Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Teilchenbeschleuniger: Ist das Mega-Projekt des Cern auf Kollisionskurs?

Eine Röhre, die in einem komplett mit Metall verkleideten, beleuchteten Tunnel verläuft
Simulation des Inneren des neuen Teilchenbeschleunigers FCC (Future Circular Collider) des Cern. CERN

Die Vorbereitungen für einen gewaltigen neuen Teilchenbeschleuniger in der Nähe von Genf nehmen Fahrt auf. Doch das Projekt, das einige der wichtigsten Fragen der Physik beantworten soll, steht vor vielen Hindernissen, darunter die Konkurrenz aus China.

2012 gelang Wissenschaftler:innen der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) ein entscheidender Durchbruch: Sie entdeckten das schwer fassbare Higgs-Boson, ein Elementarteilchen, das allen anderen Teilchen Masse verleiht.

Dies geschah nach jahrzehntelanger Arbeit mit Beschleunigern wie dem berühmten Large Hadron Collider (LHC), dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt, der sich nördlich von Genf befindet.

Dennoch bleiben viele grundlegende Fragen über das Universum unbeantwortet: Was ist die dunkle Materie? Warum ist unser Universum mit Materie und nicht mit Antimaterie gefüllt? Oder warum unterscheiden sich die Massen der Elementarteilchen so stark?

Die Suche nach Antworten auf diese und andere grosse Fragen der Physik erfordert einen «Sprung zu höheren Energien und Intensitäten», so das Cern. Die Organisation möchte einen leistungsfähigeren und präziseren Nachfolger für den LHC bauen, der in den frühen 1980er-Jahren konzipiert wurde und seine Aufgabe im Jahr 2040 beenden soll.

«Wir bauen diese Maschinen, um die Natur des Universums zu erforschen. Es geht darum, ins Unbekannte vorzudringen», sagt Mike Lamont, Cerns Direktor für Beschleuniger und Technologie.

Und so haben die Pläne für den so genannten Future Circular Collider (FCC) auf Wunsch der weltweiten Physikgemeinde in den letzten zehn Jahren Gestalt angenommen.

Die Grafik zeigt die Lage der Teilchenbeschleuniger in der Schweiz und in Frankreich in der Umgebung der Stadt Genf.
Grafik zum Vergleich des neuen (FCC) und des bisherigen Teilchenbeschleunigers des Cern (LHC). Cern

Der Plan: Ein 91 Kilometer langer kreisförmiger TunnelExterner Link, dreimal so lang wie der derzeitige LHC, würde um die Stadt Genf herum auf schweizerischem und französischem Gebiet gebaut und unter dem Genfer See hindurchgeführt.

An der Oberfläche würden acht wissenschaftliche Einrichtungen entstehen, sieben in Frankreich und eine in Genf. Die anfängliche Kostenschätzung beläuft sich auf 11 Milliarden Schweizer Franken für die erste Phase; 21 Milliarden insgesamt.

Unser Erklärvideo mit Simulationen des Projekts:

Im Innern des riesigen Tunnels sollen die Teilchen über längere Strecken beschleunigt werden, bevor sie bei Kollisionsenergien von 100 Tera-Elektronenvolt (TeV), einer siebenfachen Steigerung im Vergleich zum LHC, zusammenstossen. So will man ihnen die verborgenen subatomaren Geheimnisse entlocken.

Die Sondierungsphase

Der FCC ist noch nicht genehmigt und noch Jahre davon entfernt, eingeschaltet zu werden. Dennoch wächst die Begeisterung für das Projekt, so Lamont.

«Es gibt ein Gefühl der Eigendynamik», sagt er. «Die verschiedenen europäischen Akteurinnen und Akteure haben sich auf allen Ebenen  engagiert. Sie haben sich wirklich stark eingesetzt. Gegenwärtig arbeiten rund 150 Universitäten, Forschungsinstitute und Industrieunternehmen an dem Projekt mit.»

Eine DurchführbarkeitsstudieExterner Link wurde in diesem Frühjahr begonnen, bis 2025 soll sie abgeschlossen sein. Auch Felduntersuchungen laufen.

«Wir befinden uns in der Sondierungsphase», erklärt Michael Benedikt, Leiter der FCC-Studie.

Sein Team hat eine ideale Streckenführung für den FCC sowie die Standorte für die acht Oberflächenpunkte identifiziert, an denen die Infrastruktur des Colliders untergebracht werden soll.

Die Feldbeurteilungen werden gemeinsam mit den örtlichen Gemeinden durchgeführt, um mögliche Konflikte früh zu lösen.

«Viele Leute denken, dass es sich um ein riesiges Bauwerk handelt, aber es befindet sich grösstenteils unter der Erde», sagt Lamont.

Probleme ausbügeln

Das Cern ist bestrebt, etwaige Probleme im Vorfeld zu beseitigen. Bürgermeister:innen und andere lokale Amtsträger:innen aus Orten, die vom zukünftigen Collider betroffen wären, wurden in Cern-Einrichtungen eingeladen, um sich selbst ein Bild zu machen.

