Ms. Cybersicherheit
Die Wissenschaftlerin Myriam Dunn Cavelty ist global führend im Bereich Cybersecurity Politics. In Zürich, genauer: an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH, hat sie das weltweit grösste Forschungsteam in ihrem Fachgebiet aufgebaut. Dunn Cavelty ist die neunte Schweizer Digitalpionierin, die wir in unserer Serie Swiss Digital Pioneers porträtieren.
Auf einmal sind grosse Teile der Schweiz ohne Strom, die Züge der SBB fahren nicht mehr, am Flughafen Zürich steht alles still und gerüchteweise sind Cyberkriminelle in die Netzwerke unserer Atomkraftwerke und Staudämme eingedrungen. Die Schweiz und halb Europa versinken im Chaos. Mit solchen Schreckensszenarien befasst sich die renommierte Cybersecurity-Expertin Myriam Dunn Cavelty.
Die Gänge im ETH-Gebäude am Haldeneggsteig sind lang und verwinkelt. Sie wirken wenig altehrwürdig und trotz hellgrünem Anstrich fast farblos. Ganz hinten im Corner Office finde ich die bekannte Wissenschaftlerin.
In der Serie SWISS DIGITAL PIONEERS porträtiert SWI swissinfo.ch interessante Schweizer Persönlichkeiten im Ausland oder mit internationaler Ausstrahlung, die früh das Potenzial des Internets erkannt haben und es für ihre Tätigkeiten erfolgreich genutzt haben. Die Autorin Dr. Sarah GennerExterner Link ist Medienwissenschaftlerin und Digitalexpertin. 2017 erschien ihr Buch ON | OFF.
Seit bald 20 Jahren geht sie hier am Center for Security StudiesExterner Link an der ETH ein und aus und ist zu einer prägenden Figur geworden. Sie empfängt mich freundlich und bietet mir unkompliziert einen Kaffee aus der Forschungsküche an.
Am Kaffeeautomaten treffen wir zufällig auf ihren frühen Förderer, Andreas Wenger, Professor für Sicherheitspolitik an der ETH. Unaufgefordert bestätigt Wenger, dass Dunn Cavelty im Bereich Cybersicherheit Pionierarbeit geleistet hat. Noch als Studentin der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Zürich (UZH) schlägt sie Anfang der 2000er-Jahre an der ETH das Thema Cybersicherheit für ihre Masterarbeit vor.
Das Themenfeld existierte damals wissenschaftlich noch nicht. Wenger sagt: «Sie wusste schon damals, was sie wollte und liess sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.» Dank eines Gesuchs schloss die Zürcherin ihr Uni-Studium mit der Abschlussarbeit Information Age ConflictsExterner Link an der ETH am Center for Security Studies ab.
Die ETH und die Cybersicherheit werden ihre berufliche Heimat. Bald wird sie die Schweizer Armee und Bundesbehörden beraten, global an der Schnittstelle von Forschung und Beratung tätig sein und zur internationalen Expertin avancieren. 2019 erklärt sie am World Economic Forum (WEF) in Davos ihr Herzblut-Thema: die Relevanz einer gesellschaftspolitischen Perspektive auf das meist als rein technisch wahrgenommene Thema der Cybersicherheit.
Das Telefon klingelt. Dunn Cavelty entschuldigt sich kurz und hört ihrer Tochter zu. Meinen besorgten Blick beruhigt sie: «Alles bestens, mein Mann kümmert sich um sie.» Die Familie lebt mit zwei Katzen in Zürich-Schwamendingen.
Freier Geist aus Familie von Freischaffenden
Nach der Masterarbeit spürt sie: «Das Thema war noch nicht ausgeschöpft und so hängte ich eine Dissertation an.» Sie befasst sich in Cybersecurity and Threat PoliticsExterner Link eingehend mit der Konstruktion von Bedrohungsszenarien im Cyberbereich. Sie zeigt auf, wie die Wahrnehmung von Gefahren zu sicherheitspolitischen Problemen gemacht werden. Unermüdlich wendet sich die Expertin gegen die Vorstellung, technischen Risiken könne rein technisch begegnet werden.
Dass sie der ETH und dem Thema Cybersicherheit treu bleiben würde, war nicht immer klar. «Routine liegt mir nicht. Ich langweile mich rasch und brauche immer wieder neue Herausforderungen», erzählt Dunn Cavelty. Digitale Themen eigenen sich allerdings optimal für neophile Persönlichkeiten, die sich durch Neugier und eine grosse Offenheit und Affinität gegenüber Neuem auszeichnen.
Dunn Cavelty stammt aus einer Familie von Freischaffenden. Die Mutter ist Malerin und ZeichnerinExterner Link, der Vater trotz Jurastudium Philosoph, die Schwester MusikerinExterner Link, der Mann SchriftstellerExterner Link. Dunn Cavelty ist in der Familie die einzige mit einer Festanstellung. Dass sie neue Themen explorativ und risikofreudig angeht, scheint jedoch mit der freien Denke der Familie verwandt.
