Ukrainische Kinder in der Schweiz: Der schwierige Start ins Schuljahr
Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sind in der Schweiz ins neue Schuljahr gestartet. Der Weg in den Schulalltag kann harzig sein – für Schüler:innen und Schulen.
Sommerferien in Zürich. Doch am Freien Gymnasium in Zürich (FGZ) büffeln sechs Schüler:innen Deutsch. Der Kurs ist intensiv und nimmt jeden Tag drei Stunden in Anspruch. Manche sind Anfänger:innen, andere beherrschen die Sprache schon besser. Deutsche Präpositionen, das Partizip Perfekt und unregelmässige Verben füllen die Morgen.
Die Schüler:innen heissen Anya, Dima, Alona, Sasha, Oliviia und Emiliia und stammen aus der Ukraine. Sie kennen sich noch nicht lange. Aber in den letzten Monaten bildeten sie eine eingeschworene Gruppe, die sich in den Integrationskursen auf das neue Schuljahr vorbereiten. Die Eingewöhnung ins neue Umfeld bleibt herausfordernd.
«Ich habe ein bisschen Angst, dass ich es nicht schaffe», sagt die 14-jährige Emiliia D. aus Odessa, die Anfang April ans FGZ kam. «Besonders der Biologieunterricht hat mir Mühe bereitet, weil ich nichts verstanden habe.»
Die Situation ist «stabil»
Seit Beginn des Krieges hat die Schweiz einen Zustrom von Jugendlichen erlebt. Es gibt keine Statistiken über die Zahl der ukrainischen Schüler:innen an Schweizer Grund- und Mittelschulen. Aus offiziellen Daten geht aber hervor, dass bisher über 61’000 Personen den Schutzstatus S erhalten haben. Die Genehmigung gilt für ein Jahr und kann verlängert werden. Sie erlaubt es Ukrainer:innen und ihren Angehörigen, in der Schweiz zu arbeiten, zur Schule zu gehen und zu studieren.
Die Schulen bemühten sich, die Neuankömmlinge zu integrieren. Vielerorts wurden Kolleg:innen aus dem Ruhestand zurückgeholt, damit genügend Lehrkräfte vorhanden waren. Oft wurden Einführungsklassen eingerichtet, damit der Start für die Schüler:innen nicht zu schwierig wurde. Nun, da das neue Schuljahr begonnen hat, scheint sich die Situation zu entspannen.
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«Im Moment ist die Situation stabil. Die Kantone haben die notwendigen Ressourcen bereitgestellt», sagt Samuel Rohrbach, Präsident des Verbands der französischsprachigen Lehrkräfte in der Schweiz. «Diese müssen aber langfristig gesichert und bei Bedarf erhöht werden.»
Die Kinder und Jugendlichen werden in der Regel eingeschult, sobald sie in der Schweiz ankommen. Sie können entweder eine Klasse für Fremdsprachige besuchen oder sofort an einer regulären Klasse teilnehmen, in der sie intensiven Sprachunterricht erhalten, wobei dies von Schule zu Schule unterschiedlich ist.
Die Vorbereitung aufs Schuljahr
FGZ-Leiter Christoph Wittmer begrüsst die sechs Schülerinnen, die soeben vom Deutschunterricht zurückgekommen sind. Er überreicht ihnen Gutscheine von Orell Füssli, damit sie sich mit Lehrbüchern eindecken können. Danach kehrt er in sein Büro zurück, um das neue Schuljahr zu planen.
Der Stundenplan ist anspruchsvoll und umfasst unter anderem Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik und Geografie. «Innerhalb eines Jahres müssen sie beweisen, dass sie das übliche Niveau des Unterrichts erreicht haben», sagt Wittmer. Danach wird entschieden, ob sie am Gymnasium weitermachen können oder die Klasse wiederholen müssen.
Das neue Schuljahr hat im August begonnen. Zuvor hatten sie sowohl Unterrichtsstunden auf Deutsch oder Englisch. Im neuen Schuljahr starten sie nun entweder in eine ein- oder zweisprachige Klasse. Sie erhalten Hilfe, zum Beispiel durch ein «Buddy-System». «Uns wurden Mitschüler zugeteilt. Das hat zwar geholfen, doch ich hatte auch etwas Angst, denn oftmals verstand ich kein einziges Wort», sagt die 15-jährige Anya L., die am 3. März in der Schweiz angekommen ist. «Meine erste Stunde war Geografie auf Englisch. Das war schwierig für mich.»