Ein Cern-Mitarbeiter steht an einem kleinen See, er blickt durch ein Fernglas
Das Cern hat Umweltstudien durchgeführt, um die Auswirkungen des Baus eines des riesigen neuen Teilchenbeschleunigers auf die Region zu beurteilen. Cern

Auf französischem und schweizerischem Boden werden Umweltstudien durchgeführt, sprich Daten über die lokale Geologie sowie die Flora und Fauna gesammelt, die durch den Megacollider beeinträchtigt werden könnten. Seismische Untersuchungen und Bohrungen sind für das nächste Jahr geplant.     

«Die lokalen Vertretungen sind alle daran interessiert zu verstehen, was wir tun und warum wir es tun, und bisher gab es absolut keine Opposition in dem Sinne, dass sie dieses Projekt nicht wollen», sagt Lamont.

Kritik an Kosten und Umfang

Der örtliche Verein Noé21 hat sich jedoch gegen das Projekt ausgesprochen. In einem im Oktober 2022 publizierten Bericht stellt er das monumentale Ausmass des FCC in Frage, für den neun Millionen Kubikmeter Erde ausgehoben werden müssten.

Der jährliche Strombedarf würde den derzeitigen Verbrauch des Cern auf vier Terawattstunden (TWh) verdreifachen. Das ist mehr Strom als der gesamte öffentliche Verkehr in der Schweiz benötige.

Der kostspielige Plan hat auch andere Kritiker:innen ‒ sogar unter Physiker:innen. Einige, wie Sabine Hossenfelder, eine theoretische Physikerin am Frankfurter Institut für Höhere Studien in Deutschland, befürchten, dass dieses gewaltige Projekt Mittel verschlingt, die für andere, weniger abstrakte physikalische Forschungen benötigt würde.

«Es ist eine riesige Summe, nur um genauer zu messen, was ein paar Teilchen tun, die innerhalb von Nanosekunden zerfallen», argumentiert sie. «Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass eine solche Maschine irgendetwas Neues entdecken wird».

Sie plädiert dafür, das Geld in unmittelbar anwendbare Forschung zu investieren, etwa in ein internationales Zentrum für Klimavorhersagen oder für die Modellierung von Epidemien.

«Wenn man so viel Geld in eine Disziplin steckt, die keine gesellschaftliche Relevanz hat, wird das die Leute von wichtigeren Studien abziehen ‒ es wird sogar zu einem Hindernis auf dem Weg zum Fortschritt.»

In die Landschaft gequetscht

Die Pläne des Cern für seinen neuen Collider umfassen zwei Phasen. In der ersten will die Organisation bis zur Mitte des Jahrhunderts einen grösseren Tunnel bauen, um subatomare Teilchen kollidieren zu lassen, die Produktion von Higgs-Bosonen zu maximieren und ihre Eigenschaften genauer zu untersuchen.

In dieser Phase können die Physiker:innen «das Higgs von oben bis unten untersuchen», so Lamont.

Später soll die erste Maschine abgebaut und durch einen noch leistungsfähigeren Proton-Proton-Smasher ersetzt werden, der Kollisionsenergien von 100 TeV (eine in der Teilchenphysik verwendete Energieeinheit) erreichen soll. Ein wesentlicher Teil der dafür nötigen Technologien muss noch entwickelt werden.

Die baulichen Herausforderungen für den noch grösseren Collider in der dicht besiedelten Region am Ende des Genfer Sees sind immens.

«Die Untertunnelung des Sees ist ein Problem. Ein anderes ist der Kalkstein des Juras und der Salève über Genf», sagt Lamont.

Die Ingenieur:innen mussten nach Stellen suchen, an denen die Bohrmaschinen eine weichere Gesteinsschicht durchschneiden können, was nur wenige Gestaltungsmöglichkeiten zulässt.

Die chinesische Konkurrenz

Eine endgültige Entscheidung der Cern-Mitgliedsstaaten – es sind 22 europäische Länder und Israel ‒, ob sie dem Projekt grünes Licht geben, wird nicht vor 2028 getroffen.

Im Falle einer Zustimmung ist der Baubeginn für 2038 vorgesehen. Die erste Phase würde nicht vor 2048 beginnen.

Für den Fall, dass das Projekt abgelehnt wird, hat das Cern auch Entwürfe für einen Plan B ausgearbeitet: einen 11 bis 50 km langen Compact Linear Collider (CLIC), der sich im Gegensatz zum FCC nur auf ein physikalisches Experiment zur gleichen Zeit ausrichten lässt.

Das Cern ist heute international führend, wenn es darum geht, das Wissen der Menschheit über die Materie zu erschliessen. Aber es wird herausgefordert: China hat 2018 Pläne für einen eigenen 100 km langen Elektron-Positron-Supercollider vorgestellt, der bereits 2030 mit Experimenten beginnen könnte.

Cern-Verantwortliche befürchten, dass sie vom ehrgeizigen China überholt werden und ihre führende Position verlieren könnten.

«Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass dies eine echte Gefahr ist», sagt Lamont. «Ich glaube, dass die Lernkurve der Chinesinnen und Chinesen sehr steil nach oben geht. Es wäre ein grosser Fehler, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen.»

Aber diese Art von gesundem Wettbewerb könnte auch dazu beitragen, die Pläne des Cern zu beschleunigen, so die Meinung einiger Offizieller.  

Der Plan des FCC ist ehrgeizig, sagt Lamont mit einem nervösen Lachen. «Aber wir sind zuversichtlich, dass wir es schaffen können. Es ist kein Schuss ins Blaue.»

Übertragung aus dem Englischen: Marc Leutenegger.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft