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Warum Peter Gloor dem WWW-Erfinder einen Korb gab

Porträt von Peter Moor
Peter Gloor arbeitet nicht nur am Massachusetts Institute of Technology bei Boston, sondern lehrt auch in Köln, Santiago de Chile und im chinesischen Changchun. zvg

Peter Gloor ist ein bemerkenswerter Wissenschaftler, der sich mit kreativen und kollaborativen Netzwerken befasst. Sein Werk ist eng mit der Entwicklung des Webs verknüpft. Der Aargauer arbeitete mit dem WWW-Erfinder Tim Berners-Lee im gleichen Team.

Aarau ist seine Heimatstadt. Seine berufliche Heimat ist seit 30 Jahren das MIT, das Massachusetts Institute of Technology bei Boston, die renommierteste Technologie-Universität der Welt. Peter GloorExterner Link ist wie viele erfolgreiche Wissenschaftler ein Weltbürger und unterrichtet rund um den Globus. Das MIT-Campus liegt am Charles River in Cambridge bei Boston.

Peter Gloor ist der zweite Schweizer Digitalpionier, den swissinfo.ch in der monatlichen Serie «Swiss Digital Pioneers» porträtiert. 

Dort treffe ich Peter Gloor vor sechs Jahren zum ersten Mal. Zunächst bin ich dankbar, dass ich sein Büro im architektonischen Dschungel des MIT-Campus endlich gefunden habe. Für einen vielbeschäftigten Forscher, Dozenten und Unternehmer nimmt er meine Verspätung erstaunlich gelassen. Dank seinem verschmitzten Lächeln wirkt der 58-Jährige etwas spitzbübisch und jünger als er ist. Sogleich sind wir in eine Diskussion verwickelt über Technologie und Gesellschaft, aber auch darüber, dass Schweizerinnen und Schweizer oft auf hohem Niveau klagen.

Als unsere Diskussion in kritische Aspekte rund um Technologie abdriftet, kommt seine optimistische Ader zur Geltung. Wir sprechen über den Harvard-Professor Steven PinkerExterner Link , der aufgezeigt hat, dass es der Weltbevölkerung heute insgesamt so gut geht wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Nach wenigen Minuten scheint mir klar: Gloor ist ein innovativer Schnelldenker. Und Technologie sieht er als positives Werkzeug, um die Welt zu vernetzen, und damit zu verbessern. 

Er erklärt mir, was es mit seiner heutigen Leidenschaft der «COINs» auf sich hat: Collaboration Innovation Networks. COINs sind digital vernetzte soziale Netzwerke mit einer gemeinsamen Vision, die intrinsisch motiviert zusammenarbeiten und Ideen und Informationen teilen. Beispiele dafür sind das Web, Linux und Wikipedia, aber auch COINs zur Bekämpfung von Kindersterblichkeit und chronisch Kranken.

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Bits über Kabel verteilen

Nun treffen wir uns an einem Frühlingstag in einem Café in Aarau. Gloor ist auf Stippvisite in der Schweiz. Wegen seiner inzwischen erwachsenen Kinder ist er oft in Aarau, auch wenn er einen Grossteil seiner Zeit am MIT arbeitet und nebenbei in Köln, Santiago de Chile und im chinesischen Changchun lehrt. Der historische Kern seiner Geburtsstadt Aarau wirkt wie ein maximaler Kontrast zum atmosphärisch unterkühlten MIT Campus. Ich möchte genauer wissen, wie er als Sohn dieses beschaulichen Städtchens zu einem Digitalpionier wurde.

«Meine Karriere ist das Internet. Also eigentlich das Web. Was ja nicht dasselbe ist, aber viele wissen das nicht.» Nach seinem Mathematikstudium an der Universität Zürich, machte Peter Gloor ein Praktikum bei IBM und doktorierte in Informatik. Das Internet existierte zwar seit Ende der 1960er-Jahre, das World Wide Web aber gab es noch nicht. 

Gloor war einer der ersten in der Schweiz, die Datenpakete über Hardware verschickten. Er erzählt: «Wir schrieben damals Programme, um Daten über ein Modem auf einen anderen Computer zu übertragen. Das war die Vorstufe von Netzwerken. Da waren ein altes Telefon und ein riesiger Computer-Kasten mit Chipkarten drin. Diese mussten wir teilweise noch selbst löten, danach ging dies über die Telefonleitung.»

Der WWW-Erfinder wollte ihn mehrmals rekrutieren

1989 schrieb er ein Buch zu HypertextExterner Link  und Hypermedia. Hypertext ist ein altes Konzept interner Text-Verweise, erhielt aber mit dem Personal Computer eine neue Dimension. Gloor wurde Gründungspräsident der Swiss Association for Hypertext und erlangte mit seinen Arbeiten internationale Beachtung in der Informatik-Community. Weil er herausgefunden hatte, dass das MIT quasi die Wiege des Internets war, wollte er dahin. Dank seiner Spezialexpertise im Bereich von Netzwerken bekam er 1990 am MIT Lab of Computer Science eine Post-Doc-Stelle. Er traf dort auf den deutsch-amerikanischen Joseph Weizenbaum, einen der Väter der Künstlichen Intelligenz.

1991 gelang ihm aus heutiger Sicht ein Coup: An der bekannten Fachkonferenz ACM Hypertext wurde Gloors Paper über CybermapExterner Link angenommen, eine Art Vorläufer eines Webbrowser. Für die gleiche Konferenz hatte der heute weltberühmte Tim Berners-LeeExterner Link sein WWW-PaperExterner Link eingereicht, das aber abgelehnt worden war. «An der Konferenz kam dann Tim Berners-Lee, der damals am CERN in Genf arbeitete, an meinen Tisch und sagte, ich sei doch auch aus der Schweiz. Weil Tim mein Paper gelesen hatte, verstand er, dass wir uns mit ähnlichen Problemen befassten.»

