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Strengere Regeln gegen «verzerrte» klinische Studien

Pharma-Hersteller helfen oft nach, dass es ein Medikament vom Test bis in den Verkauf schafft. AFP

Die Spirale der Gesundheitskosten dreht sich weiter nach oben, und Zulassungsbehörden, Ärzte und Patienten sind mehr denn je abhängig von der Integrität klinischer Studien, um die Wirksamkeit teurer neuer Therapien abzuschätzen. Doch was, wenn Studienresultate "verzerrt" sind?

Um eine potentielle Grippen-Epidemie bekämpfen zu können, lagern Regierungen und Behörden auf der ganzen Welt das antivirale Medikament Tamiflu des Roche-Konzerns . Und das in Mengen, die Milliarden Dollar wert sind. Doch da sich das Schweizer Pharma-Unternehmen seit Jahren weigerte, detaillierte Daten zu den Studien zu veröffentlichen, wissen selbst die Ärzte nicht, ob der Impfstoff den Ausbruch einer Epidemie verhindern könnte.

Die übliche Taktik der Industrie, unerwünschte Resultate unter den Teppich zu kehren, ist als Publikations-Bias bekannt. Wenn Prüfpersonen die Resultate ihrer klinischen Versuche manipulierten, seien neue Therapien nicht nur riskanter, sondern könnten Patienten unter Umständen gar keinen Nutzen bringen, warnen skeptische Ärzte.

Klinische Forscher könnten Grenzwerte verändern, um leichter erreichbare Ziele zu setzen, oder unklare statistische Methoden verwenden, um positive Effekte zu betonen und Nebenwirkungen herunterzuspielen. Und falls die Resultate einer Studie nicht dem gewünschten Resultat entsprächen, landen Unterlagen wahrscheinlich in einer Schublade des Forschers zur Endlagerung, da niemand negative Resultate mag.

«Ärzte haben einen Horror vor negativen Resultaten, sie veröffentlichen solche nicht», sagt Jean-François Cuttat, Chirurg in Lausanne. Er erklärt, Prüfpersonen würden Daten, die sich nicht mit ihren Erwartungen decken, unter dem Deckel behalten, Resultate justieren und optimieren.

Roche hatte sich jahrelang geweigert, detaillierte Daten zu seinem Grippemittel Tamiflu, das von Gesundheitsbehörden weltweit gelagert wird, öffentlich zu machen. Das Unternehmen argumentierte, Laien würden die Resultate nicht richtig beurteilen können.

Überprüfer der unabhängigen Forschungs-Organisation Cochrane, die erklärt hatten, Roche habe rund 60% der Daten zurückgehalten, erhielten 2009 weitere Daten von Roche, fanden aber auch dann noch Beweise für Bias.

Seit 2013 kann Cochrane alle Studien im Zusammenhang mit Tamiflu überprüfen, doch hat Roche das Material redigiert, um «die Wahrung der Privatsphäre der Patienten zu sichern und kommerzielle Interessen zu schützen».

Heute sagt Roche, das Unternehmen unterstütze Rufe nach mehr Transparenz. So erhalten Forscher auf Anfrage nun Daten zu klinischen Versuchen, die bis 1998 zurückgehen. Und eine unabhängige Beratergruppe analysiert sämtliche Daten, um alle offenen Fragen in Zusammenhang mit dem Grippemittel zu identifizieren.

In Japan hat das Gesundheitsministerium Anfang dieses Jahres Strafanzeige gegen Novartis eingereicht, der Vorwurf lautet auf irreführende Werbung. Das Ministerium erklärte, ein Teil der Forschung an japanischen Universitäten sei manipuliert worden, um die Wirkung des Blutdruckmittels Diovan zu beschönigen. Novartis erklärte, das Unternehmen arbeite mit den Behörden zusammen und habe Korrekturmassnahmen eingeleitet.

Actelion erklärte Anfang 2011, dass die Entwicklung des experimentellen Schlafmittels Almorexant wegen eines nicht genannten möglichen Sicherheitsproblems gestoppt wurde. Im Dezember 2013 berichtete das Magazin Forbes, Actelion habe es während Jahren versäumt, anderen Forschern und Firmen, die ähnliche Medikamente entwickelten, Zugang zu allen Informationen zu geben.

In beidseitigem Interesse 

«Unternehmen haben kein Interesse, Resultate über Misserfolge gewisser Verkaufsschlager zu publizieren», unterstützt Hermann Amstad, Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die Äusserungen Cuttats. «Und medizinische Fachmagazine haben grösseres Interesse, Berichte über Studien mit positiven Resultaten zur Publikation anzunehmen.»

