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Warum die Schweiz das Abwasser aus dem havarierten Atomkraftwerk in Fukushima überwacht

Wassertanks auf dem Gelände des havarierten Kernkraftwerks Fukushima Daiichi
Seit dem Unfall im Jahr 2011 wurden im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi im Nordosten Japans über 1,3 Millionen Tonnen radioaktives Abwasser gesammelt, behandelt und in über 1'000 Tanks eingelagert. Keystone

Japan hat damit begonnen, Abwässer aus dem Kernkraftwerk Fukushima in den Pazifik zu leiten. Ein Schweizer Labor hilft dabei sicherzustellen, dass die internationalen Standards eingehalten werden. Die Ängste vor dem kontaminierten Wasser aber sind real, vor allem in Nachbarländern wie China.

Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9,1 die Nordostküste der japanischen Hauptinsel und löste einen Tsunami aus, der 18’000 Menschen tötete.

Als die tödliche Welle die Küste erreichte, zerstörte sie auch das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Um drei der Reaktoren zu kühlen, wurden seither riesige Mengen an Meerwasser benötigt.

Seit dem Unfall wurden über 1,3 Millionen Tonnen Abwasser aufgefangen, behandelt und in über 1’000 Tanks am Standort eingelagert.

Dazu gehören auch Grund- und Regenwasser, das in die Reaktorgebäude eingedrungen ist. Der laufende Kühlprozess produziert Berichten zufolge immer noch 130 Tonnen kontaminiertes Wasser pro Tag, und der Platz geht langsam zur Neige. Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Warum wird aus dem Kernkraftwerk Fukushima Abwasser freigesetzt?

Die Anlage befindet sich in einer Region mit hohem Erdbebenrisiko. Nach jahrelangen Debatten und einer endgültigen Genehmigung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) hat Japan am 24. August begonnen, aufbereitetes radioaktives Wasser aus dem Kernkraftwerk Fukushima ins Meer zu leiten.

Dazu wird eine Pipeline genutzt, die sich einen Kilometer von der Küste ins Meer erstreckt. Die Einleitung gilt als wichtiger Schritt für die Stilllegung des Kraftwerks in den nächsten 30 Jahren.

Nach langer Prüfung kam die UN-Atomaufsichtsbehörde im letzten Sommer zum SchlussExterner Link, dass Japans Pläne mit den weltweiten Sicherheitsstandards übereinstimmen und dass sie «vernachlässigbare radiologische Auswirkungen auf Mensch und Umwelt» haben werden.

Wie wird das kontaminierte Abwasser behandelt?

Das Wasser der Anlage in Fukushima ist mit radioaktiven Verbindungen, so genannten Radionukliden, wie Cäsium, Jod-129, Strontium-90 und Tritium belastet.

Bevor das kontaminierte Wasser in den Ozean geleitet wird, setzt der Betreiber Tepco ein Pump- und Filtersystem namens ALPSExterner Link (Advanced Liquid Processing System) ein. Dies führt zu chemischen Reaktionen, welche die Radioaktivität so weit als möglich beseitigen.

Nach Angaben Japans können mit dem Prozess die meisten radioaktiven Elemente (62 Radionuklide) entfernt werden, mit Ausnahme von Tritium, einem Wasserstoffisotop, das sich nur schwer abtrennen lässt.

Tritium kommt in der Natur vor und wird in der Regel von Kernreaktoren produziert und von Kraftwerken in der ganzen Welt freigesetzt. Obwohl es als relativ harmlos gilt, steigt das KrebsrisikoExterner Link, wenn es in extrem grossen Mengen konsumiert wird. Um die Tritiumkonzentration zu senken, wird das Wasser in Fukushima mit grossen Mengen an Meerwasser verdünnt.

Bei Tests im März stellte die japanische Atomenergiebehörde 40 Radionuklide im Abwasser fest. Nach der Aufbereitung lag die Konzentration der Elemente im Wasser in 39 Fällen unter den akzeptierten Normen, mit Ausnahme von Tritium.

