Schweizer stellen sich Gletscherschwund nur zögerlich
Die Schweizer Alpengemeinden sind sich der Wichtigkeit ihrer Gletscher für Tourismus, Wasser und Energie bewusst. Auf eine Zukunft ohne Gletscher sind sie laut einer Studie aber schlecht vorbereitet.
90% der Gemeinden in der Nähe von Gletschern profitieren von diesen dank Tourismus, Schmelzwasser zur Energiegewinnung und Trinkwasser. Dies zeigt eine Studie der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz.
Doch nur 13% von 131 der befragten Gemeinden in der Schweiz haben Zukunftspläne entwickelt, wie mit dem Rückgang ihrer Gletscher umgegangen werden könnte.
Die Studie wurde kürzlich in Crans Montana im Kanton Wallis an einer zweitägigen Konferenz zu den Auswirkungen des Gletscherschwunds auf Schweizer Bergregionen präsentiert.
«Die Schweizer Gletscher mit einer Fläche von über Tausend Quadratkilometern haben einen enormen Einfluss auf Umwelt, Standort und lokale Bevölkerung», sagte Christine Neff, Autorin der Studie.
«Es ist schwer, sich vorzustellen, dass sie eines Tages verschwinden könnten. Aber die Gemeinden gehen das Problem zu locker an und warten einfach, was passiert.»
Laut Neff sollten sie sich zusammensetzen und die besten Methoden im Umgang mit schmelzenden Gletschern austauschen. Auch sollten Einwohnerinnen und Einwohner, Touristen, lokale Behörden und Schulen besser über die Auswirkungen informiert werden.
Vor 70 Teilnehmenden erörterte Neff neue Initiativen wie etwa die «Jungfrau Klima CO2-Operation» mit ihrem iPhone-Klimaguide, der zusammen mit Klimaexperten von der Universität Bern erarbeitet wurde.
Bruno Abegg, Professor für Geografie an der Universität Zürich, witzelte an der Veranstaltung, die Menschen in den Bergdörfern könnten immer noch beten, dass sich die Gletscher nicht weiter zurückziehen würden – wie kürzlich in der Walliser Gemeinde Fiesch geschehen, die den Papst um Hilfe gebeten hatte.
«Doch schliesslich müssen sie andere Lösungen ins Auge fassen und vielleicht Energiespar-Pioniere oder sogar energieneutral werden», betonte er.
Alpen-Konvention
Die Gletscher schmelzen unaufhaltsam, und die Menschen fühlten sich machtlos, ergänzte Stefan Kunz, Präsident des Schweizer Ablegers der Internationalen Alpenschutzkommission (Cipra).
«Ich bin aber überzeugt, dass wir etwas tun werden, das lokal verankert ist und die lokale Wirtschaft stärken wird – und der Fokus wird dabei mehr auf Qualitätstourismus gelegt werden statt auf Quantität.»
Auf politischer Ebene sei wichtig, dass die Schweiz eine kohärentere Alpenpolitik entwickle, betonte Kunz. «Die Schweiz wird 2011 bis 2012 die Alpen-Konvention präsidieren; sie sollte dies nutzen, um etwas zu bewegen und ausstehende Protokolle endlich zu ratifizieren», ergänzte er.
Beängstigende Zahlen
Die Schweizer Gletscher ziehen sich laut Glaziologen immer rascher zurück, und die meisten könnte noch in diesem Jahrhundert ganz verschwinden.
Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) haben herausgefunden, dass von 1999 bis 2008 rund 10 Kubikkilometer Eis von 1500 Gletschern verloren ging. Das entspricht 13% der Gesamtmasse aller Schweizer Gletscher.
Eine andere Studie der ETH-Wissenschafter zeigte zwischen 1900 und 2007 bei 30 untersuchten Gletschern unterschiedlicher Grösse, Art und Standorte einen zunehmenden Gletscherschwund.
Seit dem Jahr 2000 hat sich der Rückgang, der in den vorhergehenden zwei Dekaden gemessen wurde, verdoppelt, und der 1998 aufgestellte negative Rekord wurde bereits dreimal geschlagen.
«Das sind sehr beeindruckende, beängstigende Zahlen», sagte Wilfried Haeberli von der Universität Zürich. «Für die Zukunft heisst das, wenn sich die Menschheit vernünftig verhält, werden drei Viertel der Gletscher in diesem Jahrhundert verschwinden. Das Beste, was wir erreichen können, ist, das halbe Fassungsvermögen der Gletscher zu bewahren.»
Gefahren
Haeberli unterstrich die Gefahren für Einwohnerinnen und Einwohner der Bergdörfer im Schatten der sich auflösenden Gletscher. Dazu gehören Felsstürze, Eisschlag und neue, unkontrolliert wachsende Gletscherseen.
«Wo und wann werden sich die Seen bilden? Welche gefährlichen Situationen können eintreten? Wem gehören die neuen Seen und welche Konflikte schüren sie?», fragte er das Publikum.
Charly Wuilloud, Chef der Sektion Naturgefahren im Kanton Wallis, erklärte, dass von den 51 potenziell gefährlichen Gletschern im Kanton 29 in den nächsten 10 bis 20 Jahren zur Gefahr werden könnten.
Doch nicht die Gletscher selber sind seine grösste Sorge, sondern Lawinen, Felsstürze und Überflutungen, erklärte er. Derzeit seien Gletscher nur für 2% der Risiken verantwortlich.
Er versuchte dabei auch zu beruhigen, indem er den unlängst beim Feegletscher Saas Fee beobachteten Abbruch von 200’000 Kubikmetern Eis als «nicht bedrohend» beschrieb.
Simon Bradley, Crans Montana, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
Laut dem in der Schweiz angesiedelten Welt-Gletscher-Beobachtungsdienst bilden sich die Gletscher weltweit seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück.
In den 1940er-Jahren verzeichnete der Dienst einen starken Rückgang, in den 1970ern stabile oder wachsende und seit den 1980ern schmelzende Gletscher.
Unter den gegenwärtigen Klimaprognosen des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) ist der weitweite Trend ein rasches, wenn nicht zunehmendes Schmelzen der Gletscher, das viele Bergregionen bis Ende des 21. Jahrhunderts gletscherlos machen könnte.
In der Schweiz, die als das Wasserschloss Europas gilt, spielen Gletscher eine wichtige Rolle als Speicher für Wasserkraftwerke (50% der Elektrizitäts-Produktion).
Sie sind auch eine wichtige Attraktion für Touristen.
Die Schweizer Gletscher haben zwischen 1985 und 2000 rund 18% ihrer Fläche verloren, in den Alpen betrug der Verlust 22%.
Kleinere Gletscher sind laut einer Studie der Universität Zürich stärker vom Gletscherschwund betroffen: Sie machen nur 18% der Gletscherfläche, aber 50% aller verlorenen Masse aus.
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