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To be or not to be, oder: Gibts das Higgs-Teilchen?

Die LHC-Detektoren sind über 20 m hoch. Den Umfang braucht es, um Teilchen zu finden, die kein Mikroskop sehen kann. Keystone

"Wir leben in einer äusserst aufregenden Zeit", sagte CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer bei der Präsentation der ersten Resultate des weltgrössten Teilchenbeschleunigers. Der LHC beginne, die Erwartungen zu erfüllen. Vielleicht löse er auch die Higgs-Frage.

Die Weltelite der Teilchenphysik, darunter zwei Nobelpreisträger, findet sich zur Zeit in Grenoble zusammen. 700 Physiker aus aller Welt nehmen an der «Europhysics Conference on High Energy Physics 2011» teil. 

Das Europäische Kernforschungszentrum CERN bei Genf hat diesen Anlass gewählt, um die ersten Resultate seines Teilchen- oder Ringbeschleunigers Large Hadron Collider (LHC) vorzustellen.

Die ersten Versuche dieses 6 Milliarden Franken teuren LHC waren ziemlich holprig gestartet. Wenige Tage nach der ersten Inbetriebnahme im September 2008 musste er wegen einer Panne, die sich auf das Kühlsystem auswirkte, abgeschaltet werden.  

Der LHC kann nur auf einer Basis der absoluten Nulltemperatur funktionieren. Es dauerte ein weiteres Jahr, um alles zu reparieren und um den Röhrenring wieder entsprechend abzukühlen.

So vermochten die Detektoren erst im November 2009 die ersten Teilchen-Kollisionen zu registrieren. Seither nimmt die Energie im Ring zu.

«Wie ein Wunder»

«Die Menge der bisher erhaltenen Daten entspricht dem, was für das gesamte Jahr 2011 vorgesehen war,» freut sich CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer. Und der Umstand, dass alle Daten vor der laufenden Konferenz analysiert werden konnten, hält Heuer fast schon «für ein Wunder».

Das Wunder möglich gemacht hat ein weltumspannendes Rechen-Netzwerk, das eigens für den LHC konstruiert wurde und die Rechenzentren der Welt zusammenführt. Damit ist man im Stande, gleichzeitig bis 200’000 Rechenoperationen durchzuführen.  

Mit weniger Aufwand geht es nicht, will man Entdeckungen machen, die auf lange Frist ausgelegt sind. Die Forscher müssen mit grossen Datenmengen umgehen, aus denen sie seltene Prozesse ableiten. 

Shakespeare und die Higgs-Teilchen

Ohne Geduld geht deshalb nichts. Gegenwärtig konzentrieren sich die LHC-Experimente auf den Bereich der bereits bekannten Physik und verfeinern die Messungen und Grenzbereiche.

So wird auch die Entdeckung des Higgs-Teilchens nicht bereits für morgen erwartet. Dieser letzte fehlende Grundbaustein der Teilchenphysik wird auch «Gottesteilchen» genannt. Es verleiht – theoretisch – den Elementarteilchen ihre Masse.

Die naheliegendste Frage ist deshalb, ob die Higgs-Teilchen überhaupt existieren oder nicht. «To be or not to be», umschreibt dies Heuer, Shakespeare zitierend, und hofft, dass die Frage bis Ende 2012 beantwortet sein wird.

Es braucht diese Zeit, um mit genügend Energie versehene Kollisionen zu konstruieren, die auch genügende Datenmengen ergeben. Läuft der LHC einmal mit vollen Kapazitäten, produziert er zwanzig Mal mehr Teilchen-Kollisionen als heute.  

Somit engt sich der Raum immer stärker ein, in dem sich die Higgs-Teilchen noch verstecken könnten, falls es sie überhaupt gibt. Zur Zeit nimmt man mit gutem Grund an, dass die Masse eines Higgs-Teilchens zwischen 115 und 140 Giga-Elektron-Volt (GeV) beträgt. Damit würde es sich um eher kleine Teilchen handeln, die schwierig aufzufinden sind. 

Die letzten Mysterien

Und wenn es das Higgs-Teilchen gar nicht gibt? Dann würde, so zahlreiche Physiker, das Ganze noch interessanter. Denn die Natur würde sie zwingen, ihr theoretisches Standard-Modell neu zu formulieren. 

Bereits heute erklärt das gängige Modell nicht alles. Offen bleibt zum Beispiel die Frage, weshalb die sichtbare Masse scheinbar nur 5% der gesamten Masse des Universums ausmacht.

Was ist mit der Materie und der schwarzen Energie, die den Rest des Universums ausmachen? Diese Materie dürfte aus noch unbekannten Teilchen zusammengesetzt sein, und die schwarze Energie könnte eine Art Anti-Gravitation sein, die statt wie üblich das Universum zu verlangsamen, seine Expansion noch beschleunigt.  

Was die schwarze Materie betrifft, könnte die Antwort direkt aus dem Weltraum kommen. Via den Spektrometer AMS-02, der vor drei Monaten auf der Weltraumstation installiert wurde, und dessen Daten vom CERN analyisert und in einem zweiten Schritt mit den Resultaten des LHC verglichen werden.

Dabei darf auch die Antimaterie nicht vergessen werden. Auch diese soll der AMS-02 auffinden. Sie soll in enormen Quantitäten seit Beginn des Universums existieren. Falls das CERN imstande wäre, Antimaterie selbst herzustellen, würden sich die Physiker verstärkt zu fragen beginnen, weshalb unsere Welt denn aus Materie statt aus Antimaterie besteht und ob es wirklich eine perfekte Symmetrie zwischen diesen beiden Materienarten gibt.  

Genügend Stoff also für viele weitere Physiker-Kongresse wie jenen in Grenoble.

Im Teilchen-Beschleuniger LHC zirkulieren zwei Strahlen von Protonen gegenläufig.

Prallen sie aufeinander, sollten neue Teilchen entstehen wie das Higgs-Teilchen, das bisher aber erst in der Theorie existiert.

Das Aufeinanderprallen der Protonenstrahlen simuliert den Big Bang, den Urknall.

Die Strahlenbündel enthalten Milliarden von Protonen. Sie bewegen sich leicht unter der Lichtgeschwindigkeit und werden durch Supermagneten geleitet.

Die Bündel bewegen sich durch zwei Vakuum-Ringe. An vier Punkten kollidieren sie – im Zentrum der Experimente.

Die Detektoren finden bis 600 Mio. Kollisionen pro Sekunde. Daraus ergeben sich Daten, die vielleicht Auskunft geben über neue Teilchen.

Das Magnetsystem enthält mehr Eisen als der Eiffel Turm.

Das CERN wurde 1954 von 12 Staaten inklusive der Schweiz gegründet.

Heute sind 20 Länder Mitglieder. Ein CERN-Wissenschaftler hat auch das Internet, das World Wide Web, erfunden.

Obschon das CERN die Europäische Organisation für Kernforschung ist, beschäftigt es praktisch weltweit jeden zweiten Teilchen-Physiker.

Die Resultate sind der Gesamtheit der Forschenden zugänglich. 

Amerikaner und Sowjetrussen haben zur Zeit des kalten Krieges dort zusammen gearbeitet.

Heute trifft man im CERN Inder neben Pakistani oder Israeli neben Iranern.

(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

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