Die Tritiumkonzentration erreichte 140’000 Becquerel pro Liter (Bq/L), während der Grenzwert für die Einleitung ins Meer in Japan bei 60’000 Bq/L liegt. Durch eine abschliessende Verdünnung wurde der Tritiumwert jedoch auf 1’500 Bq/L gesenkt. 

Die IAEO bestätigteExterner Link am 2. November, dass die bisherigen Freisetzungen Tritiumkonzentrationen enthielten, die weit unter dem Betriebsgrenzwert des Landes lagen.

In der Wissenschaftsgemeinschaft ist die propagierte Sicherheit der von Japan beschlossenen Wasserfreisetzung allerdings sehr umstritten.

Einige Umweltgruppen lehnen sie entschieden ab und argumentieren, dass nicht alle möglichen Auswirkungen untersucht wurden. Greenpeace Externer Linkbeispielsweise hat Berichte veröffentlicht, in denen das Aufbereitungsverfahren von Tepco angezweifelt wird, weil es angeblich nicht weit genug geht, um radioaktive Stoffe zu entfernen.

Es heisst, die biologischen Auswirkungen von Tritium, Kohlenstoff-14, Strontium-90 und Jod-129 im Wasser seien «ignoriert» worden.

Wie ist die Schweiz am Monitoring der Radioaktivität in Fukushima beteiligt?

Das Labor Spiez in der Nähe von Bern ist für seine Ermittlungen im Bereich von chemischen, biologischen und nuklearen Bedrohungen seit dem Zweiten Weltkrieg bekanntExterner Link.

Die Schweizer Expert:innen arbeiten seit 2016 mit der IAEO zusammenExterner Link. Proben von Meerwasser, Sedimenten und Fischen, die in der Umgebung des Kernkraftwerks Fukushima entnommen wurden, wurden nach Spiez und in andere Labore auf der ganzen Welt geschickt, um detaillierte unabhängige Analysen durchzuführen.

Ein 2019 veröffentlichter Bericht der IAEOExterner Link, der auch Schweizer Ergebnisse enthält, bestätigte die von japanischen Labors analysierten Proben vor der Küste von Fukushima und deren Genauigkeit.

Person in einem gelben Schutzanzug im Labor Spiez in Bern
Seit 2016 arbeiten Schweizer Expert:innen im Labor Spiez bei Bern mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zusammen. Keystone / Peter Schneider

Kürzlich analysierte das Schweizer Labor Proben des behandelten Abwassers aus dem ALPS-System von Fukushima. Ein IAEA-BerichtExterner Link vom Mai 2023, der auch Schweizer Ergebnisse enthielt, kam zum SchlussExterner Link, dass der Kernkraftwerksbetreiber Tepco bei seinen Messungen eine hohe Genauigkeit und technische Kompetenz bewiesen hat.

Spiez-Sprecher Andreas Bucher sagte, die Schweizer Expert:innen seien mit der IAEA darin einig, dass die Einleitungen die einschlägigen internationalen Sicherheitsstandards einhalte. Die radiologischen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt seien vernachlässigbar.

Eine Luftaufnahme des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi
Eine Luftaufnahme des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi, aufgenommen am 24. August 2023. Keystone

Nach dem Unfall im Kernkraftwerk im Jahr 2011 wurden die nahe gelegenen Küstengebiete mit verschiedenen Radionukliden kontaminiert, so der Experte. Einige davon sind noch in den Sedimenten zu finden.

Die Freisetzung von verdünntem, durch das Filtersystem ALPS aufbereitetem Wasser wird nach Ansicht der Spiezer Expert:innen nicht zu einem signifikanten Anstieg der radioaktiven Kontamination in der Region beitragen, mit Ausnahme von Tritium.

Die geplante jährliche Freisetzung von Tritium in Fukushima (22 Billionen Becquerel) ist jedoch immer noch «deutlich geringer» als in anderen Anlagen auf der ganzen Welt, wie z.B. in der Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe in La Hague (Frankreich) oder in der Nuklearanlage Sellafield (Grossbritannien).

Die Freisetzungen bewegten sich in der gleichen Grössenordnung wie in den Kernkraftwerken der Schweiz, so Bucher.

Was sind die Auswirkungen der Schweizer Kernkraftwerke auf die Umwelt?

Die Schweiz verfügt über vier in Betrieb befindliche Kernkraftwerke, die rund ein Drittel des nationalen EnergiebedarfsExterner Link decken. Zurzeit werden die radioaktiven Abfälle in gesicherten oberirdischen Hallen auf dem Gelände der Kernkraftwerke und in zwei zentralen Zwischenlagern im Norden des Landes gelagert.

Nach schweizerischem Recht sollen die radioaktiven Abfälle langfristig in Tiefenlagern sicher verwahrt werden. In der Zwischenzeit werden die radioaktiven Abwässer aus den Kraftwerken mit verschiedenen Systemen wie Zentrifugation, Verdampfung und Cross-Flow-Nanofiltration behandelt, bevor sie in die Aare und den Rhein geleitet werden.

Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) veröffentlicht Externer Linkjeden Monat Überwachungsdaten zur Radioaktivität im Abwasser und zur Abluftqualität.

Standorte der fünf Atomkraftwerke in der Schweiz
Kai Reusser / swissinfo.ch

Laut Ensi liegen die flüssigen radioaktiven Stoffe, die aus den Schweizer Kernkraftwerken in die beiden Flüsse eingeleitet werden, «deutlich unter den behördlich festgelegten Emissionsgrenzwerten». Die Gesamtemissionen (ohne Tritium) sind aufgrund von Verbesserungen in den letzten zwei Jahrzehnten zurückgegangen.

Der Tages-AnzeigerberichtetExterner Link, dass die Schweizer Kernkraftwerke im Jahr 2019 33 Billionen Becquerel (Bq) Tritium emittiert haben, was sich in den nächsten 30 Jahren auf 1000 Billionen Bq summieren dürfte, also mehr als das gesamte Tritium in den Tanks von Fukushima (900 Billionen).

Welche Gruppen sind gegen die Freisetzung von Radioaktivität in Fukushima?

Die japanischen Fischereigewerkschaften sind seit langem gegen den Plan der Regierung. Eine Petition aus den Regionen rund um die Anlage hat seit der Veröffentlichung des Vorschlags über 250’000 Unterschriften erhalten.

Einige Nachbarländer haben sich ebenfalls über die Bedrohung der Meeresumwelt und der öffentlichen Gesundheit beschwert, wobei Peking als grösster Kritiker auftrat. China hat das eingeleitete Abwasser als «nuklear verseucht» bezeichnetExterner Link.

Ein IAEA-Mitarbeiter kauert vor Körben voller Fische, er wird von der Presse gefilmt
Ein Experte der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) untersucht am 19. Oktober 2023 in Iwaki im Nordosten Japans Fischproben. Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi hat am 24. August damit begonnen, aufbereitetes radioaktives Abwasser in den Pazifischen Ozean zu leiten. Keystone

Die Beziehungen zwischen Japan und China wurden bereits auf die Probe gestellt, nachdem China in Reaktion auf die Einleitung des kontaminierten Wassers ein Verbot von japanischen Meeresfrüchten beschlossen hatte. Das Verbot hat die japanischen Exporteure von Jakobsmuscheln und anderen Meeresfrüchten schwer getroffen.

Tokio und Peking haben ein Expert:innentreffen vorgeschlagen, um das Problem zu erörtern und eine vage Einigung über eine Entschärfung des Streits zu erzielen.

Die Schweiz hob im August 2023 alle Einfuhrbeschränkungen für japanische Fische, Wildpilze und Pflanzen auf, nachdem das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen erklärt hatte, dass Lebensmittel aus der Region Fukushima wieder als sicher gelten können.

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