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Wissenschaft in der Schweiz: Frauen bringen Wandel voran

Die brillante Forscherin, die nichts von ihrer Genialität weiss

Sonia Seneviratne auf dem Dach der ETH
Sonia Seneviratne, 47, ist Professorin am Institut für Atmosphären- und Klimawissenschaften der ETH Zürich. Christian Schnur/Keystone

Die Schweizer Forscherin Sonia Seneviratne gilt als einflussreichste Klimaexpertin der Welt und hat sich spezialisiert auf extreme Wetterereignisse. Sie weiss, wie man Emissionen verringern kann. Man müsse nur bereit sein, seine Gewohnheiten ein wenig zu ändern, sagt sie.

«Ich war auf dem Weg ins All», sagt Sonia SeneviratneExterner Link. «Ich war fasziniert von den Planeten und dem Universum und wollte Astronomie studieren. Aber dann habe ich mir gesagt, dass es hier auf der Erde etwas Dringenderes gibt.»

So begann die Karriere der Professorin für Umwelt- und Klimawissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Heute ist sie eine der weltweit führenden Expertinnen für die Mechanismen von extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen und Dürren.

Hitzewellen 150 Mal wahrscheinlicher

Ihre wichtigste Erkenntnis – neben der Schlüsselrolle der Vegetation – sei der direkte Zusammenhang zwischen Extremereignissen und den globalen Temperaturen, sagt Seneviratne. Eine Verbindung, welche die Forscherin im Sonderbericht über die Auswirkungen einer globalen Erwärmung um 1,5 °C hervorhob. Dieser war 2018 vom UNO-Klimarat (IPCC) veröffentlicht worden.

Kürzlich war sie an einer Studie über die aussergewöhnliche Hitzewelle beteiligt, die Nordamerika im Juni heimsuchte: Aufgrund des Klimawandels, so stellte sie fest, ist die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse um das 150-Fache gestiegen. Mit anderen Worten: Längere Phasen mit Temperaturen von annähernd 50 Grad Celsius könnten alle fünf bis zehn Jahre auftreten, statt nur einmal in tausend Jahren.

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Anhand von Satellitenmessungen und Feldbeobachtungen fand Seneviratne auch heraus, dass Dürren einen Einfluss auf die CO2-Menge in der Atmosphäre haben. Ein Phänomen, das bisher von Klimamodellen unterschätzt wurde. In Trockenperioden und bei hohen Temperaturen wird die Verdunstungsleistung reduziert und die Pflanzen nehmen weniger Kohlendioxid auf, was zur weiteren Erwärmung der Luft beiträgt, sagt sie.

Dank dieser Arbeit und zahlreicher wissenschaftlicher Artikel wurde Seneviratne von der Nachrichtenagentur Reuters in die Liste der tausend einflussreichsten Klimaspezialistinnen und -spezialisten der WeltExterner Link aufgenommen.

Seneviratne, die an neunter Stelle liegt, ist die einzige Frau unter den Top 30. «Ich war überrascht. Ich habe es zufällig herausgefunden. Ich freue mich natürlich sehr, auch wenn mir die offizielle Anerkennung von Kollegen wichtiger ist», sagt sie.

Reto Knutti von der ETH Zürich und Fortunat Joos von der Universität Bern sind die beiden anderen Schweizer unter den 100 einflussreichsten Expertinnen und auf der Liste.

Im folgenden Video erklärt Sonia Seneviratne, wie wir zur Reduzierung der Emissionen beitragen können:

«Ich wollte das Wörterbuch auswendig lernen»

Schon als Kind ist Seneviratne von der Welt um sie herum fasziniert und liebt es, im Wald spazieren zu gehen und die Bäume zu beobachten. In ihrer Freizeit liest sie ein bis zwei Bücher pro Tag. Sie schreibt auch Kurzgeschichten. «Ich wollte alles lernen, sogar das ganze Wörterbuch – auswendig.»

