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Coronavirus, Verantwortung und Verletzlichkeit

Stade
"Der Raum, der bisher in der verfügbaren Zeit von Freizeitveranstaltungen eingenommen wurde, die jetzt wegen der Epidemie gestrichen wurden, wird nun von den Emotionen und den daraus resultierenden Meinungsclubs eingenommen", schreibt Bertrand Kiefer. Keystone / Jean-christophe Bott

Die multidimensionale Krise, die durch die aktuelle globale Pandemie hervorgerufen wird, ist ein starker Indikator für die Gegenwart und unsere verletzliche Natur als Lebewesen. Zu diesem Schluss kommt der Schweizer Arzt und Ethiker Bertrand Kiefer in der von ihm geleiteten Revue Médicale Suisse.

Seltsame Angst. Vergänglich, schwer fassbar, den Geist einer offenen Gesellschaft infizierend. Sie kommt aus der Antike und spricht von dem, was kommt. Die alte Welt: die der schrecklichen, launischen Epidemien ohne bekannte Ursache. Und das, was kommen wird: Der Mythos, der das Vertrauen und den Stolz der Moderne begründete, der Glaube an die Allmacht des Menschen über die Natur, bricht zusammen. Oder besser gesagt, die Idee, dass es einen gesicherten, endlosen Schutz gibt, bricht zusammen. Stattdessen stellen wir fest, dass wir unter anderen leben, zerbrechliche, einfache Subjekte der Ökosysteme.

Bertrand Kiefer
Der Schweizer Bertrand Kiefer ist Arzt, Theologe, Ethiker, und Leiter der Revue Médicale Suisse und der Gruppe Medizin und Hygiene. RTS

Unsere Epoche steht unter dem Zauber der Hypertechnologie, eingebettet in die lösungsorientierte Religion, fasziniert vom Virtuellen, umhüllt von dessen Macht, dessen Kontrolle, den Genen, die sich kopieren, dem Bewusstsein, das sich im Labor sozusagen reproduzieren lässt. Und wir sind stolz auf die Medizin, ihrer Fähigkeit zur Vorhersage und ihre Fortschritte an allen Fronten, Molekular-, Computer-, Robotertechnik. Hinter all dem steht der zeitgenössische Ehrgeiz, die Unvorhersehbarkeit des Lebens technologisch zu überwinden.

Wir haben die Macht der Technologie, der Biowissenschaften und der Informatik so sehr gelobt, gefördert und ausgebaut, dass wir gleichzeitig das auslassen oder zumindest minimieren, was in der Natur und der menschlichen Erfahrung unsicher, jenseits unseres Verständnisses, ja sogar unwiderruflich kontingent bleibt. Die Bevölkerung ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Wissenschaft in der Lage ist, sie vor alten, ansteckenden Ängsten zu bewahren. Die Enttäuschung ist immens: ein Virus, und die Welt gerät ins Straucheln, die Wirtschaft geht zugrunde. Ist das ernst gemeint, ist das ein Witz? In den sozialen Netzwerken sagen die Leute, es sei ein Anschlag des CIA oder aber eine grosse Lüge. Und so etwas ist auch nicht ernst gemeint, und doch ist es sehr real.

Die aktuelle Epidemie unterscheidet sich von denen anderer Jahrhunderte darin, dass uns deren Ursachen bekannt sind. Weil die Wissenschaft diese nicht kontrollieren kann, beleuchtet sie diese, seziert sie und setzt sie der Reflexion aus. Aber die Informationen über die Mechanismen, die am Werk sind, und mit hypermodernen Mitteln verbreitet werden, mögen zwar auf wissenschaftlicher Vernunft beruhen, aber ihre Rezeption bleibt in vielerlei Hinsicht so irrational wie eh und je. 

An die Stelle der magischen und religiösen Überzeugungen des Mittelalters treten gefälschte Nachrichten, Phantastereien, die oft gefährlich und fremdenfeindlich sind und die Netzwerke und Köpfe besetzen. Wie in der Vergangenheit spiegeln sie die tiefen Ängste der Menschen angesichts des Unbekannten und des Todes. Der Fortschritt erscheint als dürftig. Der Fatalismus der Vergangenheit scheint noch immer am Werk zu sein. So viele Anstrengungen, um an diesen Punkt zu gelangen, ist man geneigt zu sagen, angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts.

«Alles scheint auf eine Mobilisierung der Affekte hinauszulaufen.»

Alles scheint auf eine Mobilisierung der Affekte hinauszulaufen. Die geringste Nachricht, Prognose, ist unendlich vielen Kommentaren ausgesetzt. Die Meinungen organisieren sich schliesslich zu kollektiven Überzeugungen. Der Raum, der bisher in der verfügbaren Zeit von Freizeitveranstaltungen eingenommen wurde, die jetzt wegen der Epidemie gestrichen wurden, wird nun von den Emotionen und den daraus resultierenden Meinungsclubs eingenommen.

Dabei könnte man eine Debatte darüber führen, was wichtig ist. Wir sollten aufhören, unseren Blick vom gordischen Knoten abzuwenden, dem gleichen Knoten, der unser Schicksal mit der Epidemie und der Umwelt in Verbindung bringt. Mit anderen Worten, wir sollten die vor uns liegenden lebenswichtigen Fragen ernsthaft angehen. Global und rationell handeln, die Zukunft mit den wenigen uns zur Verfügung stehenden Mitteln aufbauen.

