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Schweizer Krebsforschung entwickelt «Booster» für Immuntherapie

Im Zellproduktionslabor für die Immuntherapie
Aufgrund des komplexen und langwierigen Zulassungsverfahrens in der Schweiz erwägen Forscher:innen, Versuche in China durchzuführen. Keystone / Laurent Gillieron

Die Immuntherapie gilt als Hoffnungsträgerin der Krebsbehandlung. Während Schweizer Forscher:innen nach Wegen suchen, um deren Wirksamkeit zu erhöhen, vergeht viel Zeit, bis die Patient:innen von ihren Entdeckungen profitieren.

Es gibt sie noch, die medizinischen Wunder: Bei vielen Krebspatient:innen im Endstadium, die sich in den letzten zehn Jahren einer experimentellen Immuntherapie unterzogen haben, sind die Tumore verschwunden oder wachsen nicht weiter.

Die Immuntherapie bietet, kurz gesagt, eine Art «Hilfe zur Selbsthilfe». Statt die Krebszellen direkt anzugreifen, wie es bei der Chemotherapie oder Bestrahlung der Fall ist, soll bei der Immuntherapie das Immunsystem so stimuliert und gestärkt werden, dass es die Krebszellen erkennt, sie zerstört oder zumindest in ihrem Wachstum hemmt.

Verschiedene Experimente und klinische StudienExterner Link haben gezeigt, dass die Krebsimmuntherapie das Leben der Patient:innen verlängern kann. Ihr Immunsystem lernt, die Krebszellen zu erkennen und anzugreifen, wenn sie wieder auftauchen.

Dieses «immunologische Gedächtnis» hilft ihnen, länger krebsfrei zu bleiben. Ausserdem verursacht die Therapie weniger Nebenwirkungen. Denn sie zielt nicht auf sämtliche Zellen im Körper ab, sondern nur auf das Immunsystem.

Bei etwa zwei Drittel der Krebspatient:innenExterner Link versagen Immuntherapien jedoch weiterhin. Nur bei bestimmten Tumorarten zeigen sie eine Wirkung. Viele Patient:innen sprechen überhaupt nicht auf eine Immuntherapie an. Und wenn doch, zeigt sich nur eine vorübergehende Wirkung.

Die Forschenden suchen bisher vergeblich nach den Gründen dafür. Eine Gruppe von Forscher:innen in der Schweiz könnte allerdings einen Anhaltspunkt gefunden haben.

Krebskiller im Dauerlauf

Eine mögliche Erklärung ist, dass die T-Zellen – eine Unterart der weissen Blutkörperchen, die eine Schlüsselrolle bei der Erkennung und Bekämpfung von Krebszellen spielen – zu müde werden.

Während sie in den Tumor eindringen und die Krebszellen bekämpfen, verlieren sie ihre Fähigkeit, das Fortschreiten des Tumors aufzuhalten. Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft als «T-Zell-Erschöpfung» bekannt und stellt eines der grössten Hindernisse für die Krebsimmuntherapie dar.

Das Problem der Stoffwechselstörung bedeutet, dass die T-Zellen viel schneller erschöpft sind, als sie sich regenerieren können. Deshalb können sie nicht wieder in wirksame Krebsbekämpfer verwandelt werden, sagt Tang Li, ausserordentlicher Professor für Immuno-Engineering an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL).

Um erschöpfte T-Zellen wiederzubeleben, haben Forschende von Leman Biotech, einem Spinoff der EPFL, ein Booster-Protein entwickelt, das Immuntherapie-Medikamenten beigemischt werden kann. Li, Mitbegründer von Leman Biotech, beschreibt den Mechanismus humorvoll als «metabolische Fitness für T-Zellen».

Derzeit stimulieren Immuntherapien die T-Zellen durch verschiedene Strategien und beschleunigen ihren Stoffwechsel, um Krebszellen anzugreifen. «Das ist so, als würde man einer Person ständig Red Bull und Koffein anbieten, damit sie beim 100-Meter-Sprint schneller läuft, was sie sehr schnell erschöpft», sagt Li.

Im Gegensatz dazu erforscht sein Team, wie man T-Zellen kühl halten und ihren Stoffwechsel im Gleichgeweicht halten kann, so als würden sie ständig einen Marathon laufen. Dabei hilft ein Protein, das sein Team entwickelt hat.

Präklinische Versuche an MäusenExterner Link zeigten eine Heilungsrate von fast 90 Prozent, wenn das neu entwickelte Protein in Kombination mit den am weitesten verbreiteten Formen der Krebsimmuntherapie eingesetzt wurde, dem so genannten adoptiven T-Zell-Transfer und Immun-Checkpoint-Inhibitoren (siehe Infobox).

Die adoptive T-Zell-Transfer-Therapie – auch bekannt als CAR-T-Zellen – stärkt die natürliche Fähigkeit der T-Zellen, Krebs zu bekämpfen: Immunzellen werden aus dem Tumor entnommen.

Die Zellen, die am aktivsten gegen den Krebs vorgehen, werden ausgewählt, in grossen Mengen gezüchtet und in den Körper der Betroffenen zurückgebracht.

Immun-Checkpoint-Inhibitoren sind Medikamente, die es den Immunzellen ermöglichen, stärker auf Krebs zu reagieren, indem sie die Immun-Checkpoints – einen normalen Teil des Immunsystems – blockieren.