Ein Blick auf die Westschweiz
Auch in der Westschweiz beginnt für Kinder und Jugendliche aus der Ukraine das neue Schuljahr. Das Zentrum Les Cerisier im Kanton Neuenburg, ein Zusammenschluss von Schulen aus sieben Dörfern, hat aufs neue Schuljahr 20 Schüler:innen aus der Ukraine aufgenommen.
Direktor Laurent Schüpbach plant, die Schüler:innen der ersten bis sechsten Klasse direkt in die entsprechenden Klassen zu integrieren. Die älteren Jahrgänge werden Sonderunterricht erhalten, bevor sie in reguläre Klassen eintreten können.
Er glaubt, dass alles reibungslos ablaufen wird. «Die Betreuung funktioniert. Wir können nicht nur auf gut ausgebildete Lehrkräfte, sondern auch auf zusätzliche Unterstützung in den Bereichen sozialpädagogischer Dienst, Medizin und Verwaltung bauen. Und natürlich auf die Mithilfe der Gastfamilien und Eltern», sagt Schüpbach.
Offengelegte Defizite
Die Situation hat aber die bestehenden Probleme im Schweizer Schulsystem offengelegt. Darunter den Mangel an qualifiziertem Personal und die fehlende finanzielle Unterstützung für die Schulen.
«Auch ohne die Ukraine-Krise werden zusätzliche Lehrer benötigt. Um fremdsprachige Kinder zu fördern, brauchen wir zusätzliche Deutschstunden und die entsprechenden Lehrkräfte», sagt Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands der Lehrer:innen in der Schweiz.
Um den Übergang zu erleichtern, hat das FGZ zwei zusätzliche Deutschlehrer:innen eingestellt. Schulleiter Wittmer hat bereits neun Schüler:innen aus der Ukraine aufgenommen, erhält aber weiterhin Anfragen. Nun führt er Gespräche mit umliegenden Schulen, um zu prüfen, ob auch diese weitere aufnehmen können.
«Die Integration von Flüchtlingskindern ist eine Herausforderung für das gesamte Schulsystem und die Gesellschaft», sagt Lehrerpräsidentin Rösler und plädiert für mehr finanzielle Unterstützung der Behörden. «Der Status S ermöglicht eine relativ schnelle Integration in die Schule und den Arbeitsmarkt. Dafür braucht es aber auch mehr finanzielle Unterstützung.»
Die Schulen in der Schweiz haben unterschiedliche Massnahmen ergriffen, um ein einladendes Umfeld zu schaffen. Einige sammeln Geld und Material zur Unterstützung der Schüler:innen oder führen ein Buddy-System ein. Das FGZ richtete eine kleine Bibliothek mit ukrainischen Büchern ein und hisste auf dem Schulgelände Friedensfahnen. Schulleiter Wittmer räumt aber ein, dass Betreuung und Beratung sehr wichtig seien und dafür in Zukunft mehr Ressourcen benötigt werden.
Ein Neubeginn
Beim Treffen kurz vor Beginn des neuen Schuljahrs wirken die ukrainischen Schüler:innen am FGZ nervös. Sie werden erstmals am regulären Unterricht teilnehmen und einem normalen Stundenplan folgen.
Die Ungewissheit des Krieges schwebt über ihnen. Viele hoffen auf eine Rückkehr in die Ukraine; andere wollen die Schule beenden und in der Schweiz arbeiten, falls sich die Lage in ihrer Heimat nicht verbessert. «Ich möchte unbedingt die Schweizer Matura absolvieren, wenn es möglich ist», sagt Alona P. aus Kiew. «Ich werde sehr hart arbeiten müssen, aber ich denke, dass ich es schaffen kann.»
«Das Bildungssystem ist hier besser als in der Ukraine, deshalb würde ich gerne in der Schweiz bleiben», sagt Anya L. «Aber ich hoffe auch, dass ich die Chance habe, nach Hause zurückzukehren und meine Freunde und meine Heimatstadt wiederzusehen.»
Wittmer nimmt die Situation gelassen, macht sich aber Gedanken über die Zukunft der Schüler:innen. «Das ist immer noch die grosse Frage für uns. Ist es eher eine Zwischenlösung für die Schüler oder ist das jetzt der Beginn einer Karriere und eines Studiums in der Schweiz?»
Editiert von Virginie Mangin. Übertragen aus dem Englischen von Christoph Kummer.
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