Stattdessen sind wir mit den gleichen unglaubwürdigen Wahrheits-Fabrikanten konfrontiert und mit tausend Nachhut-Kämpfen, in die sie uns hineinziehen und einsperren. In den USA sagt das nationale Genie mit dem gelb-orangenen Toupet, dass die WHO falsch liege, dass es [das Genie] die Sterblichkeit des Virus und alle Infektionsfälle in seinem Land kenne.

Gewiss, unsere Zerbrechlichkeit ist jene des Lebendigen, aber noch mehr ist sie jene unserer Zivilisation.

«Vieles von dem, was wir Fortschritt nennen, entsteht durch die globale Vernetzung, sowohl der Informationen als auch der menschlichen und materiellen Güter.»

Das Coronavirus wird nicht «The Big One» sein. Aber das Risiko ist nicht gering, dass wir eines Tages mit einer hochgradig tödlichen Pandemie konfrontiert sein werden. Neu ist, dass wir uns selbst schützen können. Aber das erfordert Offenheit, Wissensaustausch, organisatorische Intelligenz und den Willen, vorausschauend und vorbeugend zu handeln. Es geht also um Kultur, Solidarität, Zivilisation. Das ist sowohl wenig als auch viel, nämlich das lebensnotwendige Minimum und die einzige Überlebensstrategie.

Vieles von dem, was wir Fortschritt nennen, entsteht durch die globale Vernetzung, sowohl der Informationen als auch der menschlichen und materiellen Güter. Diese Vernetzung hat alles verändert – die Wirtschaft, die Ideen, die Mentalitäten und die Projekte. Mit unbestreitbarer Effizienz. Aber dieses System hat zwei perverse Auswirkungen: Es marginalisiert den Menschen, seine Freiheit, seine Fähigkeit, anstatt über das Detail, über das Ganze, das Projekt der Gesellschaft selbst zu denken. Und gleichzeitig – und das ist die zweite schwerwiegende Nebenwirkung – es vernachlässigt das System, mit dem wir viel inniger und lebenswichtiger als durch jedes andere Netzwerk verbunden sind: das Lebendige. Und dessen grosse Störungsprozesse, die Viren oder das Klima.

Unsere Gesellschaft erscheint zudem so fatalistisch wie alte Stämme, welche die Natur verehrten. Den Kriterien der Quantifizierung und der Ströme unterworfen, die wir selbst organisiert haben, sind wir Sklaven der Macht einer Wirtschaft der Leistung und des BIP geworden, und die Autonomie und Relevanz ist uns abhandengekommen. Ohne Fähigkeit, Initiative zu ergreifen, um aus einer scheinbar allgemeinen Verzweiflung herauszukommen. Allerdings scheint nichts so notwendig zu sein, als die Prinzipien tiefgründig zu hinterfragen, welche die Gesellschaft organisieren.

«Was vor uns liegt, absolut sicher und immens wichtig, sind klimatische und ökologische Umwälzungen.»

Derzeit verändert sich die Welt wegen der Epidemie sehr schnell. Es ist nicht sicher, dass sie Rückschritte macht. Ganze Bevölkerungsgruppen in Quarantäne, andere, die sich im Beruf oder im Alltag in einer Situation grosser Verunsicherung befinden, machen eine kriegsähnliche Erfahrung. Wahrscheinlich werden sie nicht zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren, als ob nichts geschehen wäre. Diese Veränderung, diese Art der Bekehrung der Köpfe, sie ist zu erhoffen. Hoffnung auf eine soziale und anthropologische Mutation. Denn der epidemische «Big One» ist auch eine Form des Mythos. Was vor uns liegt, absolut sicher und immens wichtig, sind klimatische und ökologische Umwälzungen. In diesem Bereich ist die Gewissheit über die Folgen und unsere Zerbrechlichkeit weitaus grösser.

Die Gesellschaft müsste verändert werden, aber wir sind gelähmt. Warum dieser Determinismus aus einem anderen Zeitalter, dieses verbogene Rückgrat angesichts dessen, was unser Überleben bedroht? Die Wissenschaft, die in der Tat die Dimensionen eines Mythos angenommen hat, ist trotzdem viel mehr als das, nämlich ein hervorragendes Instrument im Dienst der Freiheit. Und auch Demokratien sind antifatalistische, gesellschaftliche Organisationen, die geduldig Systeme aufgebaut haben, um den Weg in die Zukunft zu lenken und ständig anzupassen. Es wird immer deutlicher, dass all dies gescheitert ist. Was für ein Leben wollen wir führen? Mit welchen menschlichen Dimensionen, welchen Risiken, welcher Offenheit?

Es geht nicht um die Überwindung von Unsicherheit. Man muss die Zweifel immer der Wahrheits-Konstruktion vorziehen. Es gibt keine Garantien, der Zukunft die Stirn bieten zu können. Angesichts einer Epidemie gibt es nur Wissen, Überlegungen, zu diskutierende Werte und Entscheidungen. Und, als einziger Kompass, ein unruhiges und nicht-fatalistisches Bewusstsein für unsere gemeinsame Zerbrechlichkeit.

Dieser Text erschien zuerst in der Revue Médicale SuisseExterner Link.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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