Licht an – Licht aus
Wie sieht die Sterbehilfe der Zukunft aus? Unsere neue Science-Fiction-Story handelt von "NecrosIA", einem Unternehmen, das den perfekten Tod organisiert. Doch für eine Kundin wird der freiwillige Übergang schwieriger als gedacht.
«Die letzten Momente auf der Erde sind kostbar. Verschwenden Sie keine Zeit damit, Ihr Ableben zu organisieren. Wir kümmern uns um alles.
‹NecrosIA›, der führende Robotik-Anbieter für Sterbehilfe.»
Utopie oder Dystopie? Realität oder Fiktion? Die gegenwärtigen technologischen Fortschritte konfrontieren uns mit grundlegenden Fragen über die Zukunft der Menschheit: Werden die Hightech-Quantensprünge unsere Verbündeten oder unsere Feinde sein? Wie werden sie unsere Gesellschaft verändern? Sind wir dazu bestimmt, zu Cyborgs und «Übermenschen» zu werden?
«Tomorrow’s Utopias and Dystopias» ist eine Reihe von Kurzgeschichten, die von swissinfo.ch in Zusammenarbeit mit Autorinnen und Autoren sowie Schweizer Forschenden entwickelt wurden, um solche Fragen auf innovative und visionäre Weise zu beantworten. Jede Kurzgeschichte wird von einem Sachartikel begleitet, der Einblicke in die neuesten Forschungsergebnisse zu den jeweiligen Themen gibt.
Ich werfe die Visitenkarte achtlos auf den kleinen Tisch im Hotelzimmer, in dem ich kurz davor mein Gepäck abgestellt habe. Auf der Rückseite der Karte stehen drei Worte, die so schwer wiegen wie das Erbe, das mir die Verfasserin hinterlassen will: «Ruf mich zurück.»
Ich habe die blecherne Stimme seit Monaten nicht mehr gehört. Das letzte Mal, als ich fluchtartig aus ihrem Büro stürmte und die Tür hinter mir zuknallen liess. An den Klang ihrer wahren Stimme kann ich mich kaum mehr erinnern, ausser dass sie mich oft beim Einschlafen begleitet und mir Trost gespendet hatte.
Der Sprachcomputer, den sie seit Jahren benützt, wird der grossen Frau, die sie einst war, nicht gerecht. Ich weiss noch, wie viele meiner Freunde Witze über sie rissen und sie mit «Stephen Hawking» verglichen – die Beziehungen dauerten in der Regel nicht lange.
Ich ziehe Wanderschuhe, Windjacke und Hose aus, bevor ich mich aufs Bett lege, um mein Programm für den nächsten Tag zu planen. Eine Gruppe von Hundertjährigen will das Matterhorn besteigen und anschliessend mit Wingsuits ins Tal zurückfliegen.
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Die Maschine und die Moral
Es ist eine Geburtstagsfeier und bereits die dritte Veranstaltung dieser Art, die ich in diesem Jahr betreue. Es wirkt fast so, als würden die älteren Semester stets meine Visitenkarte untereinander weiterreichen.
Ich gehe meine Checkliste durch, schaue mir Wetterdaten bezüglich Windstärke sowie die Profile von allen Teilnehmenden an. Plötzlich entfährt mir ein bitteres Lachen. Hundertjährige im Wingsuit?
Wir können fliegen und uns erneuern lassen, um ewig zu leben, aber es gibt kein Mittel, um die Charcot-Krankheit zu heilen, die Dich an den Rollstuhl fesselt? In was für eine Welt hast Du mich bloss geboren, Mutter?
Bald schimmert die Morgendämmerung blassorange durchs Fenster. Ich schiebe den Anruf bei «NecrosIA» noch auf. Meine Mutter ist bestimmt beschäftigt. Sie versteht nicht, wie man lieber in Hotels als zu Hause schlafen kann. Oder warum ich die Leitung ihres ach-so-tollen Unternehmens nicht übernehmen will.
Ich versinke in einen traumlosen Schlaf. Stunden später schrecke ich hoch. Fast mechanisch berühre ich mit dem Finger die Stelle hinter meinem rechten Ohrläppchen. Die Haut dort ist glatt und unberührt. Ich atme erleichtert aus und stelle mich dem Unausweichlichen.
– Hallo, Mama?
– Ich habe auf Deinen Anruf gewartet. Und, wirst Du dabei sein?
– Ja, aber Du weisst, dass ich Deine Entscheidung nicht gutheisse.
– Welche Entscheidung? Die, dass ich heute Nacht sterben werde oder die, dass ich Dir die Firma vermache?
– BEIDE!
Ich bin zu aufgebracht, um ruhig zu bleiben. Der Kommunikator reagiert auf meinen wütenden Ausruf und fragt, ob ich auf Videoübertragung umschalten möchte; ich stimme seufzend zu. Meine Mutter erscheint in ihrem Rollstuhl, gekrümmt wie nie zuvor. Hinter ihrem Ohr erkenne ich das Implantat, auf dem drei Lichter in grellem Grün leuchten. Ein Zeichen dafür, dass der an der Basis ihres Gehirns sitzende Nanoroboter zur festgelegten Zeit seine tödliche Arbeit verrichten kann.
«Schau mich an, Lydia», befiehlt ihre künstliche Stimme. «Siehst du nicht, dass ich mit meiner Entscheidung, dem Ganzen ein Ende zu setzen, im Reinen bin? Ich hinterlasse einen erfolgreichen multinationalen Konzern. Unsere Transhumanismus-Abteilung ist dank Ethernity selbsttragend. Wenn unsere Kundschaft anfängt, verrückt zu spielen, weil sie nicht auf natürliche Weise sterben können, kaufen sie sich einen unserer Euthanasie-Roboter. Für den Fall der Fälle. Das ist eine grosse Erleichterung für sie, weisst Du. Es ist die Garantie dafür, dass sie gehen können, bevor sie komplett den Verstand verlieren.»
– Mama, das ändert nichts für mich. Ich weiss das alles und möchte trotzdem nicht in Deine Fussstapfen treten.
– Lydia, ich will nur Dich als Nachfolge. «NecrosIA» hat bei den Tausenden an Fällen nur einen einzigen Fehlentscheid getroffen – Einen! Das Programm muss nur mit ein paar Tests weiter perfektioniert werden.
– Ach, Mama, hör bitte auf. Ich habe keine Lust, mit Dir zu streiten, schon gar nicht heute. Du kannst mich dazu zwingen, Deinem Abgang beizuwohnen, aber nicht dazu, Deine Funktion als Geschäftsführerin zu übernehmen. All das Geld, die Verantwortung, der Druck der Medien –
– Allesamt weniger riskant als Deine Tätigkeit als Bergführerin. Du setzt Dein Leben jeden Tag erneut aufs Spiel.
Ihre Stimme verzerrt sich, das Bild verschwimmt, plötzliche Übelkeit befällt mich, ich versinke in Dunkelheit. Als ich die Augen öffne, sehe ich sie wieder, diesmal klar und deutlich, in ihrem Chefsessel sitzen, umgeben vom Ausschuss, der die Betriebsgenehmigung erneuert.
Mutters monotone Stimme passt nicht zum Entzücken, das sich auf ihrem Gesicht widerspiegelt: «Liebes Gremium, wie Sie sehen, wollte meine Tochter nach einem verhängnisvollen Kletterunfall nicht mehr leben und aktivierte deshalb den Euthanasieprozess. Ein Nanobot dockte an ihren Hypothalamus an und führte eine Reihe von Tests durch. Im Dämmerzustand enthüllt die Testperson einen Teil ihrer tiefsten Sehnsüchte, Erinnerungen und Überzeugungen. Szenarien wie die, die Sie gerade beobachtet haben, füttern unsere globale Datenbank und verfeinern die Kriterien für die Tötungsgenehmigung. Die Tatsache, dass sie meine eigene fiktive Entscheidung zur Sterbehilfe nicht akzeptiert hat, löst eine Vielzahl von neuen Kontrollmechanismen aus. Insgesamt führt unser zentrales Rechenzentrum, das mit jedem Nanobot kommuniziert, mehrere Milliarden solcher Tests durch. Bei der kleinsten Unsicherheit behalten wir die Person am Leben.»
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Der Betriebsausschuss, darunter Robotiker, Ethiker, Ärzte und Psychologen, nickt zustimmend. Sie scheinen das triumphierende Leuchten in den Augen der Konzernchefin nicht zu bemerken. Nun schaut meine Mutter zu mir und betrachtet meinen kaputten Körper, der keine schneebedeckten Gipfel mehr erklimmen wird, und mein Implantat, dessen letztes Lämpchen sich hartnäckig weigert, grün zu werden.
Mit einem kräftigen Augenzwinkern befiehlt die Direktorin meiner automatischen Trage, mich in mein Krankenzimmer zurückzufahren. Morgen wird sie mich herausholen und der Presse vorführen.
Fahr zur Hölle, Mutter, Du und «NecrosIA»! Das einzige, was mich am Sterben hindert, ist Deine übermässige Vorsicht.
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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Als Kind wollte Tu Wüst Astronautin oder Kehrichtentsorgerin werden. Nach einer mathematischen Ausbildung und Jobs in der «Green IT» ist Wüst heute in der öffentlichen Verwaltung tätig. Den roten Faden bilden ihr Flair für Zahlen, ihr Interesse für Zukunftstechnologien sowie ihr unerschütterlicher Optimismus.
Wie realistisch ist die Geschichte, die Sie gerade gelesen haben? Eine im 3D-Verfahren gedruckte Kapsel für die Sterbehilfe könnte in der Schweiz bald legal sein. Lesen Sie hierzu unseren Artikel:
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Suizidkapsel hofft in der Schweiz Fuss zu fassen
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(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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