Das vom EPFL-Spinoff entwickelte künstliche Protein ist das Äquivalent zu einem Booster, der die therapeutische Wirksamkeit erhöht.

Vom Labor in die Klinik

Das Immuntherapie-verstärkende Protein ist nur einer der jüngsten Fortschritte bei der Neuausrichtung des Immunsystems gegen Krebs. Laut einem kürzlich in der Fachzeitschrift Nature CancerExterner Link veröffentlichten Leitartikel gibt es bereits Dutzende zugelassener Immuntherapien, und es werden weltweit Tausende von klinischen Studien an Menschen durchgeführt. Die meisten dieser Studien konzentrieren sich auf solide Tumore.

Die Immunonkologie hat sich zu einem 30-Milliarden-Dollar-MarktExterner Link entwickelt und wächst weiter. Aber nur ein Bruchteil der Patientinnen und Patienten (zwischen 15 und 30% bei den meisten soliden Tumoren und 45-60% bei MelanomenExterner Link) spricht auf Immuncheckpoint-Inhibitoren (ICI) an, so dass viele nicht davon profitieren können.

Auf Clinicaltrials.govExterner Link, einer Website, die Informationen über abgeschlossene, laufende und geplante klinische Studien aus der ganzen Welt zusammenfasst, sind über 800 Studien zur CAR-T-Zelltherapie registriertExterner Link, von denen sich viele auf solide Tumore konzentrieren.

Allerdings wurden bisher nur fünf CAR-T-Zell-Therapien von der US-Arzneimittelbehörde für bestimmte Blutkrebsarten zugelassen, darunter Leukämie. 90% der behandelten Patient:innen erleiden einen Rückfall. Für solide Tumore ist bisher keine CAR-T-Zell-Therapie zugelassen worden.

Laut Pierre-Yves Dietrich, Leiter der Onkologie am Universitätsspital Genf, verläuft die Entwicklung der Krebsimmuntherapie in der Schweiz ähnlich wie in den USA. Er weist darauf hin, dass auch die Schweizer Forscher:innen CAR-T-Zellen und andere Immunzelltypen als die vielversprechendsten therapeutischen Strategien gegen Krebs betrachten.

Bisher hat die nationale Zulassungsbehörde Swissmedic sechs CAR-T-Zell-Behandlungen zugelassen. Swissmedic-Sprecher Alex Josty zeigt sich jedoch zurückhaltend, wenn es um Konzept und Wirksamkeit der Immuntherapie geht.

Er weist darauf hin, dass die zugelassenen CAR-T-Zell-Behandlungen «auf eine Steigerung der Immunität abzielen, was aber nicht wirklich der gängigen Definition der onkologischen Immuntherapie entspricht».

Laut Dietrich steckt die Immuntherapie noch in den Kinderschuhen. Er erinnert daran, dass die ersten Chemotherapeutika, die in den 1950er-Jahren entwickelt wurden, weitaus weniger wirksam waren als die heutigen Medikamente.

Dietrich geht davon aus, dass die Entwicklung der Krebsimmuntherapie einen ähnlichen, langsamen Verlauf nehmen wird, bleibt aber optimistisch. «Wir dürfen uns in den nächsten Jahren grosse Hoffnungen auf neue Wirkstoffe und neue Strategien machen», sagt er.

Vorsichtiges, aber langsames Zulassungsverfahren

Swissmedic verzeichnet eine deutliche Zunahme der eingereichten klinischen Versuche für verschiedene Immuntherapien, besonders für Studien mit tumorinfiltrierenden Lymphozyten (TILs).

Im Vergleich zu den USA oder Japan, die Mechanismen zur Beschleunigung des Prüfungs- und Zulassungsverfahrens für CAR-T-Zell-Therapien eingeführt haben, scheint Swissmedic vorsichtiger vorzugehen, wenn es darum geht, solche Therapien klinisch zu prüfen.

«Krebsimmuntherapeutika sind sehr komplexe und risikoreiche Produkte», sagt Josty. Während des Zulassungsverfahrens prüfe Swissmedic die Daten aus den präklinischen Tests sehr sorgfältig und umfassend, um den Nutzen und das Risiko für Patient:innen zu ermitteln, die an einer Grunderkrankung leiden und möglicherweise bereits andere Behandlungen erhalten haben.

In der Zwischenzeit konnte Leman Biotech genügend Mittel für den Start der klinischen Studien aufbringen und hat zudem internationale Patente für die neu entwickelte Therapie angemeldet. «Wir haben bereits fünf Jahre lang präklinische Studien an Mäusen durchgeführt, um die Machbarkeit nachzuweisen», sagt Li.

Aufgrund des komplexen und langwierigen Zulassungsverfahrens wird es aber wahrscheinlich noch mehrere Jahre dauern, bis das von ihnen entwickelte Booster-Protein in die klinische Phase am Menschen eintritt. Deshalb erwägen Li und seine Kolleg:innen sogar, die Versuche in China durchzuführen.

Dietrich räumt ein, dass die Zulassungsverfahren für Krebsimmuntherapien in der Schweiz zwar komplex, aber überschaubar seien. «Wir konnten noch nie so viele Fortschritte in so kurzer Zeit verzeichnen. Und das wird auch im nächsten Jahrzehnt so bleiben. Das Gleichgewicht zwischen Patient:innenschutz und schnellem Zugang zu neuen Behandlungen ist heikel.»

Editiert von Sabrina Weiss und Veronica DeVore, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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