Anlässlich des Erdgipfels in Rio 1992 sei sie erstmals auf Umweltprobleme und den Klimawandel aufmerksam geworden, sagt die 47-Jährige.

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Sie studiert daraufhin Biologie an der Universität Lausanne und verpasst keine Stunde in ihren Lieblingsfächern Mathematik und Physik. «Aber ich habe schlechte Erinnerungen an die Arbeit im Labor. Ich habe immer etwas kaputtgemacht», erinnert sie sich amüsiert.

Im dritten Studienjahr wechselt sie an die ETH Zürich, die damals als eine der wenigen Hochschulen in Europa einen interdisziplinären Studiengang in Umweltwissenschaften anbot. «Ich habe kein Deutsch gesprochen und drei Monate lang nichts verstanden.»

Im Lauf der Zeit lernt Seneviratne nicht nur die Sprache, sondern erwirbt auch Kenntnisse über die Auswirkungen der Vegetation auf das Klima, die sie während ihres Masterstudiums im tropischen Regenwald des Amazonas und als Postdoc bei der Nasa erworben hat.

Während eines akademischen Austauschs am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge begegnet sie mehreren Frauen, die Professorinnen werden wollten. Das ermutigt sie, eine Karriere im traditionell von Männern dominierten Bereich zu verfolgen.

«Die grösste Schwierigkeit in der Schweiz war der Mangel an weiblichen Vorbildern. Das habe ich ganz anders in den Vereinigten Staaten erlebt. Sie eröffneten mir neue Perspektiven», sagt sie. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz wird sie im Alter von nur 32 Jahren zur Professorin ernannt.

«Eine der besten Forscherinnen der Schweiz»

«Die bescheidene Seneviratne «schafft es immer, die grossen Probleme in unserem Bereich zu erkennen und zu ihrer Lösung beizutragen», sagt Wim Thiery, Klimatologe an der Vrije Universiteit Brussel. Er arbeitete als Postdoc im Labor der Forscherin, wie die Zeitung «Le Temps» berichtet.

In der ebenfalls französischsprachigen Schweizer Zeitung «24 Heures» spricht die Klimatologin der Universität Neuenburg, Martine Rebetez, von «einer der besten Forscherinnen der Schweiz. Als ich sie kennenlernte, sagte ich mir: Wow! Hier ist jemand, die absolut brillant ist und sich dessen überhaupt nicht bewusst ist. Und darüber hinaus ist sie ein liebenswerter Mensch».

Fertig mit fossilen Brennstoffen

«Der Klimawandel ist jetzt», sagt Sonia Seneviratne. Sie kann ihre Frustration über den Mangel an entschlossenen Massnahmen zum Klimaschutz nicht verbergen. «Wir stehen am Anfang eines neuen Klimazustands, aber nicht alle sind sich dessen bewusst.»

Forschende schreiben Berichte, aber «wenn ich mit Politikerinnen und Politikern spreche, habe ich den Eindruck, dass sie diese nicht gelesen haben», sagt sie. Sie ist der Meinung, dass die Schweiz eine spezielle Klima-Taskforce einrichten sollte, wie dies bereits bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie geschehen ist.

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Die Schweiz sei mehr oder weniger vorbereitet. Aber die Menschen seien sich nicht ausreichend bewusst, dass die Auswirkungen anderswo auf der Welt auch hier zu spüren sein werden. «Wir importieren die Hälfte unserer Lebensmittel aus dem Ausland. Was wird in Zukunft passieren, wenn landwirtschaftliche Regionen weltweit gleichzeitig von Dürre betroffen sind und Staaten beispielsweise beschliessen, ihre Exporte auszusetzen, um den heimischen Bedarf zu decken?»