Weltweit sind immer etwa rund 70’000 klinische Studien im Gange, aber nur wenige bringen tatsächlich neue Erkenntnisse hervor, da viele nur Werbezwecken dienen, wie der Onkologe Reto Obrist erklärt. Obrist ist Mitglied im Institutsrat (Aufsichtsgremium) von Swissmedic, der Schweizer Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel.

Heute würden nur etwas mehr als die Hälfte der klinischen Studien veröffentlicht. Dies führe zur Verzerrung von Resultaten und kompliziere die Medikamentenwahl für Ärzte, sagt Obrist. Viele klinische Studien würden nur deshalb nicht veröffentlicht, weil sie der Pharmaindustrie nicht gefielen.

Ein neues Schweizer Gesetz über die Forschung am Menschen, das Anfang Jahr in Kraft trat, zielt darauf ab, einige dieser Missstände zu beheben. Aufgrund des Gesetzes müssen nun sämtliche klinischen Versuche, die in der Schweiz durchgeführt werden, registriert werden, und die beteiligten Forscher müssen zusätzliche ethische Richtlinien sowie faire Geschäftspraktiken einhalten, um Transparenz und Qualität der Forschung sicherzustellen.

Rufschädigung 

«Die generelle Empfehlung ist, dass Unternehmen nur Dinge tun sollten, aus denen keine Probleme entstehen, wenn am nächsten Tag die Medien darüber berichten», erklärt Annette Magnin, die Leiterin der Swiss Clinical Trial Organisation (SCTO), der Kooperationsplattform für patientenorientierte, klinische Forschung in der Schweiz. Fehlverhalten sei nicht nur ethisch verwerflich, so Magnin, sondern auch eine finanzielle Belastung und schädlich für den Ruf eines Unternehmens.

Die Schweizer Pharmaindustrie, die sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet, hat sich in der Vergangenheit gegen Forderungen nach mehr Bekanntmachung und Offenheit gewehrt, vor allem wenn es um die Resultate von Studien geht. Die Industrie setzte stattdessen auf einen selbst auferlegten Verhaltenskodex, der vom Branchenverband ScienceIndustries erstellt worden war.

Doch viele Unternehmen haben in der jüngsten Zeit begonnen, von ihrer bisherigen Praxis abzurücken und sich zu mehr Transparenz zu bekennen.

So veröffentlicht Roche heute nicht nur Zusammenfassungen all seiner klinischen Studien. Forscher können klinische Studienberichte (Clinical Study Reports) bei den Gesundheitsbehörden oder direkt bei Roche anfordern. Und seit Anfang 2014 ermöglicht Roche Forschern (Drittparteien) auch Zugang zu Rohdaten auf Patientenebene.

Was die Effizienz von Tamiflu angeht, wird eine Gruppe unabhängiger Forscher die Daten überprüfen, deren «Robustheit und Integrität» nach Angaben von Roche die «Wirksamkeit und Sicherheit» des Medikaments belegen.

«Wir verstehen und unterstützen die Forderungen nach mehr Transparenz unserer Industrie bei den Daten klinischer Versuche, um den Interessen der Patienten und der Medizin am besten zu dienen», sagte Roche-Pharma-Chef Daniel O’Day 2013. Gleichzeitig sei Roche fest überzeugt, dass Beurteilung und Zulassung von Medikamenten weiterhin Aufgabe der Gesundheitsbehörden bleiben müssten.

Gewisse Arzneimittelhersteller unterstreichen, dass volle Offenlegung der Daten auch Nachteile bringen würde. Man mache sich Sorgen über den Schutz der Patientendaten und des geistigen Eigentums, wenn alle Daten allen zugänglich gemacht werden müssten, erklärt Thomas Cueni von Interpharma, dem Verband der forschenden Schweizer Pharmaindustrie. Für Cueni ist die Selbstregulierung der Branche ausreichend.

«Die Pharmaindustrie betrachtet sich als gut reguliert», sagt Jean-François Cuttat. «Aber es verheisst nichts Gutes, wenn die Behörden Unternehmen einmal mehr dazu verurteilen, Informationen offenzulegen und transparenter zu werden. Es tönt ähnlich wie das, was wir jüngst über die Bankenbranche gehört haben.»

Pharma-Unternehmen in den USA müssen seit September 2013 Zahlungen an Ärzte offenlegen; dies verlangt ein neuer Erlass, der «Physician Payments Sunshine Act». Seither haben Unternehmen Zahlungen an Fachkräfte im Gesundheitsbereich im Wert von mehr als zwei Milliarden Dollar offengelegt.

