Vom Rüssel zum Roboter
Der Elefantenrüssel ist ein Wunder der Natur: Ganz ohne Knochen können die Tiere damit erstaunliche Bewegungen ausführen. Das Riechorgan dient Schweizer Biologinnen und italienischen Ingenieuren nun als Vorlage für ein innovatives Roboterprojekt.
Die Neuigkeit sorgte im August für Schlagzeilen: Forschende der Universität Genf gaben bekannt, dass sie die vielfältigen Bewegungen, die Elefanten mit ihrem Rüssel vollführen, entschlüsselt hätten. Die Erkenntnisse sollen dazu dienen, Robotern ganz neue Fähigkeiten zu verleihen. Doch wie kamen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überhaupt auf diese Idee?
«Wir wissen seit längerem, dass der Elefantenkörper einige Besonderheiten aufweist», sagt der Leiter des Teams, Michel Milinkovitch, gegenüber swissinfo.ch. Der Evolutionsbiologe und Biophysiker ist Professor am Departement für Genetik und Evolution an der Uni Genf.
«In einer früheren Studie von 2018Externer Link beschäftigten wir uns mit der Haut dieser Tiere. Sie verfügt über eine Art Netz von Kanälen, das die Körpertemperatur besonders gut reguliert.» Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler publizierten hierzu einen Fachartikel, der bei grossen Medien wie National Geographic und BBC Anklang fand. Ein Forscherteam aus Italien wurde hellhörig.
3,5 Millionen Euro aus Brüssel
Konkret lasen Robotikerinnen und Robotiker des Italienischen Instituts für Technologie in Pontedera nahe Pisa die Neuigkeiten aus Genf. Auch sie interessierten sich seit längerem für die Dickhäuter. Statt die Haut hatten sie aber den Rüssel im Fokus. Sie wollten einen Roboterarm bauen, der ähnlich funktioniert wie das wulstige Riechorgan.
Sie beschlossen, ein Projekt auf die Beine zu stellen und Fördergelder aus dem EU-Programm Horizon 2020 zu beantragen. Bevor sie aber ihre Idee in Brüssel einreichten, kontaktierten sie das Genfer Team um Michel Milinkovitch.
«Es war wirklich gutes Timing», erinnert sich Milinkovitch. «Ich hatte Zugang zu Elefanten in Südafrika, die an Menschen gewöhnt waren. Zudem standen wir in Kontakt mit Zoos, die uns Organe von verstorbenen Elefanten zur Verfügung stellen konnten.» Die schweizerisch-italienische Forschungskooperation kam zustande, die EU-Kommission sprach 3,5 Millionen Euro aus dem Horizon-Fonds.
Mit Hollywood-Technologie in Südafrika
Das Team um Milinkovitch machte sich auf den Weg nach Pretoria in Südafrika. Im Gepäck hatten sie Geräte, die man eigentlich nur von Hollywood-Produktionen kennt: Eine Animationstechnologie, die etwa verwendet wurde, um die Ausserirdischen in «Avatar» oder Personen in «Tim und Struppi» zum Leben zu erwecken.
Dabei werden mittels Reflektoren und Kameras Bewegungsmuster aufgezeichnet. Die Forschenden klebten die Reflektoren an die Körper der halbzahmen Elefanten. Danach erfassten sie die Rüsselbewegungen mittels hochpräziser Kameras. Im Computer wurden die Daten schliesslich in 3D-Modelle umgewandelt.
Das Ergebnis ist verblüffend: Elefanten können mit ihrem Rüssel auf einen Baukasten von knapp 20 Grundbewegungen zurückgreifen – von Verdrehung, Biegung, Dehnung, Verkürzung bis hin zur Versteifung. Sie können Blumen greifen, ohne sie zu zerdrücken, einen 300 Kilogramm schweren Gegenstand aufnehmen oder Flüssigkeiten aufsaugen und ausspucken. Und das alles funktioniert ohne einen einzigen Knochen.
Zurück in der Schweiz, durchleuchteten die Forschenden ausserdem die Rüssel von zwei verstorbenen Zoo-Elefanten anhand von Computer- und Magnetresonanz-Tomographen, um die verschiedenen Muskeln sichtbar zu machen. Mit diesen Ergebnissen sowie den in Südafrika gewonnen Informationen stellten sie in Computermodellen die Bewegungen der Rüssel in 3D exakt nach. Die Ergebnisse wurden im August in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.
