Schweizer Startup will die Atomenergie neu erfinden
Eine vor 30 Jahren am CERN in Genf entwickelte Idee verfolgt das Ziel einer sichereren und saubereren Kernenergie. Ein Schweizer Unternehmen arbeitet nun an der Umsetzung.
Die im Raum Genf angesiedelte Firma TransmutexExterner Link entwickelt einen neuen Typ von Kernreaktor. Dieser basiert auf der Verwendung von Thorium statt Uran. Das Kraftwerk kann Strom mit einer höheren Sicherheit erzeugen als bestehende Kernkraftwerke und zudem hochradioaktive Abfälle vermeiden. Könnte diese Innovation den Übergang zu einer emissionsfreien Gesellschaft begünstigen?
Wie ist Transmutex entstanden? «Wenn dich ein Nobelpreisträger anruft und bittet, mit ihm zusammenzuarbeiten, kann man schwerlich nein sagen», sagt Federico CarminatiExterner Link gegenüber swissinfo.ch. Der Kernphysiker und wissenschaftliche Direktor von Transmutex erinnert sich noch gut an den Anruf von Carlo Rubbia, dem einstigen Direktor der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf und Physik-Nobelpreisträger 1984. «Das war im Jahr 1990 und ich war ein junger Mitarbeiter am CERN. Rubbia bat mich, an der Entwicklung eines neuen Kernreaktortyps mitzuwirken», erzählt Carminati.
Die Euphorie für das Projekt war gross, aber die Idee eines Thoriumreaktors in Kombination mit einem Teilchenbeschleuniger landete gleichwohl in der Schublade. Die Atomindustrie zeigte wenig Interesse an einer Neuentwicklung; aus ihrer Sicht war auch das Problem der radioaktiven Abfälle und deren Lagerung nicht so dringend.
Seither sind rund 30 Jahre vergangen. Und die Zeiten haben sich geändert. Für Carminati ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, das Projekt von damals zu reaktivieren. Im Jahr 2019 gründete er zusammen mit dem französischen Unternehmer Franklin Servan-Schreiber das Startup Transmutex. Die beiden verfolgen ein ehrgeiziges Ziel: die Kernenergie von Grund auf «neu zu erfinden».
Thorium statt Uran
Atomkraftwerke erzeugen Strom, indem die durch Kernspaltung freigesetzte Wärme genutzt wird. In einem klassischen Reaktor wird das Brennmaterial – in der Regel Uran oder Plutonium – mit einem Neutronenstrahl beschossen. Die Atome spalten sich, wobei Energie entsteht und weitere Neutronen freigesetzt werden, was zu einer Kettenreaktion führt. Die durch die Spaltung erzeugte Wärme wird zuerst zur Erzeugung von Dampf und schliesslich zur Produktion von Strom genutzt.
>> Die folgende Videoanimation veranschaulicht, was bei der Kernspaltung passiert:
Ein Kernkraftwerk produziert kontinuierlich und in grossen Mengen Elektrizität, ohne Treibhausgase auszustossen. Doch beim Kernspaltungsprozess entstehen radioaktive Abfälle. Fast alle Länder, darunter auch die Schweiz, wissen immer noch nicht, wo sie diese radioaktiven Abfälle sicher endlagern können – und das für Jahrhunderte.
Bei Transmutex soll der Brennstoff Thorium anstelle von Uran verwenden werden, kombiniert mit einem Teilchenbeschleuniger. Thorium ist ein schwach radioaktives Metall, das in den Gesteinen fast der gesamten Erdkruste reichlich vorhanden ist. «Es ist daher viel ‹demokratischer› als Uran», sagt Carminati. Denn das meiste Uran, das als Kernbrennstoff verwendet wird, stammt aus Bergwerken in Kasachstan, Australien und Kanada.
