Aufbruch in das Ewige Eis
Drei Monate lang wird die von der Schweiz initiierte Antarktis-Expedition ACE ab Dezember den Südpol umrunden. Kurz bevor das Forschungsschiff "Akademik Treshnikov" von der deutschen Nordsee aus zu seiner Reise ins Eis aufbricht, herrscht an Bord hektische Betriebsamkeit.
Der 130 Meter lange mächtige Eisbrecher lässt sich am Kai von Bremerhaven bereits aus der Ferne gut ausmachen. Erstmals seit Tagen bricht die Sonne durch den verhangenen Nordseehimmel und bringt das orange-rot gestrichene Schiff zum Leuchten. Sein Heimathafen ist St. Petersburg, an Bord weht eine russische Fahne.
Vor der Akademik Treshnikov liegt eine lange Fahrt: Am 19. November wird sich das Schiff zunächst nach Kapstadt aufmachen. Dort in Südafrika beginnt am 20. Dezember offiziell die Forschungsreise durch die Antarktis. Es ist die erste grosse Expedition unter Leitung des Swiss Polar InstituteExterner Link. Der Zeitpunkt ist gut gewählt: Im äussersten Süden der Erde sind die Tage dann so lang wie im nordischen Sommer.
22 Forscherteams mit 55 Wissenschaftlern aus 30 Ländern wollen drei Monate lang mit zahlreichen Experimenten den noch ungelösten Geheimnissen der entlegensten Region der Welt auf den Grund gehen. An Bord sind auch vier Schweizer Projekte mit insgesamt zehn Wissenschaftlern. Die in der Antarktis gewonnenen Erkenntnisse können unter anderem wichtig für das Verständnis des Klimawandels und dessen Auswirkungen sein. Die Schweiz spürt die Erderwärmung besonders bei ihren schmelzenden Gletschern. Auch deshalb haben eidgenössische Forscher ein grosses Interesse an den Vorgängen im Ewigen Eis.
Minutiöse Vorbereitung
Fast 100 Tage auf hoher See bedürfen einer minutiösen Planung. Ein halbes Jahr lang haben die Beteiligten ihre Projekte koordiniert, Ausrüstungslisten erstellt, Material vorbereitet und Kisten gepackt. In drei Tagen soll es nun endlich losgehen. «Es gibt noch einiges zu tun», sagt Samuel Jaccard. Der Professor für marine Biogeochemie an der Universität Bern steht am Kai und beobachtet, wie die Akademik Treshnikov beladen wird.
ACE
Die Antarctic Circumnavigation Expedition (ACE) ist das erste Projekt des im April 2016 gegründeten Swiss Polar Institute (SPI).
Dem interdisziplinären Zentrum sind renommierte Schweizer Forschungseinrichtungen angeschlossen: die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL), die ETH Zürich, die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und die Universität Bern sowie der Verlag Edition Paulsen.
Der Unternehmer, Polarforscher und Abenteurer Frederik Paulsen initiierte die Gründung des SPI und stellt auch den grössten Teil der Finanzierung der Expedition bereit. Eine Expertenkommission wählte aus 100 Bewerbungen 22 Projekte aus.
Das SPI soll auch die Position der Schweiz in internationalen Abkommen über die Zukunft der Polarregionen stärken. Sie unterzeichnete bereits 1990 den Antarktisvertrag, der festlegt, dass die unbewohnte Antarktis nur zu friedlichen Zwecken genutzt werden darf, namentlich zur wissenschaftlichen Forschung und zum Tourismus. Die Nutzung der natürlichen Ressourcen ist dort – anders als in der Arktis – untersagt.
Gerade heben gigantische, an Bord fest installierte Kräne Paletten mit Lebensmitteln und Ausrüstung auf das Schiff. Cornflakes, Küchenöl, Eistee, Reis – gegessen wird, was die russische Crew kocht. Auch eine ansehnliche Ladung Champagner ist dabei. Einige der Korken werden sicher über Weihnachten und zum Jahreswechsel auf hoher See knallen. Der schwedische Unternehmer Frederik Paulsen, der den Grossteil der Expeditionskosten trägt, ist mit privaten Gästen an Bord.
An Land wartet neben Jaccard seine Genfer Kollegin Christel Hassler, Professorin für marine und limnische Biogeochemie darauf, dass drei Container mit der Ausrüstung der Schweizer auf Deck gehievt werden. Der erste enthält ein Reinlabor, der zweite ist mit Ausrüstungsgegenständen beladen, im dritten haben die Schweizer unter anderem ein Kühllabor untergebracht, in dem sie Experimente unter der konstanten Temperatur von vier Grad durchführen können.
Noch ist der Kran mit anderer Ladung beschäftigt, also nutzen die beiden Forscher die Gelegenheit, um sich unter Deck die Kabinen anzuschauen. Sie sind geräumig und zweckmässig, am Boden Linoleum, rechts und links an den Wänden je zwei übereinander liegende Kojen. Vorhänge bieten etwas Privatsphäre. In der Mitte stehen ein kleines Sofa, ein Tisch und ein Stuhl, der sich bei Seegang am Boden befestigen lässt.