>> In fünf Minuten zusammengefasst: Die Arbeit von Michel Milinkovitch und seinem Team (Video auf Englisch)
Vielfältige Anwendungen
«Nun geht’s ans Reverse Engineering», sagt Milinkovitch. «Da wir nun die Bewegungen beschrieben und quantifiziert haben, können unsere italienischen Kollegen mit dem Bau des Roboterarms beginnen.»
Das Ziel sei dabei nicht, das Bewegungsschema des Elefanten eins zu eins zu kopieren, sondern sich davon inspirieren zu lassen. «So wie bei Flugzeugen. Deren Tragflächen erinnern an die Flügel eines Vogels, aber funktionieren ja bekanntlich auch ohne Flügelschlag.» Deshalb spreche man von «bioinspirierten Systemen».
Ebenso sei es nicht möglich, einen künstlichen Rüssel mit so vielen Motoren auszustatten, dass die knapp zwanzig Grundbewegungen des Elefanten reproduziert werden könnten. «Aber vielleicht wären fünf oder zehn ausreichend.»
Die Idee der Forschenden ist, einen flexiblen Roboterarm zu entwickeln, der in der Lage ist, eine Reihe von Objekten zu erkennen, zu erreichen, zu greifen, zu manipulieren und loszulassen. Die Anwendungen sind vielfältig. «Man könnte den Roboter etwa für anspruchsvolle Sortierarbeiten einsetzen, als Unterstützung für Rettungskräfte in einem Naturkatastrophen-Gebiet oder als Hilfsmittel für Seniorinnen und Senioren.»
Weiche Hände als Herausforderung
Für Milinkovitch und sein Team ist die Arbeit noch nicht abgeschlossen. Sie müssten noch bestimmte Bewegungssequenzen modellieren, sagt der Biophysiker. Und wenn ein erster Roboter vorhanden sei, müssten Analysen durchführt werden, um die Maschine mit der Vorlage zu vergleichen und zu programmieren.
«Wir wissen, dass in der Robotik die Kontaktflächen von zentraler Bedeutung sind. Die Frage ist: Wie kann eine künstliche Hand aus Metall so weich gebaut werden, dass sie eine Blume pflücken kann, ohne sie zu zerdrücken?»
In diesem Bereich könnten die Erfahrungen nützlich sein, die das Genfer Team im Rahmen ihrer Arbeit zur Elefantenhaut gemacht hat. «In etwa 18 Monaten werden wir einen ersten Prototyp haben», prognostiziert der Professor. Mehrere Firmen hätten bereits Interesse an ihrer Arbeit gezeigt.
Forschen ohne Scheuklappen
Mit seinen beiden Forschungsprojekten zu Elefanten hat sich Milinkovitch von seinen eigentlichen Spezialgebieten in der Biologie entfernt. Seine Publikationsliste ist lang und vielfältig: Unter anderem hat er sich beschäftigt mit so genannten photonischen Kristallen, die Chamäleons einsetzen, um die Farbe zu wechseln, mit den genetischen Fingerabdrücken der Vorfahren der Wale und mit den Galapagos-Riesenschildkröten.
«Die Wissenschaften sind heute zu sehr abgeschottet. Man muss sich für eine Disziplin entscheiden, dabei sind die Grenzen oft sehr künstlich. Und die Natur hält sich auch nicht an diese Grenzen.»
Michel Milinkovitch
Milinkovitch ist überzeugter Anhänger und auch Praktiker von interdisziplinärer Forschung. Für ihn sind die Wissenschaften heute «zu sehr abgeschottet».
«Man muss sich für eine Disziplin entscheiden, dabei sind die Grenzen oft sehr künstlich. Und die Natur hält sich auch nicht an diese Grenzen.»
Das Problem sei, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oft die grundlegenden Prinzipien anderer Disziplinen «nicht kennen».
«Wenn ich eine Gleichung an die Wandtafel schreibe, werden meine Studierenden unruhig, weil sie nicht in einer Mathematik-Stunde sind. Dabei will ich ihnen nur zeigen, dass eine Gleichung oft der einfachste Weg ist, um ein Phänomen zu beschreiben.»
«Ja, Roboter, die von Elefantenrüsseln inspiriert sind, sind ungewöhnlich im Vergleich zu dem, was wir normalerweise machen», räumt Milinkovitch ein. «Aber ich konnte dieses Projekt einfach nicht ablehnen. Es ist zu schön!»
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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