Thorium wird in einem Reaktor in einem unterkritischen Zustand gespalten und mit Neutronen aus einem Teilchenbeschleuniger gespeist. Dies bedeutet, dass die Anlage im Gegensatz zu konventionellen Atomkraftanlagen nicht in der Lage ist, eine Kettenreaktion aufrechtzuerhalten: Sobald der Neutronenfluss unterbrochen wird, schaltet sich der Reaktor sofort ab. Dieser Mechanismus hätte den nuklearen Unfall von Tschernobyl im Jahr 1986 verhindern können.
Weniger radioaktive Abfälle
Laut Carminati weist ein Thoriumreaktor mit Teilchenbeschleuniger viele Vorteile auf. Die radioaktiven Halbwertszeiten der Thorium-Nebenprodukte sind etwa viel kürzer als diejenigen einer Urananlage – 300 Jahre statt 300‘000 Jahre. Auch die Menge an gefährlichem radioaktivem Abfall würde erheblich reduziert. «Wir sprechen hier von einigen Kilogramm statt von Tonnen», sagt Kernphysiker Carminati.
Der Thoriumkreislauf hätte auch den Vorteil, dass er eine allfällige Verbreitung von Atomwaffen verhindert. Die Nebenprodukte der Thoriumspaltung können gemäss Carminati nicht für den Bau von Atombomben verwendet werden.
Aber das ist noch nicht alles. Ein Thoriumreaktor könnte auch mit radioaktiven Abfällen aus bestehenden Kernkraftwerken betrieben werden. Ein Teil der kurzlebigen radioaktiven Abfälle liesse sich durch den Teilchenbeschleuniger in stabilere Elemente umwandeln, was im Fachjargon als «Transmutation» bezeichnet wird (daher der Name des Startup-Unternehmens Transmutex).
Anders gesagt: Langlebige Radionuklide – wie etwa Plutonium – verwandeln sich unter einem Neutronenbeschuss in viel weniger lang strahlende Elemente. «Dies könnte das Problem der Anhäufung und Lagerung hochradioaktiver Abfälle lösen», sagt Carminati.
Zusammenarbeit mit Russland und den USA
Transmutex will in der Schweiz und im Ausland entwickelte Technologien nutzen. Zusammen mit dem Paul Scherrer InstitutExterner Link, dem führenden Schweizer Forschungszentrum für Natur- und Ingenieurwissenschaften, soll ein Teilchenbeschleuniger gebaut werden, der leistungsfähiger ist als solche, die zurzeit für die Behandlung von Krebs eingesetzt werden.
Das Startup-Unternehmen aus der Schweiz ist auch Kooperationen mit internationalen Partnern eingegangen. Russlands Kernenergie-Gesellschaft RosatomExterner Link prüft die Möglichkeit der Reaktorentwicklung, während das Argonne National LaboratoryExterner Link, eines der wichtigsten Kernforschungslabors in den USA, am Thorium-Brennstoff arbeitet.
«Wir haben alle wesentlichen Elemente für den Bau eines neuen Reaktortyps: Jetzt müssen wir diese Teile nur noch zusammensetzen», sagt Carminati. Ziel von Transmutex ist es, bis Anfang der 2030er-Jahre einen Prototyp-Reaktor zu erstellen.
Nuklearenergie vor Renaissance?
Die Zeiten scheinen reif für eine neue Generation von Kernkraftwerken. Die Notwendigkeit, die CO2-Emissionen zu reduzieren, und die Angst vor längeren Stromausfällen lassen eine Option wieder aufleben, die mit dem Reaktorunfall von 2011 im japanischen Fukushima begraben schien.
In einer Reihe von Ländern wird daran gearbeitet, kompaktere, einfachere, sicherere und billigere Kernreaktoren zu bauen. US-Präsident Joe Biden hat 2,5 Milliarden Dollar für die Erforschung und industrielle Umsetzung fortschrittlicher Reaktoren bereitgestellt, während das von Bill Gates gegründete Unternehmen TerraPowerExterner Link bereit ist, das erste von Hunderten von Miniatur-Flüssigsalzreaktoren zu bauen.