Peter Gloor auf der Bühne
Gloor sieht neue Technologien als positives Werkzeug, um die Welt zu vernetzen. zvg

Berners-Lee habe Kopien seines Papers an die Konferenz gebracht und damit hausiert. Gloor erzählt weiter: «Tim wollte mich rekrutieren, um mit ihm das Web weiterzuentwickeln. Aber ich gab ihm einen Korb. Ich wollte meine eigenen Sachen machen.» Tim Berners-Lee wechselte vom CERN ans MIT in dieselbe Fachgruppe wie Gloor am Lab of Computer Science. 

Damals gründete Berners-Lee das World Wide Web Consortium W3C und gewann die Grossbank UBS als eine der ersten Sponsoren. «Tim wollte mich als Executive Director für sein W3C anstellen, aber ich habe abgesagt. Ich fand es nicht so spannend, einen Betrieb aufzubauen. Ich mache lieber Basis-Grundlagenforschung, daher befasse ich mich heute mit Künstlicher Intelligenz.»

Seine wahre Heimat: das MIT

Ursprünglich hätte er in den USA eine akademische Karriere machen wollen. Aus familiären Gründen kam er nach einigen Jahren am MIT zurück in die Schweiz. Er wurde UBS-Sektionsleiter in der Software-Entwicklung. «Ich habe in der Bank das Internet eingeführt. Wir hatten mit dem Bank Wide Web eine Art Intranet, und waren vermutlich die erste europäische Bank, die das hatte.» Danach wurde Gloor Partner bei PWC und später bei Deloitte Head of E-Business. «Dort hatte ich einen super Lohn, aber ich hatte nie Ferien.» Als die Welt der Unternehmensberatung zu viel Freiheit forderte, kehrte er 2002 zurück in den Schoss des MIT.

Wäre Google ein Arbeitgeber für ihn? «Nein, das würde von der Persönlichkeit nicht passen», sagt er. Er sei viel lieber am MIT. «Dort ist bekannt, dass der Lohn nicht grossartig ist, aber man kann nebenbei viele andere Dinge tun.» Neben seinen Lehraufträgen an internationalen Universitäten, betreibt Gloor eine Software-Firma mit einigen Angestellten. Das MIT schätzt es, Mitarbeitende zu haben, die auch anderswo gefragt sind.

Netzwerke sind seine Leidenschaft geblieben

Heute befasst er sich immer noch mit Netzwerken, aber nicht mehr mit Hardware-Netzwerken und Datenpaketen. Vielmehr interessiert ihn, wie Technologie soziale Innovationsnetzwerke unterstützen kann: global, innerhalb von Organisationen oder von Mensch zu Mensch. Er interessiert sich für Innovationsnetzwerke, kollektive Intelligenz und Psychologie.

Mit dem HappimeterExterner Link hat er eine Art Smartwatch entwickelt, die den Zufriedenheitszustand eines Menschen – oder idealerweise einer ganzen Community – misst. Die App sammelt Daten wie GPS-Location, Herzfrequenz, Bewegung oder Wetter.

Peter Gloor war hautnah an der Erfindung des WWW dabei und war global einer der ersten Netzwerk-Technologen. zvg

Persönlichkeitscharakteristiken werden zur Auswertung hinzugezogen und User müssen, um die Algorithmen zu trainieren, vier Mal am Tag angeben, wie sie sich gerade fühlen. Aus diesen Daten errechnet Gloor den Happy-Index. Wie verschiedene digitale Produkte der Gegenwart verspricht auch das Happimeter, dass die Technologie besser über uns Bescheid wisse als wir selbst. Sein Ziel ist es, datengestützt die Zufriedenheit innerhalb von Communities und Teams zu verbessern.

Im Datenschutz-sensiblen Europa und nach Skandalen wie Cambridge Analytica dürfte es schwieriger sein, Menschen zu überzeugen, sich digital emotional vermessen zu lassen. Tatsächlich gelingt es Gloor aber, den Happimeter unter die Leute zu mischen: in Köln, in Basel, in Indien, in Spanien. «Doch die Experimentierfreudigsten sind schon in den USA», sagt er lächelnd.

E-Voting mit Blockchain

Er besitzt die Green Card, nimmt aber immer noch regelmässig in der Schweiz an Wahlen teil. Er sagt, es würde sein Leben viel einfacher machen, digital zu wählen. «Das wäre jetzt wirklich mal eine sinnvolle Anwendung von Blockchain.»

Peter Gloor war hautnah an der Erfindung des WWW dabei und war global einer der ersten Netzwerk-Technologen. Am MIT hat er seine ideale Wirkungsstätte gefunden: Er kann dort seine Visionen als innovativer Forscher und Unternehmer umsetzen. Dank seinen Netzwerken ist es gelungen, global chronisch Kranke zu vernetzen und sogar Kindersterblichkeit zu reduzierenExterner Link. Während viele in der fortschreitenden Digitalisierung vor allem Schattenseiten sehen, hat Gloor mit seinem Technik-Optimismus die Potenziale im Blick.

In der Serie SWISS DIGITAL PIONEERS porträtiert swissinfo.ch interessante Schweizer Persönlichkeiten im Ausland oder mit internationaler Ausstrahlung, die früh das Potenzial des Internets erkannt haben und es für ihre Tätigkeiten erfolgreich genutzt haben.

Die Autorin Dr. Sarah Genner ist Medienwissenschaftlerin und Digitalexpertin. 2017 erschien ihr Buch ON | OFF.

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