1997 hatte der US-Kongress ein Gesetz verabschiedet, aufgrund dessen klinische Studien registriert und veröffentlicht werden müssen. Im Jahr 2000 beschlossen die US-Behörden, die Website mit den Daten zu den klinischen Studien clinicaltrials.gov öffentlich zugänglich zu machen.

Ab 2015 sollen Forscher in der Europäischen Union klinische Studien vor deren Beginn registrieren und eine Zusammenfassung innerhalb eines Jahres nach Abschluss veröffentlichen müssen. Das EU-Parlament und der EU-Ministerrat müssen der neuen Gesetzgebung noch zustimmen.

Das neue Schweizer Gesetz über Forschung am Menschen schreibt vor, dass Unternehmen ihre klinischen Studien seit Januar 2014 auf einem Portal des Bundesamts für Gesundheit (BAG) registrieren müssen, über die Veröffentlichung der Resultate macht das Gesetz keine Vorgaben.

Pharma-Unternehmen in der Schweiz werden auch aufgefordert, sich an den Pharma-Kodex des Branchenverbands ScienceIndustries zu halten. Anders als in den USA, wo die Daten zentral zusammenkommen, sollen Medikamentenhersteller in der Schweiz die Informationen zu ihren Interessenskonflikten ab 2016 auf ihren eigenen Websites publizieren. Tun sie es nicht, drohen aber keine Sanktionen, denn diese Offenlegung ist in den Schweizer Erlassen bisher nicht vorgesehen.

Negative Schlagzeilen 

Das ethische Verhalten von Schweizer Firmen ist in den vergangenen Jahren unter Beschuss geraten. Nicht nur sorgte die Finanzbranche wegen Manipulation, Korruption und Geheimhaltung für negative Schlagzeilen, auch die Medikamentenindustrie habe etwas von ihrem Glanz verloren, sagt Obrist.

Globale Firmen könnten es sich heute nicht leisten, diskreditiert zu werden. Deshalb würden sie sich in den Märkten, in den sie aktiv seien, an internationale Verhaltenskodizes und Gesetzgebung halten, sagt Hermann Amstad. Doch alle scheinen für vergangene Sünden büssen zu müssen. Alle führenden Pharmaunternehmen hatten ihren Anteil an negativen Schlagzeilen.

Unternehmen wie Roche im Fall Tamiflu und Novartis mit seinem Blutdruckmedikament Diovan (siehe Kasten) gerieten ins Visier, weil sie ihren klinischen Versuchen einen Dreh gegeben haben und nachteilige Daten nicht oder erst mit Verspätung veröffentlicht haben sollen. Obrist hofft, dass die jüngsten Skandale, welche den Forderungen der Öffentlichkeit nach mehr Transparenz Auftrieb gaben, dazu beitragen werden, längst überfällige Veränderungen voranzutreiben.

«Heute stehen die Pharmaunternehmen auf der Popularitätsskala nur gerade knapp vor den Banken», sagt Obrist. «Es wird lange dauern, ihr angeschlagenes Image aufzupolieren und Vertrauen zurückzugewinnen.»

Wenn es um Offenlegung und Transparenz in der Forschung geht, stehen die USA an der Spitze, Europa hinkt hinterher. In den USA müssen Medikamentenversuche seit 1997 registriert werden, und Pharmaunternehmen müssen ihre Interessenkonflikte offenlegen. Die Schweiz hat nun mit der Registrierung von Versuchen einen Anfang gemacht, und die EU soll im kommenden Jahr folgen.

Für Skeptiker kommt die bestehende und geplante Gesetzgebung in Europa jedoch zu spät und geht nicht weit genug. Organisationen wie «No free lunch» und Unterstützer der Kampagne «AllTrials» fordern volle Transparenz und warnen, wegen «teuren Pseudo-Innovationen» ohne nachgewiesene zusätzliche Nutzen könnten Patienten ihren Ärzten nicht mehr vertrauen.

«Medikamentenhersteller behaupten, die Patienten seien ihre Top-Priorität, aber ihre finanziellen Interessen können nicht ignoriert werden», sagt David Klemperer von «No free lunch» Deutschland. «Um Produkte in einem Markt zu verkaufen, der 2017 rund 1,7 Billionen Dollar wert sein wird, bearbeitet die Industrie Ärzte, Politiker und Medien systematisch, um das Bewusstsein für unerwünschte Daten zu senken und um ihr eigenes Image aufzupolieren.»

Die Zeit wird zeigen, ob die neuen Regelungen Erfolg haben und die Verzerrungen etwas verringert werden können.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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