In ChinaExterner Link wird demnächst der erste Thorium-Kernreaktor in Betrieb gehen, allerdings mit einer anderen Technologie als von Transmutex vorgesehen.
Eine «Renaissance der Kernenergie» ist auch in Europa festzustellen. Die Europäische Kommission rechnet Atomstrom, genauso wie Erdgas, jetzt zu den «grünen Energiequellen», um die Energiewende zu schaffen. Dieser Ansatz wird von Frankreich unterstützt, aber von Deutschland abgelehnt, das nach dem nuklearen Unfall von Fukushima beschlossen hatte, aus der Kernkraft auszusteigen.
Auch die Schweiz hat sich für einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie entschieden. Die Vertreter:innen der bürgerlichen Parteien fordern jedoch, die Nutzung von Atomkraft im Rahmen der langfristigen Energiestrategie zu überdenken, um Versorgungsengpässe zu vermeiden.
Der Energie Club SchweizExterner Link, eine Vereinigung von Atomkraftbefürwortern, schliesst die Lancierung einer Volksinitiative mit dem Titel «Stoppt den Blackout» nicht aus. Ziel der Initiative wäre es, das 2017 vom Schweizer Volk beschlossene Verbot für den Bau neuer Kernkraftwerke aufzuheben.
Mehr sauberer Strom in der Zukunft
«Es wäre grossartig, wenn wir in etwa 10 Jahren eine flexible, modulare Technologie von kleinen Dimensionen hätten, um saubere und sichere Energie zu produzieren», sagt Christian Schaffner, Direktor des Energy Science CenterExterner Link der ETH Zürich, gegenüber swissinfo.ch. Und fügt an: «Wir müssen Mobilität und Heizung elektrifizieren. Wir brauchen daher mehr Strom und der Strom muss sauber sein.»
Allerdings, so Schaffner, wird es vielleicht noch 20 Jahre dauern, bis ein neues Kraftwerk ans Netz geht. «Ich glaube nicht, dass wir angesichts des Klimanotstands so viel Zeit haben», gibt er zu bedenken. Zudem müsse man die Kosten und die Rentabilität einer solchen Anlage auch hinterfragen.
«Kann diese Energie billiger sein als die Solarenergie, die derzeit günstiger ist als die herkömmliche Kernenergie?», fragt Schaffner. Nach Ansicht des ETH-Experten wäre es sinnvoller, die bestehenden Kraftwerke so lange wie möglich weiter zu nutzen.
Einige ehemalige Leiter von Kernenergieregulierungs- und Sicherheitsbehörden in den USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland äussern sich kritischer. Sie argumentieren, dass die Kernenergie nicht als Lösung für die Klimakrise angesehen werden sollte. «Kernenergie – einschliesslich der Kernenergie der nächsten Generation – ist weder sauberer, noch sicherer und auch nicht intelligenter, sondern eine sehr komplexe Technologie mit dem Potenzial, erhebliche Schäden verursachen zu können», heisst es in einer gemeinsamen ErklärungExterner Link.
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Federico Carminati von Transmutex ist dennoch optimistisch: «Manche sagen, unser Projekt sei ehrgeizig und komplex. Aber niemand hat uns gesagt, warum es nicht funktionieren sollte.» Bislang hat die Firma Transmutex acht Millionen Franken an finanzieller Unterstützung erhalten, davon fünf von privaten US-Investoren. Das Startup schätzt die Kosten für den Prototypen auf rund 1,5 Milliarden Franken.
«Es ist ein wichtiges Projekt und wenn wir Erfolg haben, werden wir ein Vermögen verdienen», scherzt Carminati. «Wenn es nicht klappt, habe ich wenigstens versucht, etwas zu tun, auf das ich stolz sein kann.»
Dieser Artikel wurde am 16. Februar aktualisiert, um den Prozess der Kernspaltung mit verschiedenen Brennstofftypen zu verdeutlichen. Ein Hinweis auf das Eigentum von Rosatom wurde hinzugefügt.
Gerhard Lob
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