Fall Iran hat Augen geöffnet
Gerade als sie nach der Dissertation und langjähriger Beratungstätigkeit zu Sicherheitspolitik an der ETH erwägt, sich beruflich neuen Themen zuzuwenden, richtet Stuxnet 2010 massiven Schaden an. Die Schadsoftware Stuxnet legte grosse Teile des iranischen Atomprogramms lahm und gilt aufgrund seiner Komplexität und des Ziels, Steuerungssysteme von Industrieanlagen zu sabotieren, als bisher einzigartig.
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Die Stunde der Expertin schlägt und Dunn Cavelty kann aus dem Vollen schöpfen. «Stuxnet hat die Debatte über Cybersicherheit stark geprägt und in eine neue Richtung gelenkt.» Lange war beim Thema Cybersicherheit die militärische Komponente im Fokus, erklärt sie. Neben Stuxnet habe auch Snowden den Diskurs verändert.
Plötzlich wurden neben kritischen Infrastrukturen auch die Nachrichtendienste als wichtig wahrgenommen sowie private Akteure im Bereich der Cybersicherheit. «Die Forschungslandschaft veränderte sich, es gab immer mehr interessante Fälle. Auch in der Theoriebildung mussten wir neue Ansätze entwickeln.»
Dunn Caveltys Team wächst. Am ETH-Center for Security Studies trennt sich die Forschung und der Think Tank auf. Ein Teil des Think Tanks arbeitet für das Cyber Defense Project des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS). Sie wird Stellvertreterin für Forschung und Lehre am Center for Security Studies und baut gleichzeitig das weltweit grösste Team im Bereich Cybersecurity Politics auf: fünf Personen in der Forschung, fünf Personen im Think Tank.
Es war während Jahren eine Herausforderung, Personal zu rekrutieren, das über das notwendige Wissen verfügt. Gefragt ist ein Forschungsinteresse an der Schnittstelle von technischem und gesellschaftspolitischem Verständnis.
Als eigenes Fachgebiet etabliert
Aus dem Nischenthema ist inzwischen ein ausgereiftes Fachgebiet geworden. Dunn Caveltys Publikationsliste wächst und wächst. 2014 veröffentlicht sie das Buch Cybersecurity in SwitzerlandExterner Link. Cybersicherheitspolitik findet innerhalb der ETH zunehmend Eingang ins Curriculum verschiedener Studiengänge.
Das Interesse an Dunn Caveltys Themen steigt und die Medienanfragen werden differenzierter und kommen etwas weg von reisserischen Szenarien der Cyberapokalypse und des totalen Cyberkriegs. Frisch ab Presse ist ein Special Issue inklusive einem Überblicksartikel über das Forschungsgebiet Cybersecurity PoliticsExterner Link.
Auch Demokratie als Ziel von Verunsicherung und Chaos
Was treibt sie bis heute an? «Ich habe weiterhin ein grosses Interesse daran, genauer zu erforschen, wie Cyberincidents politisch werden: Ein Vorfall ist nie rein technisch, er ist verknüpft mit Werten und Interpretationsmacht.» Wieder betont sie die Rolle privater Firmen in der «Unsicherheitsökonomie» und die Gefahr von Technologiegläubigkeit. «Gerade weil im Cyberbereich so vieles unsichtbar ist, sind konstruierte Wahrheiten, Gefahrenperzeption und entsprechende Deutungsmacht der Vorfälle zentral.»
Sie schlägt vor, dass der Fokus neben der Technik zwingend auch auf folgende Fragestellungen gelegt werden soll: Wem nützt die Gefährdung? Wie reagieren Organisationen auf Vorfälle? Wer muss wann wie kommunizieren, wenn etwas schiefläuft? Was ist nötig, um zu beweisen, dass technisch nichts passiert ist?
Angesprochen auf technische Probleme der digitalen Demokratie in der Schweiz, beispielsweise E-Voting, macht Dunn Cavelty deutlich: «Es geht beim E-Voting nicht nur um Technologie. Wenn jemand glaubwürdig machen kann, dass Systeme manipulierbar sind, hat die Demokratie ein Problem.»
Cybersicherheit hat auch mit Politik und Gesellschaft zu tun
Cybersecurity-Experten gibt es viele, es sind jedoch in erster Linie Techniker. Konsequent und unaufgeregt hat sich Myriam Dunn Cavelty früh der politischen Dimension von Cybersicherheit gewidmet und ist neben Persönlichkeiten wie Bruce SchneierExterner Link oder Ron Deibert vom Citizen Lab in TorontoExterner Link eine international führende Stimme im Cybersicherheit-Diskurs geworden.
Immer wieder zeigt sie auf, dass es bei Cyberkriminalität auch um die Konstruktion von Gefahrenszenarien geht und die Destabilisierung von Glaubwürdigkeit. Unsere Abhängigkeit von Computern für Datenaustausch und Datenspeicherung nimmt zu. Dadurch entstehen neue Verwundbarkeiten für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.
Daran wird sich in Zukunft nichts ändern, im Gegenteil: Die Cyberunsicherheit dürfte aufgrund der fortschreitenden digitalen Vernetzung und Automatisierung substanziell zunehmen und kompetente Persönlichkeiten wie Dunn Cavelty werden noch gefragter sein.
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