Was war das Motiv der Urheber? Reggie loggte sich aus – sie hatte noch anderes zu tun.
* * *
Annabel wollte sie sprechen, doch der Zoom-Call funktionierte so schlecht wie eh und je. Nach mehreren Fehlversuchen kehrten sie zu «Slack» zurück. Wie schaffte es Annabel bloss, in einer Wohnung mit einem so miserablen WLAN zu überleben?
Reggie würde es nie verstehen. Und daran änderte auch Annabels herrliche Aussicht auf den Zürichsee nichts. Jedenfalls schien die Chefin mit ihr zufrieden zu sein, zumal sie kürzlich Reggies Pensum erhöht hatte.
Plötzlich blinkte auf ihrem Bildschirm eine Nachricht auf. «Kannst du sprechen?». Sie stammte von Simon, ihrem Arbeitskollegen. Auch ihn kannte sie nur wenig, da beide während der Covid-19-Pandemie rekrutiert worden war. «Am Telefon, meine ich», ergänzte Simon.
Reggies Telefon vibrierte, bevor sie antworten konnte. «Simon. Was gibt’s?»
«Arbeitest du immer noch an Annabels Liste?»
«Ja! Ich glaube, dass ich nie fertig werde.»
«Könntest du vielleicht kurz aussetzen und dir ein Video anschauen?»
«Klar. Wonach soll ich suchen?»
«Das sage ich dir nicht. Ich möchte wissen, ob du dasselbe siehst wie ich. Lass’ es einfach durch die üblichen Algorithmen laufen und melde dich anschliessend bei mir, ok? Und bleib’ dabei bitte bei Telegram.»
* * *
Kurze Zeit später lehnte sich Reggie mit offenem Mund zurück. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah und griff hastig nach ihrem Handy. «Simon. Du meinst Annabel? Sie ist …»
«Nicht echt? Ja, so sieht es für mich zumindest aus.»
«Der Quellcode ist Kauderwelsch. Was verbirgt er?»
«Das müssen wir herausfinden.»
«Wir? Wir sind doch Grünschnäbel!»
«Oder der Code ist unbedeutend und hat gar nichts mit unserer Arbeit zu tun. Aber Fakt ist, dass da etwas sehr Seltsames vor sich geht. Reggie, wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben.»
Reggie blickte aus dem Fenster. Über den Bergen im Südosten zogen dunkle Gewitterwolken auf.
«Dann lass uns noch einmal von vorne anfangen. Was wissen wir über Annabel? Über unsere Firma? Wir sind doch Analysten, also analysieren wir!»
* * *
Reggie ging auf ihrem Balkon auf und ab und kämpfte verzweifelt gegen den Drang an, ihre Wohnung zu verlassen und unten im Laden eine Schachtel Zigaretten zu kaufen.
Nach drei Tagen, in denen sie rund um die Uhr Daten verarbeitet und analysiert hatten, waren sie und Simon in Bezug auf Annabel kaum vorangekommen. Es war klar, dass ihre Chefin nicht existierte. Doch wer sie erschaffen hatte und warum, wussten sie noch immer nicht.
Scheinbar gab es aber «Annabel» seit längerem. Ihre Spuren im Web reichten über zehn Jahre zurück. Deshalb hatte Reggie beschlossen, die grossen Geschütze aufzufahren und ihre Darkweb-Quellen anzuzapfen, unabhängig davon, ob Simon mitmachte oder nicht.
Als es an der Tür läutete, zuckte sie innerlich zusammen. Sofort registrierte ihr Gehirn ein Morsecode-Muster in dem Summen der Türsprechanlage – S-O-S. Auf dem Bildschirm erschien ein Mann, den Sonnenbrille und Mundschutz komplett anonymisiert hatten.
«Hallo?»
«Frau Neubauer, ich bin vom Geheimdienst. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?»
«Geheimdienst?»
«Es geht um Ihre Online-Aktivitäten. Könnten wir kurz miteinander sprechen?»
* * *
Der Spion war weg. Reggie schloss die Tür hinter ihm und verriegelte zum ersten Mal seit ihrem Einzug alle drei Schlösser. Doch sicherer fühlte sie sich dadurch nicht. Sie liess das Gespräch mit dem Agenten noch einmal Revue passieren
Herr Brunner – sofern dies sein richtiger Name war – hatte ihr zuerst etwas über Schweizer Neutralität gepredigt, danach war er zum Thema gekommen. «Ihre Online-Aktivitäten sind mir aufgefallen», hatte er mit drohendem Unterton gesagt. «Sie analysieren Deepfakes, richtig?»
«Korrekt.»
«Und Ihre Darkweb-Aktivitäten. Sind diese von ihrem Arbeitgeber sanktioniert oder nicht? «
«Darkweb?»
«Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Sie haben Fragen in diesem Forum gestellt, oder?» Er hatte sie mit blassblauen Augen angeschaut. «Ich empfehle Ihnen, damit aufzuhören.»
Reggie dachte weiter über ihre Recherchen nach. Dabei war sie immer wieder auf einen Namen gestossen: Die Five-Eyes-Bande. Wer war sie? Und was hatte die Schweizer Regierung damit zu tun? Reggie wusste nur, dass sie in ein Hornissennest gestochen hatte.
Sie durchsuchte das Forum nach Hinweisen auf Verschwörungsmaterial, das sie zuvor als Unsinn abgetan hatte. Mit dem Eifer eines QAnon-Jüngers durchforstete sie die Beiträge. Mittlerweile waren ganze Dossiers abgelegt worden.
Es ging um unsaubere Verbindungen und dunkle Geheimnisse. Wie nun klar war, wurde Reggies Unternehmen von undurchsichtigen Offshore-Geldgebern finanziert, die eng mit den anglo-amerikanischen Geheimdiensten verflochten waren. Sie tippte eine Frage ein:
«Haben wir etwas über Deepfakes herausgefunden, das die Geheimdienste für sich behalten wollen?»
Die Antworten kamen im Sekundentakt. Doch nur eine brannte sich in ihr Bewusstsein.
BrunBear: «Wie ich sehe, sind Sie es nicht gewohnt, Ratschläge zu befolgen. Ich sagte Ihnen doch: Lassen Sie es bleiben.»
In diesem Moment ertönte in ihrer Wohnung ein lautes Geräusch. Als würde Holz zersplittern. Sie fuhr herum und schaute Richtung Eingangstür. «Bleiben Sie, wo sie sind!», erschallte von dort eine raue Stimme.
* * *
Kate Walker ist eine britische Journalistin, die über den Motorsport für Zeitungen wie die Financial Times, die New York Times und ESPN berichtet hat. Daneben schreibt sie Fiction.
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
Wie realistisch ist die Geschichte, die Sie gerade gelesen haben? Zwei der führenden Deepfake-Experten der Schweiz erklären, warum es immer einfacher wird, das menschliche Auge zu täuschen und mit gefälschten Videos Desinformationen zu verbreiten:
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