Sorgen um Forschungsplatz Schweiz
Der erstmalige Abbau von Stellen in der Forschung durch Novartis hat in der Forschungsbranche Kritik ausgelöst. In deren Sog gerät auch Swissmedic. Das Schweizerische Heilmittelinstitut stellt kürzere Bewilligungsverfahren für Studien in Aussicht.
Die Neue Zürcher Zeitung sprach von einem Tabubruch und einem Wendepunkt in der Industriegeschichte: Unter den 1100 Stellen, die der Basler Pharmariese Novartis in der Schweiz in den nächsten fünf Jahren streichen will, sind erstmals auch solche in der Forschung betroffen, nämlich 270.
Blaue Briefe für Forscher, Stellen, die ins Ausland gezügelt werden, in diesem Fall vorwiegend in die USA: Das hat es in der Geschichte der Schweiz als einem der führenden Pharma-Forschungsstandorte bisher nicht gegeben.
Alarm geschlagen haben nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Politik. Die Regierung des Kantons Basel-Stadt verlangte umgehend ein Gespräch mit Novartis-Boss Joe Jimenez. Der Hintergrund: Basel ist mit über 22’500 Beschäftigten der grösste Standort von Life Sciences Europas.
Ein Wegbrechen der Pharmabranche, auch nur in Stücken, brächte Stadt und Region in arge Schieflage, macht doch die Sparte Life Sciences oder Lebenswissenschaften in Basel allein einen Viertel der wirtschaftlichen Wertschöpfung aus.
In Belgien viereinhalb mal kürzer
Ernsthaft besorgt zeigte sich aber auch die Forschung selbst. Organisationen aus der Branche kritisierten insbesondere, das swissmedic und die Ethikkomission die Hürden im Bewilligungsverfahren für klinische Studien in der Schweiz derart hoch ansetzten. Solche Testreihen mit Patienten sind notwendig, bevor swissmedic einem Medikament die Freigabe für den Markt erteilen kann.
Dass die Schweiz in der Disziplin der klinischen Forschung ein Problem hat, zeigt ein Vergleich der European Organisation for Research and Treatment of Cancer in 21 Ländern. In Belgien erhalten Forscher im Schnitt nach 29 Tagen grünes Licht für einen Feldversuch, in Deutschland dauert das Prüfungsverfahren durchschnittlich 53 Tage. Die Schweiz ziert mit 135 Tagen den Schluss. Vor zehn Jahren war sie noch vorne dabei gewesen.
«Langsamkeit ist das Schlimmste für eine innovative Industrie», wurde Beat Thürlimann, Präsident der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Klinische Krebsforschung, in der NZZ am Sonntag zitiert.
Patienten müssen warten
Die Folgen sind zweierlei: Die Schweiz verliert für Unternehmen aus der Pharmabranche zunehmend an Attraktivität, was die Qualität des Forschungsplatzes Schweiz in Frage stellt. Für die Patienten, gerade solche mit Krebs, kann dies bedeuten, dass ihnen der Zugang zu vielversprechenden Medikamenten versperrt bleibt.
Die beanstandete Dauer der aktuellen Verfahren zur Genehmigung klinischer Versuche erklärt Petra Dörr, Direktionsmitglied von Swissmedic, mit den geltenden gesetzlichen Vorgaben. Eine klinische Studie müsse zuerst durch die kantonale Ethikkommission genehmigt werden, danach durch Swissmedic.
Beschleunigung in Sicht
«Das neue Humanforschungsgesetz will dies vereinfachen, indem die erwähnten Bewilligungsverfahren parallel geschaltet werden sollen.» Ein Zeitgewinn, den Swissmedic begrüssen würde, so Petra Dörr gegenüber swissinfo.ch.
Ob die Behörden in Belgien, wo die Bewilligungsverfahren einen knappen Monat dauern, weniger verantwortungsbewusst handelten als diejenigen in der Schweiz, will Dörr nicht beurteilen. «Im Vordergrund steht bei Swissmedic nicht die Schnelligkeit, sondern der Schutz der Patientinnen und Patienten sowie die Validität der Ergebnisse», hält sie fest.
Standort nicht gefährdet
Befürchtungen, dass der Forschungsstandort Schweiz gefährdet ist, teilt sie nicht. «Die Schweiz ist ein guter, attraktiver Standort: Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und qualifiziertes Fachpersonal gehören ebenso dazu wie das regulatorische Umfeld», sagt Petra Dörr. Bezüglich Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Heilmitteln geniesse die Schweiz international einen ausgezeichneten Ruf, «weil sich die Behörden anderer Länder auf unsere Arbeit bei der Zulassung und Marktüberwachung verlassen können», sagt sie.
Auch Thomas Cueni, Generalsekretär des Branchenverbandes Interpharma, will von einem Bröckeln der Bedeutung des Forschungsplatzes Schweiz nichts wissen. Restrukturierungsprogramme wie der jetzt angekündigte Abbau bei Novartis hätten immer wieder ähnliche Befürchtungen ausgelöst. Dennoch habe die Schweiz als Pharmastandort seit 1990 markant an Bedeutung gewonnen, wie Cueni jüngst betonte.
Novartis streicht in den nächsten fünf Jahren 2000 Stellen;1100 in der Schweiz, davon 760 in Basel. 270 betreffen die Forschung. 240 werden am Standort Nyon verschwinden.
Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Im dritten Quartal 2011 nahm der Umsatz um 18% auf 12,8 Mrd. Franken zu, der Reingewinn kletterte um 7% auf rund 2,1 Mrd. Franken.
Am Samstag gingen in Basel, dem Firmensitz des Pharmariesen, rund 1000 Demonstranten auf die Strasse, um ihrem Ärger über den Abbau Luft zu verschaffen.
Auch am Samstag statteten rund 50 Personen Novartis-Verwaltungsratspräsident Daniel Vasella in seiner Villa in Risch im Kanton Zug einen Besuch ab.
Dabei überreichten ihm Mitglieder der Jungsozialisten (Juso) Schweiz einen «Entlassungsbrief».
Vorgeworfen wurden Vasella «Massen-Entlassungen trotz Milliardengewinnen», «Unstatthafte Steueroptimierung» und «Selbstbereicherung».
Unterzeichnet hatten das Schreiben «Herr und Frau Schweizer».
Vasella nahm die Botschaft entgegen und hörte sich die Aktivisten auch kurz an.
Ende 2010 hatte bereits der andere Basler Pharmakonzern, Roche, angekündigt, fast 5000 Stellen zu kürzen, 460 davon in Basel.
Basel ist mit über 22’500 Beschäftigten der grösste Standort von Lebenswissenschaften in Europa.
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