Die Forscherin fordert eine Mobilisierung auf allen Ebenen. Die Lösung ist ihrer Meinung nach sehr einfach: «Wir müssen aufhören, fossile Brennstoffe zu verbrauchen. Es gibt Alternativen, auch wenn viele Menschen Angst vor Veränderungen haben. Wir müssen unseren Lebensstil nicht von Grund auf ändern. Wir können ein ebenso komfortables Leben mit weniger Emissionen führen.»

Überzeugende Expertin vor Gericht

Als Bürgerin versucht Seneviratne, ihre Auswirkungen zu reduzieren, indem sie ihren Fleischkonsum einschränkt, auf ein Auto verzichtet und in Europa lieber mit dem Zug als mit dem Flugzeug reist. Das nächste Mal, wenn sie in ein Flugzeug steige, sei vielleicht, um ihre Familie in Sri Lanka zu besuchen.

Als Forscherin trägt sie den aktuellen Stand der Wissenschaft gerne vor Gericht vor. So auch im Januar im Prozess gegen Klimaaktivistinnen und -aktivisten, die eine Filiale der Grossbank Credit Suisse in Lausanne besetzt hatten.

«Richterinnen und Richter denken längerfristig als die Politik. Ich glaube, dass die Gerichte eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Klimawandel spielen können, wie Urteile in Deutschland und Frankreich zeigen», sagt sie.

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Nach der Verhandlung in Lausanne erklärte der Richter, dass es die «Tiefe und Präzision» von Seneviratnes Aussagen gewesen sei, die das Gericht davon überzeugt habe, die Angeklagten in erster Instanz freizusprechen.

Die Klimaaktivistinnen und -aktivisten wurden später in der Berufung dennoch verurteilt. Das kantonale Gericht erkannte zwar die drohende Klimagefahr an, befand aber, dass eine solche Protestaktion «nicht geeignet ist, die Treibhausgas-Emissionen zu verringern oder einzudämmen».

Gewaltfreie Aktionen des zivilen Ungehorsams seien mehr als gerechtfertigt, argumentiert Sonia Seneviratne in dem folgenden Video:

Schlaflose Nächte beim Verfassen von Berichten

Seneviratne beteiligt sich auch an der Erstellung internationaler Klimaberichte. Für den neuen IPCC-Bewertungsbericht, dessen erster Teil am 9. August 2021 veröffentlicht wurde, koordinierte sie das Kapitel über Extremereignisse. Es handelt sich dabei um eine unbezahlte Tätigkeit, welche die Mutter von zwei Kindern zusätzlich zu ihrer täglichen Arbeit auf sich nimmt und die sie oft abends oder an den Wochenenden macht.

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«Als Forscherin ist es eine interessante Aufgabe, weil ich Hunderte von Studien lesen und verstehen kann, wo die Lücken sind. Vor allem aber mache ich es, weil ich das Gefühl habe, etwas Sinnvolles zur Bewältigung der Klimakrise beizutragen.»

In Anbetracht der vielen schlaflosen Nächte sagt sie zum Schluss mit einem Lächeln: «Ich weiss nicht, ob ich das nächste Mal wieder mitmache.»


Geboren am 5. Juni 1974 in Lausanne, Kanton Waadt. Ihre Mutter ist Klavierlehrerin, ihr Vater, der aus Sri Lanka stammt, arbeitet für den multinationalen Schweizer Konzern Nestlé.

Sie studierte Biologie an der Universität Lausanne und Umweltphysik an der ETH Zürich, wo sie 2002 ihre Doktorarbeit über Dürren und Hitzewellen schrieb.

Dort ist sie seit 2007 Assistenzprofessorin – und seit 2016 ordentliche Professorin – am Institut für Atmosphären- und Klimawissenschaften.

Im Jahr 2018 war sie Mitverfasserin des IPCC-Sonderberichts über die Folgen einer globalen Erwärmung um 1,5 °C.

Sie hat sich auf extreme Wetterereignisse spezialisiert und ist Autorin von mehr als 200 wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Die Mutter von zwei Kindern ist verheiratet und lebt in Zürich.

 (Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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