Mit Kunstschnee die Alpengletscher retten
Die Gletscher in den Alpen schmelzen wegen der Klimaerwärmung. Während man in den Bergen auf die Wirkung von Gebeten hofft, versuchen Forschende, der Gletscherschmelze mit technologischen Lösungen entgegenzuhalten.
Anfang Mai 2019, als die Schweiz bis ins Flachland hinunter von einer weissen Schneedecke bedeckt war, blickten viele Menschen ungläubig in den Himmel. Landwirte fürchteten um die Ernte, Autofahrer hatten Angst, mit ihren Sommerreifen zu fahren.
Für den Glaziologen Felix Keller war das Ereignis ein Geschenk des Himmels. Der aussergewöhnlich späte Schneefall habe den alpinen Winter verlängert und die Gletscher zusätzlich vor den Sonnenstrahlen geschützt, sagt er.
Warum Gletscher wichtig sind
Von den Gipfeln der Alpen bis hinunter ins Flachland – die Artikelserie von swissinfo.ch veranschaulicht die Folgen des Abschmelzens von Gletschern in einer bestimmten Höhenlage und stellt die Anpassungs- und Schutzstrategien der Schweiz vor.
3000 – 4500 Meter: alpine Gletscher und die Landschaft
2000 – 3000 Meter: Tourismus und Naturgefahren (Veröffentlichung im September)
1000 – 2000 Meter: Produktion von Wasserkraft (Oktober)
0 – 1000 Meter: Wasserressourcen (November)
Doch trotz des Schneefalls im späten Frühjahr schmelzen die Gletscher mit grosser Geschwindigkeit weiter. Die beiden Hitzewellen, welche die Schweiz zwischen Ende Juni und Ende Juli heimsuchten – mit fast 30 Grad in Zermatt am Fuss des Matterhorns –, verstärkten das Phänomen weiter.
Während den insgesamt 14 Tagen Bruthitze hätten die alpinen Gletscher rund 800 Millionen Tonnen Eis und Schnee verloren, schrieb Matthias Huss, Leiter des Schweizerischen GletschermessnetzesExterner Link (Glamos), auf TwitterExterner Link.
Doch was heisst diese Zahl? Sie entspricht etwa einem Eisklotz, der dreimal so hoch ist wie der Eiffelturm in Paris, dreimal so lang und dreimal so tief. Vergleichbar sei der Schneeverlust ebenfalls mit der Menge an Trinkwasser, welche die Schweizer Bevölkerung (8,5 Millionen Menschen) pro Jahr verbrauche, so Huss.
2100 keine Gletscher mehr?
Die Gletscherschmelze ist kein neues Phänomen: Seit 1850 nahm das Volumen der Alpengletscher um rund 60% ab. Was Beobachter jedoch überrascht, ist die Geschwindigkeit, mit der die «Riesen» der Alpen schrumpfen.
«Mein Eindruck ist, dass die Schmelzgeschwindigkeit der Gletscher in den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen hat», sagt Simon Oberli, ein Naturfotograf, der das Phänomen mit spektakulären Panorama-Fotografien dokumentiertExterner Link.
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Auch Glamos-Chef Huss stellt fest, dass sich die Gletscherschmelze seit 2011 beschleunigt hat. Allein im hydrologischen Jahr 2017-2018 haben die etwa 1500 Schweizer Gletscher rund 2,5% ihres gesamten Volumens verlorenExterner Link.
Wenn es in diesem Tempo weitergeht, wird in den nächsten 30 Jahren die Hälfte der alpinen Gletscher verschwinden, wie eine aktuelle Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und LandschaftExterner Link zeigt.
Und wenn nichts unternommen wird, um die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren, dürften alle Gletscher in der Schweiz und in Europa bis zum Ende des Jahrhunderts fast vollständig wegschmelzen, warnen die Forscher.
Gesichtslose Alpen
In der Schweiz, einem von der globalen Erwärmung besonders betroffenen Land, sind die Folgen des Gletscherschwunds vielfältig. Abhängig von der Höhe über Meer können diese physischer, geographischer oder wirtschaftlicher Natur sein. Am stärksten betroffen sind die Sektoren Tourismus, Wasserkraft, Wasserressourcen und Prävention von Naturgefahren.
Gletscher erzählen Geschichten
Der Gletscherschwund kann auch positive Auswirkungen haben. Archäologische Funde und menschliche Überreste (darunter etwa «Ötzi»), die durch den Rückzug des Eises ans Licht kamen, liefern wertvolle Informationen über die Vergangenheit. Etwa über die Mobilität der Menschen über die Alpen und über Aktivitäten in grossen Höhen.
In den höchstgelegenen Regionen des Landes, zwischen 3000 und 4500 Meter über Meer, verändert die Reduktion der Eismasse zwangsläufig die alpine Landschaft. Zusammen mit den Gletschern verschwindet auch ein Teil der nationalen Identität, die dazu beigetragen hat, die Schweiz in der Welt bekannt zu machen. Laut WWF Schweiz wird das Gesicht der Alpen mit dem Verschwinden der Gletscher «nie wieder das gleiche sein».
Zudem verliert die Schweiz ein wichtiges nationales Erbe: 62% der Schweizer Gletscher sind im Bundesinventar der Landschaften und NaturdenkmälerExterner Link erfasst. Mit dem Rückzug der Gletscher «verblasst ein Teil unserer Geschichte», sagt die grüne Nationalrätin Lisa Mazzone.
Wie kann ein Gletscher gerettet werden?
Das Abschmelzen der Gletscher kann mit verschiedenen Massnahmen verlangsamt werden. So wird etwa im Kanton Wallis seit über zehn Jahren ein Teil des Rhonegletschers mit weissen Planen abgedeckt, die speziell zum Schutz vor Sonnenstrahlen entwickelt wurden. Dies mit dem Ziel, die EisgrotteExterner Link zu schützen, eine der wichtigsten Touristenattraktionen der Alpen.
Diese so genannten Geotextilien seien im kleinen Massstab dort sehr effektiv, wo man aus wirtschaftlichen Gründen das Schmelzen vor Ort reduzieren wolle, betont Huss. «Das reicht aber nicht, den Gletscher als Ganzes zu retten. Die Kosten sind weit höher als der wirtschaftliche Nutzen. Ich frage mich auch, ob die Touristen wirklich Eisblöcke sehen wollen, die in schmutzige Handtücher gehüllt sind.»
Der Schweizer Glaziologe Felix Keller hat eine andere Idee: das Schmelzwasser recyceln, das im Sommer dem Gletscher entspringt. «Wir könnten es in grosser Höhe aufbewahren und im Winter wieder in Eis verwandeln. Oder wir produzieren damit Kunstschnee, was der bestmögliche Schutz für einen Gletscher ist», sagt er gegenüber swissinfo.ch.
Konkret schlägt Keller vor, oberhalb eines Gletschers eine bodenunabhängige und stromlose Beschneiungsanlage zu installieren. Ein von einem Schweizer Unternehmen patentiertes SystemExterner Link sollte in der Lage sein, 30’000 Tonnen Schnee pro Tag zu produzieren.
«Laut meinen Partnern ist das machbar», sagt Keller, der Projektleiter dieses Systems ist. Ein Pilotprojekt im Umfang von 2,5 Mio. Franken wurde Mitte August auf dem Morteratsch-GletscherExterner Link im Kanton Graubünden gestartet. Es ist auf 30 Monate angesetzt.
Mit der Unterstützung der Schweizer Förderagentur für InnovationExterner Link, mehrerer ForschungsinstituteExterner Link und der Industriepartner hofft Keller, potenzielle Interessenten nicht nur in der Schweiz, sondern auch in verschiedenen Regionen Europas, im Himalaya und in Südamerika zu finden.
Die Methode sei interessant, sagt Huss vom Schweizerischen Gletschermessnetz. «Die technologischen Herausforderungen, die Gesamtkosten und die Auswirkungen auf die Umwelt sind jedoch enorm.»
Bringt auch beten etwas?
Andere verlassen sich auf die göttliche Vorsehung. So haben zwei Walliser Gemeinden den Text eines alten Gebets abgeändert, nachdem sie dazu die Genehmigung des Vatikans eingeholt und erhalten haben.
Im Gebet wurde bisher dazu aufgerufen, das Wachstum des Aletschgletschers – des grössten Gletschers Kontinentaleuropas – einzudämmen und das Hochwasserrisiko zu vermeiden. Seit 2011 nun beten sie dafür, dieses Unesco-WeltnaturerbeExterner Link vor der Erderwärmung zu bewahren.
Huss seinerseits setzt auf den Menschen: «Die Gletscher können nur durch globale Anstrengungen zum Klimaschutz gerettet werden.» Wenn die globale Erwärmung auf 2 Grad begrenzt werden könne, bleibe am Ende des Jahrhunderts immerhin noch ein Drittel des heutigen Volumens der Alpengletscher bestehen.
Gletscher-Initiative
2019 startete der Verein Klimaschutz Schweiz die Volksinitiative «Für ein gesundes Klima (Gletscher-Initiative)»Externer Link. Diese fordert, dass die Nettoemissionen in der Schweiz bis 2050 auf null reduziert und die Ziele des Pariser Klimaabkommens in der Bundesverfassung verankert werden. Der Verein konnte bereits fast 100’000 Unterschriften sammeln, womit die Initiative zur Abstimmung kommen wird.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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