Forscher müssen seefest sein
«Ich schlafe auf jeden Fall unten», sagt Hassler. Während der letzten Expedition wurde sie bei hohem Seegang beim Klettern in die obere Koje auf den Boden geschleudert und verletzte sich die Schulter. Überhaupt, die Wellen: Wer mit Reisekrankheit kämpft, wird es keinen Monat auf hoher See aushalten. Denn schwere Seekrankheit verschwindet mit den Tagen nicht – und für wissenschaftliche Experimente sind eine ruhige Hand und die Arbeit mit dem Computer gefragt.
Derweil sieht es im Oberdeck so aus, als würden mehrere Wohngemeinschaften gleichzeitig einziehen. In einem Raum schliesst ein kanadischer Kollege Computer an, nebenan stapeln sich Gerätschaften und Kisten. In den Gängen liegen Kabel, stehen Tonnen und Kanister mit Chemikalien. Jeder an Bord gebrachte Gegenstand wird auf Listen vermerkt, die der Forschungskoordinator David Whalton oben in seiner Kommandozentrale zusammenführt und mit dem Kapitän abstimmt. Bei ihm laufen die Fäden der 22 Teams zusammen.
Unterwegs arbeiten die Wissenschaftler in verschiedenen Schichten. Nicht nur, weil sie selbstredend Pausen und Schlaf brauchen. Sie teilen sich mit anderen Teams auch einige Gerätschaften und müssen sich entsprechend abwechseln. «Der Alltag wird durch unsere Arbeit gesteuert», sagt Jaccard. Proben nehmen, wann immer möglich; darum herum ranken sich Schlafen, Essen und Freizeit.
1500 Meter tief ins Meer hinab
Für ihn ist es die dritte Expedition, aber die erste, die ihn ins Eis führt. Christel Hassler fährt bereits zum fünften Mal in die Antarktis. «Dass wir so viele Teams an Bord sind, ist schon ungewöhnlich», sagt sie. In der Regel sei ein Schiff auf ein oder zwei Forschungsprojekte fokussiert. 22 Projekte zu koordinieren, das werde herausfordernd, vermutet sie. Zwar gibt es einen abgestimmten Plan, welche Gruppe wann auf welche Infrastruktur Zugriff hat. Doch schon zwei Tage auf stürmischer See, in denen die Forscher nicht arbeiten können, könnten diesen Plan leicht durcheinander bringen.
Wenn alles wie geplant läuft und das Wetter mitspielt, wollen die Schweizer an zwölf festgelegten Orten Wasserproben in unterschiedlichen Tiefen nehmen: Dazu lassen sie an einer Winde eine Art Rosette mit zehn Wasserbehältern bis zu 1500 Meter hinab ins Meer. Die Proben müssen absolut rein sein, damit sie auf ihre Nanobestandteile untersucht werden können. Jaccards Team der Universität Bern möchte herausfinden, wie der Eisenstoffwechsel von Mikroorganismen funktioniert und wieviel Kohlenstoff von der Luft in das Ozeaninnere transportiert wird.
«Wir untersuchen den Chromgehalt des Planktons, den wir aus dem Meer entnehmen», erklärt der Berner. Sein Ziel ist zu verstehen, wie effizient das Phytoplankton Kohlendioxid (CO2) im Ozean speichern kann. Daraus lassen sich wichtige Rückfolgerungen für die CO2 Konzentration in der Atmosphäre schliessen.
Dabei geht es um so winzige Mengen Chrom, dass ein Stahlseil, an dem die Proben normalerweise aus dem Wasser gezogen werden, das Ergebnis bereits verfälschen könnte. Aus diesem Grund wickelt ein Arbeiter an Land bereits seit Stunden eine Winde mit einem mehrere Kilometer langen Draht ab und ersetzt diesen anschliessend durch ein Kunststoffseil. So soll eine Kontaminierung der Proben verhindert werden.
Forscher des Schweizer Paul Scherrer Instituts wollen wiederum auf der Expedition in der sauberen Luft der Antarktis die Wechselwirkung kleiner Partikel auf die Atmosphäre untersuchen. Ein Projekt der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) konzentriert sich auf den Einfluss des antarktischen Wetters auf abgelegene Inseln. Die ETH Lausanne untersucht den vom Klimawandel verursachten abnehmenden Salzgehalt in der Antarktis. Hasslers Projekt nimmt die Rolle von Bakterien und Viren im Wasser ins Visier.
Wenn das Schiff in Bremerhaven vollständig beladen ist, werden sie und Samuel Jaccard erst einmal zurück in die Schweiz fahren. Die beiden stossen erst im Januar zum zweiten Drittel der Reise ab dem australischen Hobart zu der Crew und lösen andere Schweizer Kollegen ab. Jaccard freut sich bereits auf seinen Einsatz, der auch ein Abenteuer ist: «Durch so eine Landschaft fährt man ja nicht alle Tage.»
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